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Individuelle Verschiedenheiten
Die vielen geringen Verschiedenheiten, welche oft unter den Abkömmlingen von einerlei Eltern vorkommen, oder unter solchen, von denen man einen derartigen Ursprung annehmen darf, kann man individuelle Verschiedenheiten nennen, da sie bei Individuen der nämlichen Art beobachtet werden, welche auf begrenztem Raume nahe beisammen wohnen. Niemand glaubt, dass alle Individuen einer Art faktisch genau nach einem und demselben Modell gebildet seien. Diese individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade von der größten Bedeutung für uns, weil sie oft vererbt werden, wie schon Jedermann zu beobachten Gelegenheit gehabt haben muss; hierdurch liefern sie der natürlichen Zuchtwahl Material zur Einwirkung und zur Häufung, in der nämlichen Weise wie der Mensch in seinen kultivierten Rassen individuelle Verschiedenheiten in irgend einer gegebenen Richtung häuft. Diese individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in den Augen des Naturforschers unwesentlichen Teile; ich könnte jedoch aus einer langen Liste von Tatsachen nachweisen, dass auch Teile, die man als wesentliche bezeichnen muss, mag man sie von physiologischem oder von klassifikatorischem Gesichtspunkte aus betrachten, zuweilen bei den Individuen von einerlei Arten variieren. Ich bin überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt sein würden über die Menge von Fällen von Variabilität sogar in wichtigen Teilen des Körpers, die sie nach glaubwürdigen Autoritäten zusammenbringen könnten, wie ich sie im Laufe der Jahre zusammengetragen habe. Man muss sich aber dabei noch erinnern, dass die Systematiker durchaus nicht erfreut sind, Veränderlichkeit in wichtigen Charakteren zu entdecken, und dass es nicht viele gibt, welche mühsam innere wichtige Organe untersuchen und in vielen Exemplaren einer und der nämlichen Art miteinander vergleichen. So würde man nimmer erwartet haben, dass die Verzweigungen der Hauptnerven dicht am großen Zentralnervenknoten eines Insektes in einer und derselben Spezies abändern könnten, sondern vielmehr gedacht haben, Veränderungen dieser Art könnten nur langsam und stufenweise hervorgebracht worden sein. Und doch hat Sir JOHN LUBBOCK kürzlich bei Kokkus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Hauptnerven nachgewiesen, welcher beinahe an die unregelmäßige Verzweigung eines Baumstammes erinnert. Ebenso hat dieser ausgezeichnete Naturforscher, wie ich hinzufügen will, kürzlich gezeigt, dass die Muskeln in den Larven gewisser Insekten von Gleichförmigkeit weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem Kreise, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe niemals variieren; denn diese selben Schriftsteller zählen in der Praxis diejenigen Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug sind, zu gestehen), welche nicht variiern, und unter dieser Voraussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel angeführt werden von einem wichtigen Organe, welches variiere; aber von jedem andern Gesichtspunkte aus lassen sich deren ganz sicher viele aufzählen.
Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein anderer Punkt in Verbindung, welcher äußerst verwirrend ist: ich meine die Gattungen, welche man »protëische« oder »polymorphe« genannt hat, weil deren Arten einen ganz außergewöhnlichen Grad von Veränderlichkeit zeigen. In Bezug auf viele dieser Formen stimmen kaum zwei Naturforscher darüber miteinander überein, ob dieselben als Arten oder als Varietäten zu betrachten seien. Ich will Rubus, Rosa und Hieracium unter den Pflanzen, mehrere Insekten und Brachiopodengenera unter den Tieren als Beispiele anführen. In den meisten dieser polymorphen Gattungen haben einige Arten feste und bestimmte Charaktere. Gattungen, welche in einer Gegend polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen auch in anderen Gegenden zu sein, und es auch, nach den Brachiopoden zu urteilen, in früheren Zeiten gewesen zu sein. Diese Tatsachen nun sind insofern sehr auffallend, als sie zu zeigen scheinen, dass diese Art von Veränderlichkeit von den Lebensbedingungen unabhängig ist. Ich bin zu vermuten geneigt, dass wir wenigstens bei einigen dieser polymorphen Gattungen solche Abänderungen vor uns haben, welche der Spezies weder nützlich noch schädlich sind und welche daher bei der natürlichen Zuchtwahl nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nachher erläutert werden soll.
Individuen einer und derselben Art bieten oft, wie allgemein bekannt ist, unabhängig von einer Variation große Verschiedenheiten der Struktur dar, wie die beiden Geschlechter mancher Tiere, wie die zwei oder drei Formen steriler Weibchen oder Arbeiter bei Insekten, wie die unreifen oder Larvenzustände vieler niederen Tiere. Es gibt auch noch andere Fälle von Dimorphismus und Trimorphismus sowohl bei Pflanzen als bei Tieren. So hat WALLACE, der vor Kurzem die Aufmerksamkeit besonders auf diesen Gegenstand gelenkt hat, gezeigt, dass die Weibchen gewisser Schmetterlingsarten im Malayischen Archipel regelmäßig unter zwei oder selbst drei auffallend verschiedenen Formen auftreten, welche nicht durch intermediäre Varietäten verbunden werden. Neuerlich hat FRITZ MÜLLER analoge, aber noch außerordentlichere Fälle von den Männchen gewisser brasilianischer Krustazeen beschrieben; so kommt das Männchen einer Tanais regelmäßig unter zwei weit von einander verschiedenen Formen vor, das eine hat viel stärkere und verschieden geformte Scheeren, das andere mit viel reichlicher entwickelten Riechhaaren versehene Antennen. Obgleich nun aber in den meisten von diesen Fällen die dimorphen und trimorphen Formen, sowohl bei Tieren als bei Pflanzen, jetzt durch keine Zwischenglieder zusammenhängen, so ist es doch wahrscheinlich, dass sie einmal so zusammengehangen haben. WALLACE beschreibt z.B. einen Schmetterling, der auf einer und derselben Insel eine große Reihe durch Zwischenglieder verbundener Varietäten darbietet und die äußersten Glieder dieser Reihe gleichen sehr den beiden Formen einer verwandten dimorphen Art, welche auf einem andern Teile des Malayischen Archipels vorkömmt. Dasselbe gilt für Ameisen; die verschiedenen Arbeiterformen sind gewöhnlich völlig verschieden: in manchen Fällen aber werden, wie wir später sehen werden, die verschiedenen Formen durch fein abgestufte Varietäten miteinander verbunden. Es erscheint allerdings zuerst als eine höchst merkwürdige Tatsache, dass derselbe weibliche Schmetterling das Vermögen haben sollte, gleichzeitig drei weibliche und eine männliche Form zu erzeugen; dass eine Zwitterpflanze aus derselben Samenkapsel drei verschiedene Zwitterformen erzeugen sollte, welche drei verschiedene Formen Weibchen und drei oder selbst sechs verschiedene Formen Männchen enthalten. Nichtsdestoweniger sind aber diese Fälle nur beinahe übertrieben zu nennende Belege für jene allgemeine Tatsache, dass jedes weibliche Tier Männchen und Weibchen hervorbringt, die in einigen Fällen in so wunderbarer Weise von einander verschieden sind.