Begehren (Begierde) ist ein intensives, durch ein Hindernis gewecktes, verstärktes Streben, das sich seines Zieles bewußt ist (»Ignoti nulla cupido«). Es gibt ein sinnliches und ein geistiges Begehren. Die Begierde ist insofern »blind«, als sie nicht auf die Folgen der Begehrung achtet. Das Gegenteil des Begehrens ist das Verabscheuen, das Widerstreben gegen einen Zustand oder Gegenstand.
Nach EMPEDOKLES geht das Begehren auf Herstellung der normalen Mischung im Organismus (SIEBECK, G. d. Psych. I 1, 152). PLATO nimmt einen besonderen begehrenden Teil der Seele (epithymêtikon) an (Rep. IV, 441 b; Tim. 77 b). Nach ARISTOTELES entspringt das Begehren (orexis, epithymia) aus gefühlsbetonten Vorstellungen (De an. II 3, 414 b 4). Es ist Streben nach Lust (l.c. II, 3, 414 b 66), wird nicht von der Vernunft geleitet (ist en tô alogô,, l.c. III 9, 432 b 6). Die Seele wird durch das Begehrte (orekton) gleichsam bewegt (l.c. III 11, 333 a 27). Die Stoiker bestimmen die Begierde als vernunftloses Streben (orexin apeithê logô, Stob. Ecl. II, 6, 172). EPIKUR teilt die Begierden (epithymiai) ein in: natürliche (physikai) und nichtige (kenai); die ersteren sind teils Begierden schlechthin (physikai monon), teils notwendige Begierden (anankaiai) (Diog. L. X, 127; vgl. X, 149). Nach CICERO ist »libido« die »opinio venturi boni« (Tusc. disp. IV, 9).
GREGOR VON NYSSA stellt drei Arten des Begehrens auf: fleischliche, seelische, geistige Begehrungen (De opif. 8). PHILOPONUS unterscheidet das seelische Begehren (epithymia) von der physikê dynamis, vom körperlichen Drange (SIEBECK, G. d. Ps. I 2, 356). Die Scholastiker unterscheiden vom Erkenntnisvermögen die »vis appetitiva« (s. Streben). »Cupiditas« ist nach ihnen »passio, quae tendit in bonum«, »aversio« ist »fuga mali«. HUGO VON ST. VICTOR unterscheidet fleischliches und geistiges Begehren (STÖCKL I, 335). ALBERTUS MAGNUS erklärt: »Cupiditas dicitur tribus modis: 1) Pronitas ad peccandum. 2) Concupiscentia ad delectabilia carnis. 3) Amor illicitus cuiuscumque rei temporalis« (Sum. theol. II, 133, 1). Vom sinnlichen ist das intelletive Begehren, der Wille, zu unterscheiden. THOMAS bestimmt das Begehren als »appetitus sensitivus«, sinnliches Streben, das in sich hat die »concupiscibilitas« und »irascibititas« (De pot. an. 5; Sum. th. I, 81, 2). Nach SUAREZ ist das Begehren »appetitus elicitus« (De an. V, 1, 2). HOBBES bezeichnet das Begehren als »primus conatus«, der auf Angenehmes sich richtet (De corp. 35, 13). DESCARTES erklärt die Begierde physiologisch, aus der Wirksamkeit der Lebensgeister (s. d.). »Passio cupiditatis est agitatio animae producta a spiritibus, per quam disponitur ad volendum in futurum res, quas sibi repraesentat convenientes« (Pass. an. II, 86). Es gibt so viele Arten der Begierde als Gegenstände derselben (l.c. II, 88). Nach SPINOZA ist das Begehren »appetitus cum eiusdem conscientia« (Eth. III, prop. IX, schol.). »Cupiditas est ipsa hominis essentia, quatenus ex data quacumque eius affectione determinata concipitur ad aliquid agendum« (l.c. III, aff. def. I.). LEIBNIZ erklärt das Begehren als »tendance d'une perception à l'autre« (Erdm. p. 714 a). Bei CHR. WOLF tritt neben das »Erkenntnisvermögen« ein »Begehrungsvermögen«. Streben im allgemeinen (»appetitus in genere«) ist »inclinatio animae ad obiectum pro ratione boni in eodem percepti« (Psych. emp. § 579). »Cupiditas« ist »praegustus voluptatis vel gaudii ex bono absente, quod nobis praesens esse mallemus« (l.c. § 805). Die sinnliche Begierde entspringt »aus der undeutlichen Vorstellung des Guten« und ist die »Neigung der Seele gegen die Sache, davon wir einen undeutlichen Begriff des Guten haben« (Vern. Ged. I, § 434). Nach CONDILLAC ist das Begehren die auf ein Bedürfnis gerichtete Seelentätigkeit, die aus Empfindungen entspringt (Tr. d. sens. I, 3, 1). PLATNER definiert das Begehren als »innere Veränderung der Seele, welche auf vorherrschende Vorstellungen eines vollkommenen Zustandes, also einer freien oder gehinderten Wirksamkeit ihres Grundvermögens in ihr erfolgt« (N. Anthr. § 1124). Nach TH. BROWN ist das Begehren eine »prospektive emotion« (Lect. III, 314). KANT unterscheidet ein unteres und oberes Begehrungsvermögen, ersteres ist durch materiale Motive, letzteres rein formal, durch die Vernunft selbst (mit der es identisch ist) bestimmt (Kr. d. pr. Vern. 1. T., 1. B., 1. Hptst., § 3). Begierde ist »die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjektes durch die Vorstellung von etwas Künftigem, als einer Wirkung derselben« (Anthr. § 71). Nach CHR. E. SCHMID ist das Begehrungsvermögen »ein Vermögen, welches Vorstellungen realisieret, d.h. macht oder zu machen strebt, daß dasjenige wirklich werde, was in der Vorstellung enthalten ist« (Emp. Psych. S. 335). Das Begehren ist »die Art der Tätigkeit, welche den Stoff so oder anders bestimmt oder sich auf denselben bezieht« (l.c. S. 337). In jeder Begierde kommt »etwas Angeborenes, d.h. im Begehrungsvermögen selbst Gegründetes, und etwas durch Einwirkung Hervorgebrachtes vor« (l.c. S. 339).
J. G. FICHTE bestimmt das Begehren als »ein durch seinen Gegenstand bestimmtes Sehnen« (Syst. d. Sitt. S. 160). »Das Mannigfaltige des Begehrens überhaupt, in einem Begriffe vereinigt und als ein im Ich begründetes Vermögen betrachtet, heißt Begehrungsvermögen« (ib.). Nach HEGEL ist Begierde »das Selbstbewußtsein in seiner Unmittelbarkeit«, »der Widerspruch seiner Abstraktion, welche obiektiv sein soll, oder seiner Unmittelbarkeit, welche die Gestalt eines äußeren Objekts hat und subjektiv sein soll« (Encykl. § 426). HEINROTH unterscheidet das Begehren vom Willen (Psychol. S. 68). Nach BENEKE ist das Begehren »abgeleiteter Natur, tritt erst als Reproduktionsform in die Ausbildung der Seele ein« (Pragm. Psych. I, 50 f.; Lehrb. § 167). Nach HERBART ist das Begehren ein sekundäres Phänomen, »das Hervortreten einer Vorstellung, die sich gegen Hindernisse aufarbeitet« (Psych. a. Wiss. II, § 104). Begierde ist eine, »Vorstellung, die wider eine Hemmung auftritt« (l.c. § 150). Zwischen Begehren und Wollen, unterem und oberem Begehrungsvermögen ist zu unterscheiden (Lehrb. z. Psych.3, S. 78 ff.). VOLKMANN definiert die »Begehrung« als »das Bewußtwerden des Anstrebens des Vorstellens und Geltendmachung seiner Vorstellung« (Lehrb. d. Psych. II4, 405); ähnlich DROBISCH (Emp. Psych. § 143). Nach STRÜMPELL ist das Begehren »jene Seelentätigkeit, worin eine Vorstellung trotz der auf sie ausgeübten Hemmungen im Bewußtsein im Gemüte aufstrebt und sich gegenwärtig erhält« (Gr. d. Psych. S. 94). ALLIHN: »Begehrungen sind Vorstellungen, welche im Streben begriffen sind, zur Vollendung des Vorstellens zu gelangen« (Gr. d. allg. Eth. S. 53). WAITZ definiert Begehrung als »dasjenige Gefühl, welches entsteht, wenn wir etwas als angenehm Vorgestelltes zugleich als nicht sinnlich gegenwärtig vorzustellen uns genötigt finden« (Lehrb. d. Psych. S. 420). GEORGE sieht im Begehren ein »Wahrmachen« des Erkannten (Lehrb. d. Psych. S. 548). ULRICI bestimmt die Begierde als Form des Strebens (Leib u. Seele S. 594). LIPPS bezeichnet das Begehren als das »qualitative Empfindungsstreben« (Gr. d. Seelenleb. S. 600). Nach H. SPENCER sind Begehrungen »ideelle Gefühle, welche auftreten, wenn die reellen Gefühle, denen sie entsprechen, längere Zeit nicht erfahren worden sind« (Psych. I, § 50). Nach SIGWART ist Begehren der »empfundene Drang« aus der Gegenwart heraus nach der vorgestellten und anticipierten relativ höheren Lust der Zukunft hin (Kl. Schr. II2, 141). HÖFFDING definiert Begehren als »einen von deutlichen Vorstellungen beherrschten Trieb« (Psych. S. 325), JODL als einen »seines Zieles bewußten« Trieb (Lehrb. d. Psych. S. 426). Nach WUNDT ist das Begehren eine Richtung des Triebes (s. d.); Begehren und Widerstreben bilden die Grundlage aller Willenshandlungen (Grdz. d. ph. Psych. II3, 411). Nach KÜLPE handelt es sich bei den Begierden und Abneigungen um »Triebformen, die den Affekten besonders nahe stehen« (Gr. d. Psych. S. 338). EHRENFELS nennt Begehren alles Wünschen, Streben, Wollen, alle psychischen Akte, die auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind, »nämlich entweder auf die Existenz oder die Entstehung eines Dinges, das Eintreten oder Zutreffen eines Vorgangs, oder aber auf die Nichtexistenz oder Vernichtung eines Dinges, das Hintanbleiben oder Aufhören eines Vorgangs«. Es gibt positive und negative Akte des Begehrens (Werttheor. I, 6, 18). Begehren ist kein besonderes Bewußtseinselement, sondern nichts anderes als »die - eine relative Glücksförderung begründende - Vorstellung von der Ein- oder Ausschaltung irgend eines Objekts in der oder aus dem Kausalgewebe um das Zentrum der gegenwärtigen Ichvorstellung« (l.c. S. 248). Vgl. Streben, Wille.