7. Kapitel

Der Gesetzgeber

 

Als Lykurg seinem Vaterlande Gesetze gab, legte er zunächst die königliche Würde nieder. Bei der Mehrzahl der griechischen Städte war es Sitte, Fremden die Abfassung ihrer Gesetze anzuvertrauen. Die neueren Republiken Italiens ahmten diesen Gebrauch oft nach; auch Genf befolgte ihn und befand sich dabei wohl. Rom sah während seines schönsten Zeitalters alle Verbrechen der Tyrannei in seinem Schoße aufs neue erwachen und sich nahe am Untergange, weil es die gesetzgebende und oberherrliche Gewalt in denselben Händen vereinigt hatte.

Gleichwohl maßten sich selbst die Dezemvirn nie das Recht an, allein aus eigener Machtvollkommenheit irgendein Gesetz zu erlassen. »Keiner unserer Vorschläge«, sagten sie zum Volke, »kann ohne eure Genehmigung Gesetzeskraft erhalten. Römer, seid selbst die Urheber der Gesetze, die zu eurem Glücke führen sollen!«

Der Verfasser der Gesetze hat demnach keine gesetzgebende Berechtigung oder sollte sie doch nicht haben, und das Volk kann, selbst es wollte, auf dieses nicht übertragbare Recht auf keinen Fall verzichten, weil nach dem Urvertrage nur der allgemeine Wille die einzelnen verpflichtet und es sich erst nach der freien Abstimmung des Volkes mit Sicherheit bestimmen lässt, ob der Wille des einzelnen mit dem allgemeinen in Einklang ist. Obgleich ich dies bereits gesagt habe, ist es doch zweckmäßig, es zu wiederholen.

Demzufolge findet man in dem Werke der Gesetzgebung zwei scheinbar unvereinbare Dinge vereint; ein die menschliche Kraft übersteigendes Unternehmen und zu seiner Ausführung eine Macht, die gleich Null ist.

Hierzu tritt noch eine andere Schwierigkeit, die ebenfalls Beachtung verdient. Die Weisen, die sich dem Volke gegenüber ihrer eigenen Sprache statt der seinigen bedienen wollen, würden unfähig sein, sich ihm verständlich zu machen. Tausenderlei Begriffe lassen sich aber nie in die Sprache des Volkes übertragen. Allzu allgemeine Gesichtspunkte und allzu entfernte Ziele übersteigen in gleicher Weise seine Fassungskraft. Da jedem einzelnen nur der auf sein Privatinteresse abzielende Regierungsplan zusagt, so sieht er sehr schwer ein, welche Vorteile er aus den durch gute Gesetze ihm auferlegten beständigen Beraubungen gewinnen soll. Damit ein im Entstehen begriffenes Volk Gefallen an den gesunden Grundsätzen der Staatskunst finden und die Grundregeln des Staatsrechtes befolgen könnte, wäre es nötig, dass die Wirkung zur Ursache würde, dass der gesellschaftliche Geist, der das Werk der Verfassung sein soll, selbst den Vorsitz in der Verfassung führen sollte, und dass die Menschen schon vor dem Bestehen der Gesetze das wären, was sie erst durch dieselben werden sollen. Da nun also der Gesetzgeber weder Gewalt noch Urteilskraft anwenden kann, so muss er notwendigerweise zu einer anerkannten Macht einer anderen Rangstufe, die ohne Zwang hinzureißen und ohne zu überzeugen, doch zu überreden vermag, seine Zuflucht nehmen.

Das war es, was die Väter der Nationen zu allen Zeiten zwang, zu einer Vermittlung des Himmels Zuflucht zu nehmen und die Götter aus eigener Klugheit zu ehren, damit die Menschen, die sowohl den Gesetzen des Staates wie denen der Natur unterworfen sind und dieselbe Macht in der Bildung des Menschen wie in der des Staates anerkennen, freiwillig gehorchen und das Joch des Staatsglückes gelehrig tragen möchten.

Diese höhere Einsicht, die sich über den Gesichtskreis der gewöhnlichen Menschen erhebt, ist es, deren Entscheidungen der Gesetzgeber den Unsterblichen in den Mund legt, um solche, die sich durch menschliche Klugheit nicht erschüttern ließen, durch das göttliche Ansehen mit fortzureißen. Allein es ist nicht jedermanns Sache, die Götter reden zu lassen oder Glauben zu finden, wenn er sich für ihren Dolmetscher ausgibt. Die erhabene Seele des Gesetzgebers ist das einzige Wunder, das seine Sendung beweisen muss. Jeder kann Gebote auf steinerne Tafeln eingraben oder ein Orakel erkaufen oder einen geheimen Umgang mit irgendeiner Gottheit vorgeben oder einen Vogel abrichten, ihm etwas in das Ohr zu zwitschern, oder andere plumpe Mittel zur Täuschung des Volkes erfinden. Wer sich nur auf dergleichen versteht, kann aus Zufall wohl einen Haufen Narren um sich sammeln, wird aber nie ein Reich gründen, und sein abenteuerliches Werk wird mit ihm bald zugrunde gehen. Nichtige Gaukeleien bilden kein haltbares Band, nur die Klugheit macht es dauerhaft. Das jüdische Gesetz, das noch immer besteht, wie der Islam, der seit zehn Jahrhunderten die halbe Welt regiert, geben noch heutzutage die Größe ihrer Stifter zu erkennen, und während philosophischer Stolz oder blinder Parteigeist in ihnen nur glückliche Betrüger erblickt, bewundert der wahre Staatsmann in ihren Verfassungen den großen und gewaltigen Geist, der dauerhafte Einrichtungen ins Leben ruft.

Man braucht aus allem diesem noch nicht mit Warburton zu schließen, dass bei uns Politik und Religion einen gemeinsamen Zweck haben, sondern nur, dass beim Entstehen der Völker die eine der andern als Werkzeug dient.

 


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