Organe von anscheinend geringer Wichtigkeit von der natürlichen Zuchtwahl beeinflusst


Da die natürliche Zuchtwahl mit Leben und Tod arbeitet, indem sie nämlich die passendsten Individuen am Leben erhält und die weniger gut angepassten unterdrückt, so schien mir manchmal der Ursprung oder die Bildung von Teilen geringer Bedeutung sehr schwer zu begreifen. Diese Schwierigkeit, obwohl von ganz anderer Art, schien mir manchmal beinahe eben so groß zu sein, wie die hinsichtlich der vollkommensten und zusammengesetztesten Organe.

Erstens wissen wir viel zu wenig von dem ganzen Haushalte irgend eines organischen Wesens, um sagen zu können, welche geringe Modifikationen für dasselbe wichtig sein können und welche nicht wichtig sind. In einem frühern Kapitel habe ich Beispiele von sehr geringfügigen Charakteren, wie den Flaum der Früchte und die Farbe ihres Fleisches, wie die Farbe der Haut und Haare einiger Vierfüßer angeführt, welche, insofern sie mit konstitutionellen Verschiedenheiten im Zusammenhang stehen oder auf die Angriffe der Insekten von Einfluss sind, bei der natürlichen Zuchtwahl gewiss mit in Betracht kommen. Der Schwanz der Giraffe sieht wie ein künstlich gemachter Fliegenwedel aus, und es scheint anfangs unglaublich zu sein, dass derselbe seinem gegenwärtigen Zwecke durch kleine aufeinanderfolgende Modifikationen, von denen eine jede einer so unbedeutenden Bestimmung, nämlich Fliegen zu verscheuchen, immer besser und besser angepasst war, hergerichtet worden sein solle. Doch sollten wir uns selbst in diesem Falle hüten uns allzu bestimmt auszusprechen, indem wir ja wissen, dass das Dasein und die Verbreitungsweise des Rindes und anderer Tiere in Süd-Amerika unbedingt von deren Vermögen abhängt, den Angriffen der Insekten zu widerstehen; daher wären Individuen, welche einigermaßen mit Mitteln zur Verteidigung gegen diese kleinen Feinde versehen sind, geschickt, sich über neue Weideplätze zu verbreiten, und würden dadurch große Vorteile erlangen. Nicht als ob große Säugetiere (einige seltene Fälle ausgenommen) wirklich durch Fliegen vertilgt würden; aber sie werden von ihnen so unausgesetzt geplagt und geschwächt, dass sie Krankheiten mehr ausgesetzt werden oder bei eintretender Hungersnot nicht so gut im Stande sind, sich Nahrung zu suchen, oder den Nachstellungen der Raubtiere in weit größerer Anzahl erliegen.

Organe von jetzt unwesentlicher Bedeutung sind wahrscheinlich in manchen Fällen frühen Vorfahren von hohem Werte gewesen und nach früherer langsamer Vervollkommnung in ungefähr demselben Zustande auf deren Nachkommen vererbt worden, obwohl ihr jetziger Nutzen nur noch sehr unbedeutend ist; dagegen werden wirklich schädliche Abweichungen in ihrem Baue durch natürliche Zuchtwahl immer gehindert worden sein. Wenn man beobachtet, was für ein wichtiges Organ der Ortsbewegung der Schwanz für die meisten Wassertiere ist, so lässt sich seine allgemeine Anwesenheit und Verwendung zu mancherlei Zwecken bei so vielen Landtieren, welche durch ihre Lungen oder modifizierten Schwimmblasen ihre Abstammung von Wassertieren verraten, vielleicht daraus erklären. Nachdem einmal ein wohl entwickelter Schwanz bei einem Wassertiere gebildet worden war, kann derselbe später zu den mannigfaltigsten Zwecken umgearbeitet worden sein, zu einem Fliegenwedel, zu einem Greifwerkzeug oder zu einem Mittel schneller Wendung im Laufe, wie es beim Hunde der Fall ist, obwohl die Hülfe in letzterem Falle nur schwach sein mag, indem ja der Hase, fast ganz ohne Schwanz, sich noch schneller zu wenden im Stande ist.


 © textlog.de 2004 • 05.11.2024 09:06:41 •
Seite zuletzt aktualisiert: 31.08.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright