Abteilung X.
Über die Wunder.
Abschnitt I.
« Zurück 1 |
2 |
3 Weiter »
Man nehme z.B. an, dass die Tatsache, welche der Zeuge bekundet, zu den außerordentlichen und wunderbaren gehöre. Dann erfährt die Beweiskraft eines solchen Zeugnisses eine größere oder kleinere Verminderung, je nachdem die Tatsache mehr oder weniger ungewöhnlich ist. Der Grund, warum man Zeugen oder Geschichtsschreibern Glauben beimisst, leitet sich nicht von einer Verknüpfung ab, welche man a priori zwischen Zeugnis und Wirklichkeit erkennt, sondern weil man gewohnt ist, eine Gleichförmigkeit zwischen Beiden anzutreffen. Ist aber die bezeugte Tatsache uns selten vorgekommen, so erhebt sich ein Streit entgegengesetzter Erfahrungen, von denen die eine die andere so weit zerstört, als ihre Kraft reicht, und die stärkere kann auf die Seele nur noch mit der übrig gebliebenen Kraft wirken. Dasselbe Prinzip der Erfahrung, welches uns den Berichten von Zeugen gewissermaßen vertrauen lässt, gibt uns in einem solchen Falle auch einen Grad von Gewissheit gegen die Tatsache, welche sie feststellen wollen. Aus diesem Widerspruche entspringt notwendig ein Gegensatz und eine gegenseitige Zerstörung des Glaubens und Vertrauens. »Ich würde dies nicht glauben, selbst wenn es mir Cato erzählte,« war in Rom schon zu Lebzeiten dieses philosophischen Staatsmannes eine sprichwörtliche Redensart. Man ernannte, dass die Unglaubwürdigkeit einer Tatsache selbst eine so große Autorität erschüttern könnte.7 Der indische Prinz, welcher den ersten Erzählungen über die Wirkungen des Frostes nicht glauben wollte, verfuhr ganz richtig, und es bedurfte natürlich sehr starker Zeugnisse, um seine Zustimmung zu Tatsachen zu gewinnen, welche aus Naturbedingungen hervorgingen, die ihm ganz unbekannt waren und so wenig den Vorgängen glichen, von denen er eine beständige und gleichförmige Erfahrung hatte.
Wenn sie auch seinen Erfahrungen nicht widersprachen, so stimmten sie doch nicht damit überein.A8 Um aber die Wahrscheinlichkeit gegen die Ansicht der Zeugen zu steigern, nehme man an, dass die Tatsache, welche sie bekunden, nicht bloß außerordentlich, sondern wahrhaft wunderbar sei; ferner, dass das Zeugnis, an sich betrachtet, vollständig beweisend sei. In diesem Falle steht Beweis gegen Beweis; der stärkste wird überwiegen, aber mit einer Verminderung seiner Kraft im Verhältnis zu der seines Gegners.
Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze. Da nun eine feste und unveränderliche Erscheinung diesen Gesetzen zu Grunde liegt, so ist der Beweis gegen das Wunder aus der bloßen Natur der Tatsache so stark, wie irgend ein der Erfahrung entnommener Beweis, nur gedacht werden kann. Weshalb ist es mehr als wahrscheinlich, dass alle Menschen sterben müssen; dass das Blei sich nicht von selbst in der Luft schwebend erhalten kann; dass das Feuer das Holz verzehrt und von Wasser gelöscht wird? offenbar weil diese Erfolge mit den Gesetzen der Natur übereinstimmend befunden sind, und eine Verletzung dieser Gesetze, d.h. in anderen Worten ein Wunder nötig ist, um sie nicht eintreten zu machen. Nichts gilt, als Wunder, was im gewöhnlichen Lauf der Dinge geschieht. Es ist kein Wunder, wenn ein anscheinend gesunder Mann plötzlich stirbt, weil eine solche Todesart zwar seltener als andere ist, aber doch oft beobachtet worden ist. Aber es wäre ein Wunder, wenn ein toter Mensch wieder lebendig würde, weil dies zu keiner Zeit und in keinem Lande vorgekommen ist. Es muss deshalb eine allgemeine Erfahrung jedem Wunder entgegenstehen, sonst würde das Ereignis nicht diesen Namen verdienen. Und da die allgemeine Erfahrung einen vollen Beweis abgibt, so ergibt hier die Natur der Tatsache selbst einen genauen und vollen Beweis gegen das Dasein dieses Wunders. Dieser Beweis kann nur aufgehoben und das Wunder glaubwürdig gemacht werden, wenn man einen stärkeren Beweis gegen ihn beibringt.A9 Die einfache Folge ist (und es ist ein allgemeiner Grundsatz, der aller Aufmerksamkeit wert ist), »dass kein Zeugnis zureicht, ein Wunder festzustellen; es müsste denn das Zeugnis der Art sein, dass seine Falschheit wunderbarer wäre als die Tatsache, welche es bekundet; und selbst in diesem Falle besteht eine gegenseitige Aufhebung der Gründe; der stärkere gibt nur noch eine Sicherheit nach dem Grade der Stärke, welche nach Abzug des schwächeren übrig bleibt.« Wenn nun Jemand erzählt, er habe gesehen, dass ein Toter wieder lebendig gemacht worden sei, so überdenke ich sogleich bei mir, ob es wahrscheinlicher sei, dass ein Mensch betrügt oder betrogen ist, oder dass das erzählte Ereignis sich wirklich zugetragen habe. Ich wiege ein Wunder gegen das andere ab, und je nach dem Übergewicht, was ich bemerke, entscheide ich mich und verwerfe immer das größere Wunder.
Wäre die Unwahrheit seines Zeugnisses ein größeres Wunder als das berichtete Ereignis, dann, und nur dann kann er auf meinen Glauben oder Zustimmung Anspruch machen.
_________________
7 So berichtet Plutarch im Leben Cato's.
A8 Ein Inder konnte offenbar nicht aus Erfahrung wissen, dass das Wasser in kalten Ländern gefriert. Die Natur wird dabei in eine ihm ganz unbekannte Lage gebracht, und er kann nicht a priori den Erfolg voraussagen. Es ist für ihn ein neues Experiment, dessen Erfolg allemal ungewiss bleibt. Man kann wohl mitunter die Folge nach Analogien vermuten, aber es bleibt nur Vermutung. In dem Falle des Gefrierens erfolgt offenbar die Wirkung gegen die Regeln der Analogie, und sie ist der Art, dass ein verständiger Inder sie nicht voraussehen kann. Die Wirkung der Kälte auf das Wasser geschieht nicht allmählich nach dem Grade der Kälte; sondern das Wasser geht, wenn der Gefrierpunkt eintritt, plötzlich von der höchsten Flüssigkeit zur vollkommenen Härte über. Ein solches Ereignis gilt deshalb als außerordentlich und verlangt ein ziemlich starkes Zeugnis, um Leuten in warmen Ländern glaublich zu erscheinen. Aber es ist doch nicht wunderbar und widerspricht nicht der gleichförmigen Erfahrung von dem Laufe der Natur in Fällen, wo die Umstände dieselben sind. Die Einwohner von Sumatra haben das Wasser bei sich immer flüssig gesehen, und das Gefrieren ihrer Flüsse müsste für ein Wunder gelten; aber sie sahen nie das Wasser während des Winters in Moskau und können deshalb nicht bestimmt wissen, welcher Erfolg da eintreten wird.
A9 Manchmal kann ein Ereignis, wenn man es an sich selbst betrachtet, den Gesetzen der Natur nicht widersprechend erscheinen, und doch, wenn es geschieht, in Folge gewisser Umstände, als ein Wunder gelten, weil es tatsächlich den Gesetzen widerspricht. Wenn Jemand, der sich für einen Gesandten Gottes ausgibt, einem Kranken heißt, gesund zu sein, einem Gesunden, tot niederzufallen; wenn er den Wolken das Regnen und den Winden das Wehen gebietet, kurz, wenn er natürliche Ereignisse fordert, die seinem Befehle unmittelbar nachfolgen, so kann dies mit Recht als Wunder gelten, weil es in dieser Verbindung den Naturgesetzen widerspricht. Besteht aber ein Verdacht, dass das Gebot und das Ereignis nur zufällig zusammentrafen, so liegt kein Wunder und keine Überschreitung der Naturgesetze darin.
Wird dieser Verdacht beseitigt, so ist offenbar ein Wunder und eine Überschreitung der Naturgesetze vorhanden; denn nichts ist mehr diesen entgegen als ein solcher Einfluss der Worte und Gebote eines Menschen. Man kann das Wunder definieren als eine Überschreitung der Naturgesetze durch ein besonderes Wollen der Gottheit oder durch Dazwischenkunft eines unsichtbaren Einflusses. Das Wunder kann von den Menschen bemerkt werden oder nicht; dies ändert seine Natur und sein Wesen nicht. Erhebt sich ein Haus oder ein Schiff in die Luft, so ist dies ein augenscheinliches Wunder. Erhebt sich eine Feder, ohne dass der Wind die dazu nötige Stärke besitzt, so ist auch dies ein wirkliches Wunder, wenn es auch weniger auffällt.
« Zurück 1 |
2 |
3 Weiter »