Übergangsweisen
Liesse sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung nicht möglicherweise durch zahlreiche kleine aufeinanderfolgende Modifikationen hätte erfolgen können, so müsste meine Theorie unbedingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall aufzufinden. Zweifelsohne bestehen viele Organe, deren Vervollkommnungsstufen wir nicht kennen, insbesondere bei sehr vereinzelt stehenden Arten, deren verwandte Formen nach meiner Theorie in weitem Umkreise erloschen sind. So muss auch, wo es sich um ein allen Gliedern einer großen Klasse gemeinsames Organ handelt, dieses Organ schon in einer sehr frühen Vorzeit gebildet worden sein, seit welcher sich erst alle Glieder dieser Klasse entwickelt haben; und wenn wir die frühesten Übergangsstufen entdecken wollen, welche das Organ durchlaufen hat, so müssten wir uns bei den frühesten Anfangsformen umsehen, welche jetzt schon längst wieder erloschen sind.
Wir sollten äußerst vorsichtig sein mit der Behauptung, ein Organ habe nicht durch stufenweise Veränderungen irgend einer Art gebildet werden können. Man könnte zahlreiche Fälle anführen, wie bei den niederen Tieren ein und dasselbe Organ zu derselben Zeit ganz verschiedene Verrichtungen besorgt; athmet doch und verdaut und excerniert der Nahrungskanal in der Larve der Libellen wie in dem Fische Cobitis. Wendet man die Hydra wie einen Handschuh um, das Innere nach außen, so verdaut die äußere Oberfläche und die innere atmet. In solchen Fällen könnte die natürliche Zuchtwahl das ganze Organ oder einen Teil desselben, welches bisher zweierlei Verrichtungen gehabt hat, ausschließlich nur für einen der beiden Zwecke spezialisieren und so in unmerklichen Schritten die ganze Natur des Organes allmählich umändern, wenn damit irgend ein Vorteil erreicht würde. Es sind viele Fälle von Pflanzen bekannt, welche regelmäßig zu einer und derselben Zeit verschieden gebildete Blüten produzieren; sollten derartige Pflanzen nur eine Form hervorbringen, so würde verhältnismäßig eine große Veränderung in ihrem spezifischen Charakter eintreten. Es ist indessen wahrscheinlich, dass die zwei Arten von Blüten auf derselben Pflanze ursprünglich durch fein graduierte Abstufungen hervorgebracht worden sind, welche in einigen Fällen noch verfolgt werden können.
Ferner verrichten zuweilen zwei verschiedene Organe oder ein und dasselbe Organ unter zwei sehr verschiedenen Formen gleichzeitig einerlei Funktion in demselben Individuum, und dies ist ein äußerst wichtiges Übergangsmittel. So gibt es, um ein Beispiel anzuführen, Fische mit Kiemen, womit sie die im Wasser verteilte Luft einathmen, während sie zu gleicher Zeit atmosphärische Luft mit ihrer Schwimmblase athmen, welches Organ zu dem Ende durch einen Luftgang mit dem Schlunde verbunden und innerlich von sehr gefässreichen Zwischenwänden durchzogen ist. Um noch ein anderes Beispiel aus dem Pflanzenreich zu geben: Pflanzen klettern durch drei verschiedene Mittel, durch eine Spirale Windung, durch Ergreifen von Stützen mittelst ihrer empfindlichen Banken und durch die Emission von Luftwurzeln; diese drei Mittel findet man gewöhnlich in besonderen Gattungen oder Familien; einige wenige Pflanzen bieten aber zwei oder selbst alle drei Mittel in demselben Individuum vereint dar. In allen solchen Fällen kann das eine der beiden dieselbe Funktion vollziehenden Organe leicht verändert und so vervollkommnet werden, dass es immer mehr die ganze Arbeit allein übernimmt, wobei es während dieses Modifikationsprozesses durch das andere Organ unterstützt wird; und dann kann das andere entweder zu einer neuen und ganz verschiedenen Bestimmung modifiziert werden oder gänzlich verkümmern.
Das Beispiel von der Schwimmblase der Fische ist sehr belehrend, weil es uns die hochwichtige Tatsache zeigt, wie ein ursprünglich zu einem besonderen Zwecke, zum Flottieren, gebildetes Organ für eine ganz andere Verrichtung umgeändert werden kann, und zwar für die Athmung. Auch ist die Schwimmblase als ein accessorischer Teil für das Gehörorgan mancher Fische mitverarbeitet worden. Alle Physiologen geben zu, dass die Schwimmblase in Lage und Struktur den Lungen höherer Wirbeltiere »homolog« oder »ideell gleich« sei; daher ist kein Grund vorhanden, daran zu zweifeln, dass die Schwimmblase wirklich in eine Lunge oder in ein ausschließlich zum Athmen benutztes Organ verwandelt worden sei.
Nach dieser Ansicht kann man wohl schließen, dass alle Wirbeltiere mit echten Lungen auf dem Wege der gewöhnlichen Fortpflanzung von einer alten unbekannten Urform abstammen, welche mit einem Schwimmapparat oder einer Schwimmblase versehen war. So mag man sich, wie ich aus Professor OWEN's interessanter Beschreibung dieser Teile entnehme, die sonderbare Tatsache erklären, wie es komme, dass jedes Teilchen von Speise und Trank, das wir zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten muss, mit einiger Gefahr, in die Lungen zu fallen, der sinnreichen Einrichtung ungeachtet, wodurch der Kehldeckel die Stimmritze schließt. Bei den höheren Wirbeltieren sind die Kiemen gänzlich verschwunden, aber die Spalten an den Seiten des Halses und der bogenförmige Verlauf der Arterien deuten in dem Embryo noch ihre frühere Stelle an. Doch ist es begreiflich, dass die jetzt gänzlich verschwundenen Kiemen durch natürliche Zuchtwahl zu einem ganz andern Zwecke umgearbeitet worden sind; so hat z.B. LANDOIS gezeigt, dass sich die Flügel der Insekten von den Tracheen aus entwickeln; es ist daher in hohem Grade wahrscheinlich, dass in dieser großen Klasse Organe, die einst zur Athmung gedient haben, jetzt faktisch zu Flugorganen umgewandelt worden sind.
Was die Übergangsstufen der Organe betrifft, so ist es so wichtig, sich mit der Wahrscheinlichkeit einer Umwandlung einer Funktion in die andere vertraut zu machen, dass ich noch ein weiteres Beispiel anführen will. Die gestielten Cirripeden haben zwei kleine Hautfalten, von mir Eierzügel genannt, welche bestimmt sind, mittelst einer klebrigen Absonderung die Eier festzuhalten, bis sie im Eiersack ausgebrütet sind. Diese Bankenfüßler haben keine Kiemen, indem die ganze Oberfläche des Körpers und Sackes mit Einschluss der kleinen Zügel zur Athmung dient. Die Balaniden oder sitzenden Cirripeden dagegen haben keine solchen eiertragenden Zügel oder Frena, indem die Eier lose auf dem Grunde des Sackes in der gut verschlossenen Schale liegen; aber sie haben in derselben relativen Lage wie die Frena große stark gefaltete Membranen, welche mit den Kreislauflacunen des Sacks und des Körpers frei kommunicieren und von allen Forschern für Kiemen erklärt worden sind. Nun denke ich, wird Niemand bestreiten, dass die Eierzügel der einen Familie streng homolog mit den Kiemen der anderen sind, wie sie denn auch in der Tat stufenweise ineinander übergehen. Daher darf man nicht bezweifeln, dass die beiden kleinen Hautfalten, welche ursprünglich als Eierzügel gedient haben, welche aber auch in geringerem Grade schon bei der Athmung mitwirkten, durch natürliche Zuchtwahl stufenweise in Kiemen verwandelt worden sind bloß durch Zunahme ihrer Größe bei gleichzeitiger Verkümmerung ihrer adhäsiven Drüsen. Wären alle gestielten Girripeden erloschen (und sie haben bereits mehr Vertilgung erfahren als die sitzenden): wer hätte sich je denken können, dass die Athmungsorgane der Balaniden ursprünglich den Zweck gehabt hätten, die zu frühzeitige Ausführung der Eier aus dem Eiersacke zu verhindern?
Es gibt noch eine andere mögliche Art des Übergangs, nämlich die Beschleunigung oder Verlangsamung der Reproduktionsperiode. Dies ist vor Kurzem von Prof. COPE und Anderen in den Vereinigten Staaten betont worden. Man weiß jetzt, dass einige Tiere in einem sehr frühen Alter fortpflanzungsfähig sind, ehe sie die Charaktere des vollkommenen Zustandes erlangt haben; und wenn dies Vermögen in einer Spezies durchaus gut entwickelt werden würde, so scheint es wohl wahrscheinlich, dass der erwachsene Entwicklungszustand früher oder später werde verloren werden. In diesem Falle, und besonders wenn die Larve von der reifen Form bedeutend abwiche, würde der Charakter der Spezies sehr verändert und degradiert. Ferner fahren nicht wenig Tiere, noch nachdem sie die Reife erlangt haben, immer fort ihre Charaktere, beinahe während ihres ganzen Lebens, zu ändern. So ändert sich z.B. bei Säugetieren die Form des Schädels häufig mit dem Alter, wofür Dr. MURIE einige auffallende Beispiele von Robben angeführt hat; Jedermann weiß, wie das Geweihe der Hirsche immer mehr und mehr verzweigt wird und wie sich die Schmuckfedern einiger Vögel immer schöner entwickeln, je älter die Tiere werden. Prof. COPE Gibt an, dass die Zähne gewisser Eidechsen mit dem vorschreitenden Alter ihre Form ändern; bei den Krustazeen nehmen nicht bloß viele bedeutungslose, sondern auch einige wichtige Teile, wie FRITZ MÜLLER geschildert hat, nach der Reife eine neue Beschaffenheit an. In allen solchen Fällen - und es ließen sich noch viele anführen - würde, wenn das Eintreten des fortpflanzungsfähigen Alters verzögert würde, der Charakter der Spezies, wenigstens in ihrem erwachsenen Zustande, modifiziert werden; auch ist es nicht unwahrscheinlich, dass die vorausgehenden früheren Entwicklungsstufen in manchen Fällen durcheilt und schließlich verloren würden. Ob Spezies häufig oder ob überhaupt jemals durch diese vergleichsweise plötzliche Art des Übergangs modifiziert worden sind, darüber kann ich mir keine Meinung bilden; wenn es aber vorgekommen ist, so werden wahrscheinlich die Verschiedenheiten zwischen den Jungen und den Erwachsenen und zwischen den Erwachsenen und den Alten ursprünglich in allmählichen Abstufungen erlangt worden sein.