Variabilität


Ehe wir die Grundsätze, zu welchen wir im vorigen Kapitel gelangt sind, auf die organischen Wesen im Naturzustande anwenden, müssen wir kurz untersuchen, ob diese letzten irgendwie veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand nur einigermaßen eingehend zu behandeln, müsste ich ein langes Verzeichnis trockener Tatsachen geben; doch will ich diese für ein künftiges Werk versparen. Auch will ich hier nicht die verschiedenen Definitionen erörtern, welche man von dem Worte »Spezies« gegeben hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt; doch weiß jeder Naturforscher ungefähr, was er meint, wenn er von einer Spezies spricht. Allgemein schließt die Bezeichnung das unbekannte Element eines besondern Schöpfungsaktes ein. Der Ausdruck »Varietät« ist fast eben so schwer zu definieren; Gemeinsamkeit der Abstammung ist indes hier meistens einbedungen, obwohl sie selten bewiesen werden kann. Auch finden sich Formen, die man Monstrositäten nennt; sie gehen aber stufenweise in Varietäten über. Unter einer »Monstrosität« versteht man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung der Struktur, welche der Art meistens nachtheilig oder doch nicht nützlich ist. Einige Schriftsteller gebrauchen noch den Ausdruck »Variation« in einem technischen Sinne, um Abänderungen zu bezeichnen, welche direkte Folge äußerer Lebensbedingungen sind, und die »Variationen« dieser Art gelten nicht für erblich. Wer kann indessen behaupten, dass die zwerghafte Beschaffenheit der Konchylien im Brackwasser der Ostsee, oder die Zwergpflanzen auf den Höhen der Alpen, oder der dichtere Pelz eines Tieres in höheren Breiten nicht in einigen Fällen auf wenigstens einige Generationen vererbt werden? und in diesem Falle würde man, glaube ich, die Form eine »Varietät« nennen.

Es mag wohl zweifelhaft sein, ob plötzliche und große Abweichungen der Struktur, wie wir sie gelegentlich bei unseren domestizierten Rassen, zumal unter den Pflanzen, auftauchen sehen, im Naturzustande je dauernd fortgepflanzt werden. Fast jeder Teil eines jeden organischen Wesens steht in einer so schönen Beziehung zu seinen komplizierten Lebensbedingungen, dass es eben so unwahrscheinlich scheint, dass irgend ein Teil auf einmal in seiner ganzen Vollkommenheit erschienen sei, wie dass ein Mensch irgend eine zusammengesetzte Maschine sogleich in vollkommenem Zustande erfunden habe. Im domestizierten Zustande kommen oft Monstrositäten vor, welche normalen Bildungen in sehr verschiedenen Tieren ähnlich sind. So sind oft Schweine mit einer Art Rüssel geboren worden. Wenn nun irgend eine wilde Art der Gattung Schwein von Natur einen Rüssel besessen hätte, so hätte man schließen können, dass derselbe plötzlich als Monstrosität erschienen sei. Es ist mir aber bis jetzt nach eifrigem Suchen nicht gelungen, Fälle zu finden, wo Monstrositäten normalen Bildungen bei nahe verwandten Formen ähnlich wären; und nur solche haben Bezug auf vorliegende Frage. Treten monströse Formen dieser Art je im Naturzustande auf und sind sie fällig, sich fortzupflanzen (was nicht immer der Fall ist), so würde, da sie nur selten und einzeln vorkommen, ihre Erhaltung von ungewöhnlich günstigen Umständen abhängen. Sie würden sich auch in der ersten und den folgenden Generationen mit der gewöhnlichen Form kreuzen und würden auf diese Weise fast unvermeidlich ihren abnormen Charakter verlieren. Ich werde aber in einem spätern Kapitel auf die Erhaltung und Fortpflanzung einzelner und gelegentlicher Abänderungen zurückzukommen haben.


 © textlog.de 2004 • 05.11.2024 09:00:40 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.08.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright