Erfahrung - Neuzeit
Die rationalistische Philosophie der neueren Zeit verachtet zwar die Erfahrung durchaus nicht, erkennt aber noch eine andere Erkenntnisquelle an und leitet die Notwendigkeit der Erkenntnis aus der Vernunft (s. d.) ab. So DESCARTES, MALEBRANCHE, SPINOZA (s. Erkenntnis). Nach letzterem stammt ein Teil unserer Begriffe aus »vager Erfahrung«. »Apparet, nos multa percipere et notiones universales formare ex singularibus nobis per sensus mutilate, confuse et sine ordine ad intellectum repraesentatis: et ideo tales perceptiones cognitionem ab experientia vaga vocare consuevi« (Eth. II, prop. XL, schol. II).
Der neuere Empirismus beginnt bei F. BACON. Gegenüber dem abstrakten Begriffsverfahren und Syllogismus (s. d.) betont er den Wert der methodischen Erfahrung und Induktion (s. d.). Die gemeine Erfahrung ist aber wertlos. »Vaga enim experientia, et se tantum sequens... mera palpatio est, et homines potius stupefacit, quam informat« (Nov. Organ. I, 100). Die »experientia literata« ist zu verwenden (l.c. 103; vgl. 64). Nach HOBBES ist die Erfahrung »phantasmatum copia orta ex multarum rerum sensionibus« (Elem. phil.c. 25, 2). »Memoria multarum rerum experientia dicitur« (Leviath. I, p. 9). Gegen die Lehre von den angeborenen (s. d.) Begriffen polemisiert LOCKE (Ess. I, ch. 2 ff.). Nach ihm stammt alles Wissen aus äußerer oder innerer Erfahrung. Die Seele ist eine »tabula rasa« (s. d.), ein »white paper«. Um zur Erkenntnis zu gelangen, muß sie die Objekte oder sich selbst beobachten (l.c. II, ch. I, § 2). Die Erfahrung ist teils »sensation« (Sinneswahrnehmung), teils »reflection« auf das seelische Sein (l.c. § 3, 4). Die Tätigkeit des Geistes wird nicht geleugnet, aber sie beschränkt sich auf Verbindung und Trennung der Vorstellungen, auf Abstraktion und Generalisation. Der Stoff der Erkenntnis muß durch Erfahrung gegeben sein: »nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« (l.c. II, ch. 1, § 5). Nach BERKELEY hat die innere Erfahrung einen Vorrang vor der äußeren. Nach TSCHIRNHAUSEN ist die Erfahrung (besonders die innere) die Quelle der Erkenntnis (Med. ment.). LEIBNIZ erklärt, die Erfahrung enthalte schon den Intellekt, das Denken (Nouv. Ess. II, ch. 1, § 2). »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse« (l.c. II, ch. 1, § 6). Empirisches Wissen haben wir, wenn wir etwas erfahren haben ohne Einsicht in die Verknüpfung der Dinge, ohne kausale Kenntnis (l.c. IV, ch. 1, § 2). Unser eigenes Seelensein kennen wir durch innere Erfahrung. Die logische Notwendigkeit ist kein Erfahrungsinhalt, kein Produkt der Wahrnehmung oder Induktion: Die Sinne gewähren nur »individuelle Wahrheiten«, und aus dem, was geschehen ist, folgt nicht, daß es immer ebenso geschehen muß (l.c. Préf.). CHR. WOLF will alles erfahrungsmäßig Konstatierte rationell (durch »vernünftige Gedanken«) begründen. Erfahrung ist »die Erkenntnis, darzu wir gelangen, indem wir auf unsere Empfindungen und die Veränderungen der Seele acht haben« (Vern. Ged. I, § 325). Die »Erfahrungen« sind »nichts als Sätze von einzelnen Dingen« (Vern. Ged. von d. Kr. d. m. Verst.9, S. 110). »Experiri dicimus quicquid ad perceptiones nostras attenti cognoscimus Ipsa vero horum cognitio, quae sola attentione ad perceptiones nostras patet, experientia vocatur« (Phil. rat. § 664). »Experientia« ist »cognitio singularium« (l.c. § 665). LAMBERT versteht unter »erfahren« »eine Sache mit Bewußtsein empfinden - mit der Vorstellung, daß sie eine Empfindung sei« (N. Organ. § 552). »Gemeine Erfahrung« ist »die bloße Empfindung dessen, was ohne weiteres Zutun in die Sinne fällt« (l.c. § 557).