c) Psychische Behandlung der Neurosen
Die Aufdeckung des neurotischen Systems oder Lebensplans ist der wichtigste Bestandteil der Therapie. Denn es kann in seiner Gänze nur erhalten bleiben, wenn es dem Patienten gelingt, es seiner eigenen Kritik und seinem Verständnis zu entziehen. Der teilweise unbewußte Ablauf des neurotischen, der Wirklichkeit widersprechenden Mechanismus erklärt sich vor allem aus der unbeirrbaren Tendenz des Patienten, ans Ziel zu kommen.4) Der Widerspruch mit der Wirklichkeit, d. h. mit den logischen Forderungen der Gemeinschaft in diesem System hängt mit den geringen Erfahrungen und mit den andersartigen5) Beziehungen zusammen, die zur Zeit der Errichtung des Lebensplanes — in der frühen Kindheit — wirksam waren. Die Einsicht und das Verständnis für diesen Plan erwirbt man am besten durch die künstlerische Versenkung, durch intuitive Einfühlung in das Wesen des Patienten. Man wird dabei an sich wahrnehmen, wie man unwillkürlich Vergleiche anstellt, zwischen sich und dem Patienten, zwischen verschiedenen Attitüden desselben oder ähnlichen Haltungen verschiedener Patienten. Um eine Richtung in das wahrgenommene Material, in die Symptome, Erlebnisse, Lebensweise und Entwicklung des Patienten zu bringen, bediene ich mich dreier durch die Erfahrung gewonnener Kunstgriffe. Der eine rechnet mit der Entstehung des Lebensplanes unter erschwerten Bedingungen (Organminderwertigkeiten, Druck in der Familie, Verzärtelung, Rivalität, nervöse Familientradition) und lenkt meine Aufmerksamkeit auf gleiche oder ähnliche Reaktionsweisen in der Kindheit. Der zweite Kunstgriff liegt irt der Annahme der obigen, empirisch gewonnenen, fiktiven Gleichung, derzufolge ich ungefähr meine Wahrnehmungen eintrage. Ein Beispiel soll dies später erläutern. Der dritte sucht das größte gemeinschaftliche Maß in allen nur zugänglichen Ausdrucksbewegungen.
Aus meinen Darstellungen geht ferner hervor, daß ich von dem Patienten die gleiche Haltung — und immer wieder die gleiche Haltung erwarte, die er, seinem Lebensplan gemäß, zu den Personen seiner früheren Umgebung, noch früher seiner Familie gegenüber, eingenommen hat. Im Augenblick der Vorstellung beim Arzt, oft noch früher, besteht beim Patienten die gleiche Gefühlskonstellation wie sonst belangreichen Personen gegenüber. Daß die Übertragung solcher Gefühle oder der Widerstand später seinen Anfang nähme, ist nur Täuschung, der Arzt erkennt sie in diesen Fällen erst später. Oft zu spät, wenn unterdes der Patient, etwa im Genüsse seiner heimlichen Überlegenheit, der Kur ein Ende macht oder etwa durch Verschlimmerung seiner Symptome einen unerträglichen Zustand schafft. Daß Verletzungen des Patienten ausgeschlossen sein müssen, brauche ich psychologisch geschulten Ärzten nicht zu sagen. Sie können aber ohne Wissen des Arztes erfolgen, oder harmlose Bemerkungen können tendenziös umgewertet werden, solange der Arzt die Art seines Patienten nicht durchschaut. Deshalb ist besonders im Anfang Zurückhaltung geboten und die möglichst rasche Erfassung des neurotischen Systems erforderlich. In der Regel gelingt letzteres innerhalb des ersten Tages bei einiger Erfahrung.
Bedeutsamer noch ist die Notwendigkeit, dem Patienten jeden sicheren Angriffspunkt zum Kampf zu entziehen. Ich kann an dieser Stelle nur einige Winke geben, die verhüten sollen, daß der Arzt nicht in die Behandlung des Patienten gerät. So verspreche man auch in den sichersten Fällen nie die Heilung, sondern immer nur die Heilungsmöglichkeit. Einer der wichtigsten Kunstgriffe der Psychotherapie erfordert die Zuschiebung der Leistung und des Erfolges der Heilung auf den Patienten, dem man sich in kameradschaftlicher Weise als Mitarbeiter zur Verfügung stelle. Die Verknüpfung von Honorarbedingungen mit dem Erfolg der Behandlung schafft ungeheure Erschwerungen für den Patienten. Man halte sich in jedem Punkte an die vorläufige Annahme, daß der nach Überlegenheit lüsterne Patient jede Verpflichtung des Arztes, auch die über die Dauer der Kur, zu einer Niederlage des Arztes ausnützen wird. So sollen denn auch die beiderseitigen Notwendigkeiten — Besuchszeit, offenes Entgegenkommen, Honorarfrage, Unentgeltlichkeit der Behandlung, Verschwiegenheit des Arztes usw. — sofort geregelt und — eingehalten werden. Unter allen Umständen ist es ein ungeheurer Vorteil, wenn der Patient den Arzt besucht. Und die Vorhersage einer Möglichkeit von Verschlimmerungen bei Fällen von Ohnmachtsanfällen, Schmerzen oder Platzangst enthebt einen für den Anfang eines großen Stückes Arbeit: Die Anfälle bleiben in der Regel aus — was unsere Anschauungen über den starken Negativismus des Nervösen bestätigt. Sich eines Teilerfolges sichtlich zu freuen oder gar sich zu rühmen wäre ein großer Fehler. Die Verschlimmerung ließe nicht lange auf sich warten. Man kehre sein offensichtliches Interesse vielmehr den Schwierigkeiten zu, ohne Ungeduld und ohne Verstimmung, sondern in kaltblütig wissenschaftlicher Art.
In voller Übereinstimmung mit Obigem steht der Grundsatz, sich von dem Patienten niemals ohne gründlichen Widerspruch und Aufklärung eine übergeordnete Rolle, etwa als Autorität, Lehrer, Vater, Erlöser usw. zuweisen zu lassen. Solche Versuche stellen den Anfang einer Bewegung des Patienten dar, in einer von früher gewohnten Weise übergeordnete Personen dienstbar zu machen, herabzuziehen und durch eine ihnen zugefügte Niederlage zu desavouieren. Die Wahrung irgendeines Vorrangs oder Vorrechts ist nervösen Patienten gegenüber immer von Nachteil. Ebenso zeige man Offenheit, vermeide aber, durch den Hinweis auf das Bedenken eines Kunstfehlers, sich von ihm in Unternehmungen ziehen zu lassen. Noch bedenklicher wäre es, den Patienten in eigene Dienste stellen zu wollen, Ansinnen an ihn zu stellen, Erwartungen zu hegen usw. Verschwiegenheit vom Patienten zu fordern zeugt vom Mangel jeder Kenntnis des nervösen Seelenlebens. Dagegen ist vom Arzt strengste Verschwiegenheit zu geloben und zu halten.
Während diese und durch die gleiche Haltung diktierte ähnliche Maßnahmen zunächst die geeignete Beziehung einer Gleichberechtigung herstellen müssen, nimmt die Aufdeckung des neurotischen Lebensplanes ihren Fortgang in einem freundschaftlichen, ungezwungenen Gespräch, bei dem es durchwegs angezeigt ist, sich der Führung des Patienten zu überlassen. Ich fand es immer am bewährtesten, bloß die neurotische Operationslinie des Patienten in allen seinen Ausdrucksbewegungen und Gedankengängen aufzusuchen und zu demaskieren, zugleich auch ohne Aufdringlichkeit die Schulung des Patienten für die gleiche Arbeit durchzuführen. Die Überzeugtheit des Arztes von der Einzigkeit und Ausschließlichkeit der neurotischen Richtungslinie muß eine derart gefestigte sein, daß er den Wahrheitsgehalt dabei aufbringt, seinem Patienten stets seine störenden Arrangements und Konstruktionen vorherzusagen, sie immer aufzusuchen und zu erklären, bis der Patient, dadurch erschüttert, sie aufgibt — um neue, meist verstecktere an ihre Stelle zu setzen. Wie oft sich dies abspielt, ist nie im vorhinein zu sagen. Endlich aber gibt der Patient nach, und dies um so leichter, je weniger ihm aus der Situation zum Arzte das Gefühl einer Niederlage erwachsen kann.
Ebenso wie die Arrangements auf der Linie zum Gefühl irgendeiner Überlegenheit liegen, so auch bestimmte, subjektive Fehlerquellen, die eben aus dem Grunde ausgenützt und festgehalten werden, weil sie etwa das Minderwertigkeitsgefühl vertiefen und so Reize und einen Ansporn zum weiteren Vorbauen abgeben. Solche Fehler samt ihrer Tendenz müssen in die Blickrichtung des Patienten gerückt werden.
Das primitive Apperzeptionsschema des Patienten, das alle Eindrücke als grundsätzlich wertet und tendenziös gruppiert (oben — unten, Sieger — Besiegter, männlich — weiblich, nichts — alles usw.), ist stets nachzuweisen und als unreif, unhaltbar, aber als zur Tendenz: weiter zu kämpfen geeignet — zu entlarven. Dieses Schema macht es auch aus, daß man im Seelenleben des Nervösen ähnliche Züge findet wie in den Anfängen der Kultur, wo auch die Not zu solchen Sicherungen zwang. Es wäre phantastisch, in solchen Analogien mehr als Mimikry zu vermuten, etwa eine Wiederholung der Phylogenese. Was bei den Primitiven und noch beim Genie als kraftstrotzender Titanentrotz imponiert, sich aus dem Nichts zu einem Gott emporzuschrauben, aus Nichts ein weltbeherrschendes Heiligtum zu errichten, ist beim Nervösen sowie im Traum ein unschwer zu durchschauender Bluff, wenngleich viel Jammer dadurch geschaffen wird. Der fiktive Sieg, den sich der nervöse Patient durch seine Kunstgriffe leistet, besteht nur für seine Einbildung. Man muß ihm den Standpunkt des anderen entgegenstellen, der meist in gleicher Weise seine Überlegenheit als erwiesen betrachtet, wie am deutlichsten in der Liebesbeziehung des Nervösen oder in seiner Perversion zutage tritt. Gleichzeitig erfolgt Schritt für Schritt die Aufdeckung des unerreichbar gesteckten Zieles der Überlegenheit über alle, der Hinweis auf die tendenziöse Verschleierung desselben, auf seine alles beherrschende, richtunggebende Macht, auf die durch das Ziel bedingte Unfreiheit und Menschenfeindlichkeit des Patienten. Ebenso einfach ergibt sich, sobald genügend Material vorliegt, der Beweis, daß alle nervösen Charakterzüge, die nervösen Affekte und Symptome als Mittel dienen, teils um den vorgeschriebenen Weg zu gehen, teils um ihn zu sichern. Wichtig ist das Verständnis für die Art der Affekt- und der Symptomherstellung, die, wie oben dargestellt wurde, einem oft unsinnigen »Junktim«, das gleichwohl planmäßig wirkt, ihre Promptheit verdanken. Das Junktim trägt einem der Patient oft harmlos entgegen, zumeist muß man es aus seinen analogisierenden Erklärungen, aus seiner Vorgeschichte oder aus seinen Träumen erschließen.
Die gleiche Tendenz der Lebenslinie verrät sich in der Welt- und Lebensanschauung des Patienten sowie in seiner Betrachtung und Gruppierung aller seiner Erlebnisse. Fälschungen und willkürliche Eintragungen, tendenziöse Nutzanwendungen von stärkster Einseitigkeit, maßlose Befürchtungen und sichtlich unerfüllbare Erwartungen finden sich auf Schritt und Tritt, immer aber dienen sie dem geheimen Lebensplan des Patienten mit seinem gloriosen fünften Akt. Da gibt es viele Entgleisungen und Hemmungen aufzudecken, was aber nur mühsam mit fortschreitendem Verständnis für die einheitliche Tendenz gelingt.
Da sich der Arzt dem neurotischen Streben des Patienten in den Weg stellt, so wird er wie eine Wegsperre oder ein Zaun empfunden, der die Erreichung des Größenideals auf neurotischem Wege zu verhindern scheint. Deshalb wird jeder Patient versuchen, den Arzt zu entwerten, ihn seines Einflusses zu berauben, ihm den wahren Sachverhalt zu verschleiern, und er wird immer neue Wendungen finden, die gegen den Psychotherapeuten gerichtet sind. Ferner ist zu erinnern, daß hier die gleiche Feindseligkeit die Beziehung zum Arzte zu vergiften droht wie sonst im Leben zu jeder andern Person, wenngleich vielfach verdeckt. Auf diese ist besonders zu achten, weil sie in einer gut geleiteten Kur am deutlichsten die Tendenz des Kranken, auch hier mittels der Neurose seine Überlegenheit zu behaupten, verrät. Besonders je weiter die Besserung fortschreitet — bei Stillstand derselben herrscht meist herzliche Freundschaft und Frieden, nur die Anfälle dauern fort — desto heftiger werden die Bemühungen des Patienten, durch Unpünktlichkeit, Zeitvertrödelung oder durch Fortbleiben aus der Behandlung den Erfolg in Frage zu stellen. Zuweilen stellt sich eine auffallende Feindseligkeit ein, die, wie alle diese von der gleichen Tendenz getragenen Widerstandserscheinungen, nur zu beheben ist, wenn der Patient immer wieder auf das Gleichartige seines Benehmens aufmerksam gemacht wird. Die feindselige Beziehung der Angehörigen des Patienten zum Arzt fand ich stets von Vorteil und suche sie gelegentlich vorsichtig zu wecken. Da meist die Tradition der ganzen Familie des Kranken eine gleichsinnig nervöse ist, kann man auch durch ihre Aufdeckung und Exemplifikation vielen Nutzen beim Patienten stiften. Der Vollzug der Änderung im Wesen des Patienten kann einzig nur sein eigenes Werk sein. Ich fand es am günstigsten, dabei ostentativ die Hände in den Schoß zu legen, in der festen Überzeugung, daß er, was immer ich zu diesem Punkte auch sagen könnte, sobald er seine Lebenslinie erkannt hat, nichts von mir erfahren würde, was er als der Leidtragende nicht besser wüßte.
Sollte das Verständnis für eine Neurose dem Arzte Schwierigkeiten machen, so bringt meist folgende Frage eine erhebliche Klärung: »Was würden Sie tun, wenn Sie bei mir Ihre Heilung erlangten?« Der Patient wird dann gewöhnlich die Aktion nennen, vor der er entmutigt mittels der Neurose ausweicht. — Recht wertvoll erweist sich mir auch der Kunstgriff, mich wie bei einer Pantomime zu verhalten, auf die Worte des Patienten eine Weile nicht zu achten und aus seiner Haltung und aus seinen Bewegungen innerhalb seiner Situation seine tiefere Absicht herauszulesen. Man wird dabei den Widerspruch zwischen Gesehenem und Gehörtem scharf empfinden und den Sinn des Symptoms deutlich erkennen.
Ein Beispiel für viele: ein 32jähriges Mädchen erscheint mit ihrem 24jährigen Bräutigam und klagt über ihre Angst vor dem dämonischen Einfluß eines zweiten Bewerbers. Sie fürchtet, er könnte ihre Ehe stören. Dabei Angst, Herzklopfen, Unruhe, Schlaflosigkeit und Entschlußunfähigkeit. Eine pantomimische Darstellung dieser Situation ergibt eine Fleißaufgabe für den Bräutigam. Er wird genötigt sein, seine Bemühungen zu verdoppeln. Die Angst vor dem dämonischen Einfluß des andern ist ein Mittel des ehrgeizigen Mädchens, sich durch eine verstärkte Bindung des jüngeren Bräutigams vor einer Enttäuschung in der Ehe, vor Vernachlässigung zu schützen. Gleichzeitig belehrt uns dieser Fall, woher die »dämonische Kraft« des andern stammt. Sie ist nicht als Tatsache zu werten, sondern bezieht ihre Existenz aus der durch das ehrgeizige Ziel des Mädchens geschaffenen Anschauung.
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4) Siehe ›Zur Rolle des Unbewußtem‹.
»Geist« scheint vor dieser tendenziösen Verschleierung der Tatsächlichkeit nicht zu schützen. Und die Gottähnlichkeit spielt auch dem Therapeuten zuweilen sonderbare Streiche.
5) Eine Beziehung wie die zu Mutter oder Vater kann logischerweise anderen Personen gegenüber nur durch einen Irrtum