Ursachen der Veränderlichkeit


Wenn wir die Individuen einer Varietät oder Untervarietät unserer älteren Kulturpflanzen und Tiere vergleichen, so ist einer der Punkte, die uns zuerst auffallen, dass sie im Allgemeinen mehr von einander abweichen, als die Individuen irgend einer Art oder Varietät im Naturzustande. Erwägen wir nun die ungeheure Verschiedenartigkeit der Pflanzen und Tiere, welche kultiviert und domestiziert worden sind und welche zu allen Zeiten unter den verschiedensten Klimaten und Behandlungsweisen abgeändert haben, so werden wir zum Schlusse gedrängt, dass diese große Veränderlichkeit unserer Kulturerzeugnisse die Wirkung davon ist, dass die Lebensbedingungen minder einförmig und von denen der natürlichen Stammarten etwas abweichend gewesen sind. Auch hat, wie mir scheint, ANDREW KNIGHT's Meinung, dass diese Veränderlichkeit zum Teil mit Überfluss an Nahrung zusammenhänge, einige Wahrscheinlichkeit für sich. Es scheint ferner klar zu sein, dass die organischen Wesen einige Generationen hindurch den neuen Lebensbedingungen ausgesetzt sein müssen, um ein merkliches Maß von Veränderung an ihnen auftreten zu lassen, und dass, wenn ihre Organisation einmal abzuändern begonnen hat, sie gewöhnlich durch viele Generationen abzuändern fortfährt. Man kennt keinen Fall, dass ein veränderlicher Organismus im Kulturzustande aufgehört hätte zu variieren. Unsere ältesten Kulturpflanzen, wie der Weizen z.B., geben noch immer neue Varietäten, und unsere ältesten Haustiere sind noch immer rascher Umänderung und Veredelung fähig.

Soviel ich nach langer Beschäftigung mit dem Gegenstande zu urteilen vermag, scheinen die Lebensbedingungen auf zweierlei Weise zu wirken: direkt auf den ganzen Organismus oder nur auf gewisse Teile, und indirekt durch Affektion der Reproduktionsorgane. In Bezug auf die direkte Einwirkung müssen wir im Auge behalten, dass in jedem Falle, wie Professor WEISMANN vor Kurzem betont hat und wie ich in meinem Buche, ›das Variieren im Zustande der Domestikation‹ gelegentlich gezeigt habe, zwei Faktoren tätig sind: nämlich die Natur des Organismus und die Natur der Bedingungen. Das erstere scheint bei weitem das Wichtigere zu sein. Denn nahezu ähnliche Variationen entstehen zuweilen, soviel sich urteilen lässt, unter unähnlichen Bedingungen; und auf der andern Seite treten unähnliche Abänderungen unter Bedingungen auf, welche nahezu gleichförmig zu sein scheinen. Die Wirkungen auf die Nachkommen sind entweder bestimmte oder unbestimmte. Sie können als bestimmte angesehen werden, wenn alle oder beinahe alle Nachkommen von Individuen, welche während mehrerer Generationen gewissen Bedingungen ausgesetzt gewesen sind, in demselben Maße modifiziert werden. Es ist außerordentlich schwierig, in Bezug auf die Ausdehnung der Veränderungen, welche in dieser Weise bestimmt herbeigeführt worden sind, zu irgend einem Schlusse zu gelangen. Kaum ein Zweifel kann indes über viele unbedeutende Abänderungen bestehen: wie Größe in Folge der Menge der Nahrung, Farbe in Folge der Art der Nahrung, Dicke der Haut und des Haares in Folge des Klimas u.s.w. Jede der endlosen Varietäten, welche wir im Gefieder unserer Hühner sehen, muss ihre bewirkende Ursache gehabt haben: und wenn eine und dieselbe Ursache gleichmäßig eine lange Reihe von Generationen hindurch auf viele Individuen einwirken würde, so würden auch wahrscheinlich alle in derselben Art modifiziert werden. Solche Tatsachen, wie die komplizierten und außerordentlichen Auswüchse, welche unveränderlich der Einimpfung eines minutiösen Tröpfchens Gift von einem Gall-Insekt folgen, zeigen uns, was für eigentümliche Modifikationen bei Pflanzen aus einer chemischen Änderung in der Natur des Saftes resultieren können.

Unbestimmte Variabilität ist ein viel häufigeres Resultat veränderter Bedingungen als bestimmte Variabilität und hat wahrscheinlich bei der Bildung unserer Kulturrassen eine bedeutungsvollere Rolle gespielt. Wir finden unbestimmte Variabilität in den endlosen unbedeutenden Eigentümlichkeiten, welche die Individuen einer und derselben Art unterscheiden und welche nicht durch Vererbung von einer der beiden elterlichen Formen oder von irgend einem entfernteren Vorfahren erklärt werden können. Selbst stark markierte Verschiedenheiten treten gelegentlich unter den Jungen einer und derselben Brut auf und bei Sämlingen aus derselben Frucht. In langen Zeiträumen erscheinen unter Millionen von Individuen, welche in demselben Lande erzogen und mit beinahe gleichem Futter ernährt wurden, so stark ausgesprochene Strukturabweichungen, dass sie Monstrositäten genannt zu werden verdienen; Monstrositäten können aber durch keine bestimmte Trennungslinie von leichteren Abänderungen geschieden werden. Alle derartigen Strukturveränderungen, mögen sie nun äußerst unbedeutend oder scharf markiert sein, welche unter vielen zusammenlebenden Individuen erscheinen, können als die unbestimmten Einwirkungen der Lebensbedingungen auf einen jeden individuellen Organismus angesehen werden, in beinahe derselben Weise, wie eine Erkältung verschiedene Menschen nicht in einer bestimmten Weise affiziert, indem sie je nach dem Zustande ihres Körpers oder ihrer Konstitution Husten oder Schnupfen, Rheumatismus oder Entzündung verschiedener Organe verursacht.

In Bezug auf das, was ich indirekte Wirkung veränderter Bedingungen genannt habe, nämlich Abänderungen durch Affektion des Fortpflanzungssystems, können wir folgern, dass hierbei die Variabilität zum Teil Folge der Tatsache ist, dass dieses System äußerst empfindlich gegen jede Veränderung der Bedingungen ist, zum Teil hervorgerufen wird durch die Ähnlichkeit, welche, wie KÖLREUTER und andere bemerkt haben, zwischen der einer Kreuzung bestimmter Arten folgenden und der bei allen unter neuen und unnatürlichen Bedingungen aufgezogenen Pflanzen und Tieren beobachteten Variabilität besteht. Viele Tatsachen beweisen deutlich, wie außerordentlich empfänglich das Reproduktivsystem für sehr geringe Veränderungen in den umgebenden Bedingungen ist. Nichts ist leichter, als ein Tier zu zähmen, und wenige Dinge sind schwieriger, als es in der Gefangenschaft zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu bringen, selbst wenn die Männchen und Weibchen bis zur Paarung kommen. Wie viele Tiere wollen sich nicht fortpflanzen, obwohl sie schon lange fast frei in ihrem Heimatlande leben! Man schreibt dies gewöhnlich, aber irrtümlich, einem entarteten Instinkte zu. Viele Kulturpflanzen gedeihen in der äußersten Kraftfülle, und setzen doch nur sehr selten oder auch nie Samen an! In einigen wenigen solchen Fällen hat man entdeckt, dass eine ganz unbedeutende Veränderung, wie etwas mehr oder weniger Wasser zu einer gewissen Zeit des Wachstums, für oder gegen die Samenbildung entscheidend wird. Ich kann hier nicht in die zahlreichen Einzelnheiten eingehen, die ich über diese merkwürdige Frage gesammelt und an einem andern Orte veröffentlicht habe; um aber zu zeigen, wie eigentümlich die Gesetze sind, welche die Fortpflanzung der Tiere in Gefangenschaft bedingen, will ich erwähnen, dass Raubtiere selbst aus den Tropengegenden sich bei uns auch in Gefangenschaft ziemlich gern fortpflanzen, mit Ausnahme jedoch der Sohlengänger oder der Familie der bärenartigen Säugetiere, welche nur selten Junge erzeugen; wogegen fleischfressende Vögel nur in den seltensten Fällen oder fast niemals fruchtbare Eier legen. Viele ausländische Pflanzen haben ganz wertlosen Pollen, genau in demselben Zustande, wie die unfruchtbarsten Bastardpflanzen. Wenn wir auf der einen Seite Haustiere und Kulturpflanzen oft selbst in schwachem und krankem Zustande sich in der Gefangenschaft ganz ordentlich fortpflanzen sehen, während auf der andern Seite jung eingefangene Individuen, vollkommen gezähmt, langlebig und kräftig (wovon ich viele Beispiele anführen kann), aber in ihrem Reproduktivsysteme in Folge nicht wahrnehmbarer Ursachen so tief affiziert erscheinen, dass dasselbe nicht fungiert, so dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass dieses System, wenn es wirklich in der Gefangenschaft in Tätigkeit tritt, dann in nicht ganz regelmäßiger Weise fungiert und eine Nachkommenschaft erzeugt, welche von den Eltern etwas verschieden ist. Ich will noch hinzufügen, dass, wie einige Organismen (wie die in Kästen gehaltenen Kaninchen und Frettchen) sich unter den unnatürlichsten Verhältnissen fortpflanzen (was nur beweist, dass ihre Reproduktionsorgane nicht affiziert sind), So auch einige Tiere und Pflanzen der Domestikation oder Kultur widerstehen und nur sehr gering, vielleicht kaum stärker als im Naturzustande, variieren.

Mehrere Naturforscher haben behauptet, dass alle Abänderungen mit dem Akte der sexuellen Fortpflanzung zusammenhängen. Dies ist aber sicher ein Irrtum; denn ich habe in einem andern Werke eine lange Liste von Spielpflanzen (Sporting plants) mitgeteilt; Gärtner nennen Pflanzen so, welche plötzlich eine einzelne Knospe produzierten, welche einen neuen und von dem der übrigen Knospen derselben Pflanze oft sehr abweichenden Charakter annehmen. Solche Knospenvariationen wie man sie nennen kann, kann man durch Pfropfen, Senker u.s.w., zuweilen auch mittels Samen fortpflanzen. Sie kommen in der Natur selten, im Kulturzustande aber durchaus nicht selten vor. Wie man weiß, dass eine einzelne Knospe unter den vielen tausenden Jahr auf Jahr unter gleichförmigen Bedingungen auf demselben Baume entstehenden plötzlich einen neuen Charakter annimmt und dass Knospen auf verschiedenen Bäumen, welche unter verschiedenen Bedingungen wachsen, zuweilen beinahe die gleiche Varietät hervorgebracht haben, — z.B. Knospen auf Pfirsichbäumen, welche Nektarinen erzeugen, und Knospen auf gewöhnlichen Rosen, welche Moosrosen hervorbringen, — so sehen wir auch offenbar, dass die Natur der Bedingungen für die Bestimmung der besondern Form der Abänderung von völlig untergeordneter Bedeutung ist im Vergleich zur Natur des Organismus, und vielleicht von nicht mehr Bedeutung als die Natur des Funkens für die Bestimmung der Art der Flammen ist, wenn er eine Maße brennbarer Stoffe entzündet.


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