Über die Entwicklungsstufe alter Formen im Vergleich mit den noch lebenden
Wir haben im vierten Kapitel gesehen, dass der Grad der Differenzierung und Spezialisierung der Teile aller organischen Wesen in ihrem reifen Alter den besten bis jetzt aufgestellten Maßstab zur Bemessung der Vollkommenheits- oder Höhenstufe derselben abgibt. Wir haben auch gesehen, dass, da die Specialisierung der Teile ein Vorteil für jedes Wesen ist, die natürliche Zuchtwahl streben wird, die Organisation eines jeden Wesens immer mehr zu spezialisieren und somit, in diesem Sinne genommen, vollkommener und höher zu machen; was jedoch nicht ausschließt, dass noch immer viele Geschöpfe, für einfachere Lebensbedingungen bestimmt, auch ihre Organisation einfach und unverbessert behalten und in manchen Fällen selbst in ihrer Organisation zurückschreiten oder vereinfachen, wobei aber immer derartig zurückgeschrittene Wesen ihren neuen Lebenswegen besser angepasst sind. Auch in einem anderen und allgemeinem Sinne ergibt sich, dass die neuen Arten höhere als ihre Vorfahren werden; denn sie haben im Kampfe ums Dasein alle älteren Formen, mit denen sie in nahe Konkurrenz kommen, aus dem Felde zu schlagen. Wir können daher schließen, dass, wenn in einem nahezu ähnlichen Klima die eocenen Bewohner der Welt in Konkurrenz mit den jetzigen Bewohnern gebracht werden könnten, die ersteren unterliegen und von den letzteren vertilgt werden würden, ebenso wie eine sekundäre Fauna von der eocenen und eine paläozoische von der sekundären überwunden werden würde. Der Theorie der natürlichen Zuchtwahl gemäss müssten demnach die neuen Formen ihre höhere Stellung den alten gegenüber nicht nur durch diesen fundamentalen Beweis ihres Siegs im Kampfe ums Dasein, sondern auch durch eine weiter gediehene Specialisierung der Organe bewähren. Ist dies aber wirklich der Fall? Eine große Mehrzahl der Paläontologen würde dies bejahen; und es scheint, dass man diese Antwort wird für wahr halten müssen, wenn sie auch schwer zu beweisen ist.
Es ist kein gültiger Einwand gegen diesen Schluss, dass gewisse Brachiopoden von einer äußerst weit zurückliegenden geologischen Periode an nur wenig modifiziert worden sind, und dass gewisse Land- und Süsswassermollusken von der Zeit an, wo sie, soweit es bekannt ist, zuerst erschienen, nahezu dieselben geblieben sind. Auch ist es keine unüberwindliche Schwierigkeit, dass Foraminiferen, wie CARPENTER betont hat, selbst von der Laurentischen Formation an in ihrer Organisation keinen Fortschritt gemacht haben; denn einige Organismen müssen eben einfachen Lebensbedingungen angepasst sein, und welche passten hierfür besser, als jene niedrig organisierten Protozoen? Derartige Einwände wie die obigen würden meiner Ansicht verderblich sein, wenn diese einen Fortschritt in der Organisation als wesentliches Moment enthielte. Es würde auch meiner Theorie verderblich sein, wenn z, B. nachgewiesen werden könnte, dass die eben genannten Foraminiferen zuerst während der Laurentischen Epoche, oder die erwähnten Brachiopoden zuerst in der cambrischen Formation aufgetreten wären; denn wenn dies bewiesen würde, so wäre die Zeit nicht hinreichend gewesen, um die Organismen bis zu dem dann erreichten Grade entwickeln zu lassen. Einmal bis zu einem gewissen Punkt fortgeschritten, ist nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl keine Nöthigung vorhanden, den Prozess noch fortdauern zu lassen; dagegen werden sie während jedes folgenden Zeitraumes leicht modifiziert werden müssen, um ihre Stellung im Verhältnis zu den abändernden Lebensbedingungen behaupten zu können. Alle solche Einwände drehen sich um die Frage, ob wir wirklich wissen, wie alt die Welt ist und in welchen Perioden die verschiedenen Lebensformen zuerst erschienen sind; und dies dürfte wohl bestritten werden.
Das Problem, zu entscheiden, ob die Organisation im Ganzen fortgeschritten ist, ist in vieler Hinsicht außerordentlich verwickelt. Der geologische Bericht, schon zu allen Zeiten unvollständig, reicht nicht weit genug zurück, um mit nicht misszuverstehender Klarheit zu zeigen, dass innerhalb der bekannt gewordenen Geschichte der Erde die Organisation große Fortschritte gemacht hat. Sind doch selbst heutzutage, wenn man die Glieder der nämlichen Klasse betrachtet, noch die Naturforscher nicht einstimmig, welche Formen als die höchsten zu betrachten sind. So sehen einige die Selachier oder Haie wegen einiger wichtigen Beziehungen ihrer Organisation zu der der Reptilien als die höchsten Fische an, während Andere die Knochenfische als solche betrachten. Die Ganoiden stehen in der Mitte zwischen den Haien und Knochenfischen. Heutzutage sind diese letzten an Zahl weit vorwaltend, während es vordem nur Haie und Ganoiden gegeben hat; und in diesem Falle wird man sagen, die Fische seien in ihrer Organisation vorwärts geschritten oder zurückgegangen, je nachdem man sie mit dem einen oder dem andern Maßstabe misst. Aber es ist ein hoffnungsloser Versuch, die Stellung von Gliedern ganz verschiedener Typen nach dem Maßstabe der Höhe gegeneinander abzumessen. Wer vermöchte zu sagen, ob ein Tintenfisch höher als die Biene stehe, — als das Insekt, von dem der große Naturforscher v. BAER sagt, dass es in der Tat höher als ein Fisch organisiert sei, wenn auch nach einem andern Typus. In dem verwickelten Kampfe ums Dasein ist es ganz glaublich, dass solche Kruster z.B., welche in ihrer eigenen Klasse nicht sehr hoch stehen, die Cephalopoden, diese vollkommensten Weichtiere, überwinden würden; und diese Kruster, obwohl nicht hoch entwickelt, würden doch sehr hoch auf der Stufenleiter der wirbellosen Tiere stehen, wenn man nach dem entscheidendsten aller Kriterien, dem Gesetze des Kampfes ums Dasein, urteilt. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die es an und für sich hat zu entscheiden, welche Formen die in der Organisation fortgeschrittensten sind, haben wir nicht allein die höchsten Glieder einer Klasse in je zwei verschiedenen Perioden (obwohl dies gewiss eines der wichtigsten oder vielleicht das wichtigste Element bei der Abwägung ist), sondern wir haben alle Glieder, hoch und nieder, in diesen zwei Perioden miteinander zu vergleichen. In einer alten Zeit wimmelte es von vollkommensten sowohl als unvollkommensten Weichtieren, von Cephalopoden und Brachiopoden; während heutzutage diese beiden Ordnungen sehr zurückgegangen und die zwischen ihnen in der Mitte stehenden Klassen mächtig angewachsen sind. Demgemäss haben einige Naturforscher geschlossen, dass die Mollusken vordem höher entwickelt gewesen seien als jetzt; während andere sich für die entgegengesetzte Ansicht auf die gegenwärtige ungeheure Verminderung der Brachiopoden mit um so mehr Gewicht berufen, als auch die noch vorhandenen Cephalopoden, obgleich weniger an Zahl, doch höher als ihre alten Stellvertreter organisiert sind. Wir müssen auch die Proportionalzahlen der oberen und der unteren Klassen der Bevölkerung der ganzen Erde in je zwei verschiedenen Perioden miteinander vergleichen. Wenn es z.B. jetzt 50000 Arten Wirbeltiere gäbe und wir dürften deren Anzahl in irgend einer frühern Periode nur auf 10000 schätzen, so müssten wir diese Zunahme der obersten Klassen, welche zugleich eine große Verdrängung tieferer Formen aus ihrer Stelle bedingte, als einen entschiedenen Fortschritt in der organischen Bildung auf der Erde betrachten. Man ersieht hieraus, wie gering allem Anscheine nach die Hoffnung ist, unter so äußerst verwickelten Beziehungen jemals in vollkommen richtiger Weise die relative Organisationsstufe unvollkommen bekannter Faunen aufeinanderfolgender Perioden in der Erdgeschichte zu beurteilen.
Wir werden diese Schwierigkeit noch richtiger würdigen, wenn wir gewisse jetzt existierende Faunen und Floren ins Auge fassen. Nach der außergewöhnlichen Art zu schließen, in der sich in neuerer Zeit aus Europa eingeführte Erzeugnisse über Neu-Seeland verbreitet und Plätze eingenommen haben, welche doch schon vorher von den eingeborenen Formen besetzt gewesen sein müssen, müssen wir glauben, dass, wenn man alle Pflanzen und Tiere Groß-Britanniens dort frei aussetzte, eine Menge britischer Formen mit der Zeit vollständig daselbst naturalisieren und viele der eingeborenen vertilgen würde. Dagegen dürfte die Tatsache, dass noch kaum ein Bewohner der südlichen Hemisphäre in irgend einem Teile Europas verwildert ist, uns zu zweifeln veranlassen, ob, wenn alle Naturerzeugnisse Neu-Seelands in Groß-Britannien frei ausgesetzt würden, eine irgend beträchtliche Anzahl derselben vermögend wäre, sich jetzt von eingeborenen Pflanzen und Tieren schon besetzte Stellen zu erobern. Von diesem Gesichtspunkte aus kann man sagen, dass die Produkte Groß-Britanniens viel höher auf der Stufenleiter als die Neu-Seeländischen stehen. Und doch hätte der tüchtigste Naturforscher nach Untersuchung der Arten beider Gegenden dieses Resultat nicht voraussehen können.
AGASSIZ und mehrere andere äußerst kompetente Gewährsmänner heben hervor, dass alte Tiere in gewissen Beziehungen den Embryonen neuerer Tierformen derselben Klassen gleichen, und dass die geologische Aufeinanderfolge erloschener Formen nahezu der embryonalen Entwicklung jetzt lebender Formen parallel läuft. Diese Ansicht stimmt mit der Theorie der natürlichen Zuchtwahl wundervoll überein. In einem spätern Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, dass die Erwachsenen von ihren Embryonen in Folge von Abänderungen abweichen, welche nicht in der frühesten Jugend erfolgen und auch erst auf die entsprechende Altersstufe vererbt werden. Während dieser Prozess den Embryo fast unverändert lässt, häuft er im Laufe aufeinanderfolgender Generationen immer mehr Verschiedenheit in den Erwachsenen zusammen. So erscheint der Embryo gleichsam wie ein von der Natur aufbewahrtes Portrait des früheren und noch nicht sehr modifizierten Zustandes einer jeden Spezies. Diese Ansicht mag richtig sein, dürfte jedoch nie eines vollkommenen Beweises fähig sein. Denn fänden wir auch, dass z.B. die ältesten bekannten Formen der Säugetiere, der Reptilien und der Fische zwar genau diesen Klassen angehörten, aber doch von einander etwas weniger verschieden wären als die jetzigen typischen Vertreter dieser Klassen, so würden wir uns doch so lange vergebens nach Tieren umsehen, welche noch den gemeinsamen Embryonalcharakter der Vertebraten an sich trügen, als wir nicht fossilienreiche Schichten noch tief unter den untersten cambrischen entdeckten, wozu in der Tat sehr wenig Aussicht vorhanden ist.