[Verschiedenes Verhalten der Massenpsyche und der Einzelpsyche. Die Intelligenz der Masse unter dem Niveau der Intelligenz des Einzelindividuums. Beispiele hierfür.]


Die Erfahrungen auf dem Gebiet der Rassen- und Völkerpsychologie haben in neuerer Zeit dazu geführt, daß man die Masse als eine Einheit betrachtet, welche in ihren geistigen Eigenschaften und Leistungen sich von den sie bildenden Einzelindividuen in gewissen Beziehungen unterscheidet, weshalb man auch von einer Volksseele oder Massenpsyche im Gegensatz zur Einzelpsyche spricht. Man ist im allgemeinen wenig geneigt, der Masse, insbesondere wenn sie als Einheit auftritt und handelt, viel Verstand zuzutrauen, und die Erfahrungen des täglichen Lebens wie der Geschichte verleihen unleugbar dieser ungünstigen Meinung eine gewisse Stütze. Auch unsere größten Dichter haben aus ihrer Geringschätzung der geistigen Qualitäten der Masse kein Hehl gemacht. Am treffendsten hat Schiller den Unterschied zwischen Einzel- und Massenpsyche zum Ausdruck gebracht: "Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständlich, sind sie in corpore, gleich wird ein Dummkopf daraus". Ähnlich äußert sich Grillparzer in seiner Tragödie "Ein Bruderzwist im Hause Habsburg": "Erträglich ist der Mensch als einzelner, dem Haufen steht die Tierwelt gar zu nahe".1) Die Intelligenz der Masse entspricht gewöhnlich nicht der durchschnittlichen Begabung und Bildung der in ihr vorhandenen Einzelindividuen sie steht vielmehr unter dem Niveau dieser. Im Einzelfall macht sich natürlich die Intelligenzstufe der die Masse zusammensetzenden Personen geltend. Eine Versammlung gebildeter und intelligenter Männer wird sich nie zu Schritten hinreißen lassen, deren der nächstbeste Pöbelhaufen fähig ist. Doch lehrt die Erfahrung, daß auch eine Vereinigung gebildeter Menschen sich unter Umständen zur Torheiten und Rohheiten verleiten lassen kann, welche die in ihr vertretenen Einzelindividuen, wenn nicht sämtlich, so doch zum größten Teil im isolierten Zustand nicht begehen würden. Ich muß mir gestatten, hier einige Beispiele anzuführen. Ein Berliner Universitätsprofessor erwähnt in einer Vorlesung den Umstand, daß ein jüdischer Rechtsanwalt, ein hochangesehener und verdienstvoller Jurist, durch Mörderhand seinen Tod fand. Diese Mitteilung rief bei der Zuhörerschaft nicht Zeichen des Abscheus, sondern des Beifalls (Trampeln mit den Füßen etc.) hervor. Seitenstücke zu dieser Affäre bilden die durch politische Leidenschaften veranlaßten Raufereien und Prügeleien, die an österreichischen Universitäten zwischen deutschen und italienischen, deutsch-freiheitlichen und klerikalen Studierenden in früheren Jahren öfters vorkamen, ferner die Beschimpfungen und Bedrohungen, welchen Zola und sein Verteidiger während der Dreyfußaffäre seitens Angehöriger der gebildetsten Pariser Kreise ausgesetzt waren. Wenn wir den Fall in Berlin berücksichtigen, so dürfen wir wohl annehmen, daß die einzelnen Studierenden, welche an der fraglichen Beifallsäußerung teilnahmen, selbst wenn sie der antisemitischen Richtung angehörten und bei ihnen die jugendliche Unreife des Urteils in besonderem Maße sich geltend machte, doch weder so gemütsroh, noch so unverständig waren, um den Mord eines hochverdienten Mannes mit Beifall aufzunehmen. Wenn sie dies trotzdem taten, so konnte es nur infolge des Umstands geschehen, daß in der Masse das Einzelindividuum Einflüssen unterliegt, welche hemmend auf die Betätigung seiner intellektuellen (und moralischen) Kräfte wirken. Ähnlich erklärt sich das erwähnte Verhalten der österreichischen Studenten. Der Einzelne mochte sehr wohl einsehen, daß politische Gegensätze nicht durch Gewalttätigkeiten sich ausgleichen lassen; er mochte auch durch seine Intelligenz und Gesittung abgehalten werden, den einzelnen politischen Gegner zu beschimpfen oder tätlich anzugreifen. Sobald er jedoch in der Mitte Gleichgesinnter sich befand, sank seine Intelligenz und verlor seine Gesittung ihren Einfluß. Er beteiligte sich an sinnlosen Demonstrationen und ließ sich zu Gewalttätigkeiten gegen den politischen Gegner hinreißen, die der von ihm vertretenen Sache nur schaden konnten2).

Die Masse als solche bildet, wie wir aus dem Vorstehenden schon ersehen, ein Agens, welches auf die Intelligenz und zumeist auch auf die Moral des Einzelnen einschränkend wirkt. Wenn wir uns fragen, wie diese psychische Veränderung zustande kommt, so stoßen wir auf eine Mehrzahl von Momenten, von welchen im Einzelfall bald mehr das eine, bald mehr das andere wirksam wird. In erster Linie kommt in Betracht, daß in der Masse das Einzelindividuum je nach dem Zwecke der Vereinigung nur mit einem Teile seiner geistigen Persönlichkeit (seinen politischen, religiösen, ästhetischen etc. Ego) figuriert. Wer sich in eine politische Versammlung begibt, läßt sein Familien- und Geschäftsich zu Hause; wer einer Zusammenkunft zu religiösen Zwecken anwohnt, läßt sein politisches und geschäftliches Ich zurück. Der Familienvater, der eine Redoute allein besucht, nimmt sein Familien-, sein politisches, geschäftliches und nicht selten auch sein religiöses (moralisches) Ego nicht mit.

Die Einschränkung der Persönlichkeit hat auch eine Einschränkung des geistigen Horizontes zur Folge. Die Vorstellungen, die dem momentan dominierenden Partialego entspringen, rufen keine Gegenvorstellungen auf anderen Gebieten des Totalego hervor oder nur solche von ungenügender Stärke. Dazu kommt, daß in der Masse beim Einzelindividuum das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit und persönlicher Würde, das unter gewöhnlichen Verhältnissen für sein Handeln von so großer Wichtigkeit ist und bedenklichen Antrieben gegenüber einen mächtigen Hemmschuh bildet, sich bedeutend verringert, mitunter selbst ganz schwindet, während gleichzeitig die Neigung zur Imitation (Ansteckungsfähigkeit) unter den von der Masse ausgehenden Eindrücken wächst. Einen sehr wichtigen Faktor, dessen Bedeutung jedoch in den einzelnen Fällen schwankt, bildet endlich auch die Gemütsverfassung der Masse, da mit der gemütlichen Erregung die Fähigkeit ruhiger Überlegung abnimmt. Die höchsten Grade leidenschaftlicher Erregung und gewisse Affekte (Angst, Schrecken etc.) können die Masse in einen Zustand versetzen, in welchem nur mehr die rohen Instinkte zur Geltung kommen.

 

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1) Über die Mehrheit äußern sich Schiller und Goethe gleich ungünstig. Ersterer sagt: "Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen." Goethes Urteil über die Mehrheit lautet ähnlich: "Nichts ist widerwärtiger als die Majorität, denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will."

2) Besonders bemerkenswert sinb die in Innsbruck von klerikalen Studenten begangenen Exzesse, weil man diesen schon in Anbetracht ihrer religiösen Gesinnung ein gewalttätiges Vorgehen gegen Andersdenkende nicht zutrauen sollte. Nach den Zeitungsberichten wurden von den Innsbrucker klerikalen Studenten deren deutschfreiheitlichen Kommilitonen aus dem Universitätsgebäude hinausgedrängt, die Vorlesungen gesprengt und noch anderer Unfug getrieben. In Graz nahmen die Prügeleien unter Studenten Dimensionen an, daß die Universität zeitweilig geschlossen werden mußte.


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