Natur der Verwandtschaften, welche die organischen Wesen verbinden - allgemeine, verwickelte und strahlenförmige


Da die abgeänderten Nachkommen herrschender Arten großer Gattungen diejenigen Vorzüge, welche die Gruppen, wozu sie gehören, groß und ihre Eltern herrschend gemacht haben, zu erben streben, so sind sie beinahe sicher, sich weit auszubreiten und mehr oder weniger Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen. So streben die größeren und herrschenderen Gruppen in jeder Klasse nach immer weiterer Vergrößerung und ersetzen demnach viele kleinere und schwächere Gruppen. So erklärt sich auch die Tatsache, dass alle erloschenen wie noch lebenden Organismen einige wenige große Ordnungen und noch weniger Klassen bilden. Ein Beleg dafür, wie wenige an Zahl die oberen Gruppen und wie weit sie in der Welt verbreitet sind, ist die auffallende Tatsache, dass die Entdeckung Neuhollands nicht ein Insekt aus einer neuen Klasse geliefert hat, und dass im Pflanzenreiche, wie ich von Dr. HOOKER vernehme, nur zwei oder drei kleine Familien hinzugekommen sind.

Im Kapitel über die geologische Aufeinanderfolge habe ich nach dem Prinzip, dass im Allgemeinen jede Gruppe während des langdauernden Modifikationsprozesses in ihrem Charakter sehr divergiert hat, zu zeigen mich bemüht, woher es kommt, dass die älteren Lebensformen oft einigermaßen mittlere Charaktere zwischen jetzt existierenden Gruppen darbieten. Da einige wenige solcher alten und mittleren Stammformen sich in nur wenig abgeänderten Nachkommen bis zum heutigen Tage erhalten haben, so geben diese zur Bildung unserer sogenannten vermittelnden oder aberranten Gruppen Veranlassung. Je abirrender eine Form ist, desto größer muss die Zahl verkettender Glieder sein, welche gänzlich vertilgt worden und verloren gegangen sind. Auch dafür, dass die aberranten Formen sehr durch Erlöschen gelitten haben, finden sich einige Belege; denn sie sind gewöhnlich nur durch äußerst wenige Arten vertreten, und die wirklich vorkommenden Arten sind gewöhnlich sehr verschieden von einander, was gleichfalls auf Erlöschung hinweist. Die Gattungen Ornithorhynchus und Lepidosiren z.B. würden nicht, weniger aberrant sein, wenn sie jede durch ein Dutzend statt nur eine oder zwei Arten vertreten wären. Wir können, glaube ich, diese Erscheinung nur erklären, indem wir die aberranten Formen als Gruppen betrachten, welche im Kampfe mit siegreichen Konkurrenten unterlegen sind und von denen sich nur noch wenige Glieder in Folge eines ungewöhnlichen Zusammentreffens günstiger Umstände bis heute erhalten haben.

WATERHOUSE hat die Bemerkung gemacht, dass, wenn ein Glied aus einer Tiergruppe Verwandtschaft mit einer ganz andern Gruppe zeigt, diese Verwandtschaft in den meisten Fällen eine allgemeine und nicht eine spezielle Verwandtschaft ist. So ist nach WATERHOUSE von allen Nagern die Viscache (Lagostomus) am nächsten mit den Beuteltieren verwandt; aber die Charaktere, worin sie sich den Marsupialien am meisten nähert, haben eine allgemeine Beziehung zu den Beuteltieren und nicht zu dieser oder jener Art im Besondern. Da diese Verwandtschaftsbeziehungen der Viscache zu den Beuteltieren für wirkliche gelten und nicht Folge bloßer Anpassung sind, so müssen sie nach meiner Theorie von gemeinschaftlicher Ererbung von einem gemeinsamen Urerzeuger herrühren. Daher wir denn auch annehmen müssen, entweder, dass alle Nager einschließlich der Viscache von einem sehr alten Beuteltiere abgezweigt sind, welches natürlich einen mehr oder weniger mittlern Charakter in Bezug auf alle jetzt existierende Beuteltiere besessen hat, oder dass sowohl Nager wie Beuteltiere von einem gemeinsamen Stammvater herrühren und beide Gruppen durch starke Abänderungen seitdem in verschiedenen Richtungen auseinander gegangen sind. Nach beiderlei Ansichten müssen wir annehmen, dass die Viscache mehr von den erblichen Charakteren des alten Stammvaters an sich behalten hat, als sämtliche anderen Nager; und deshalb zeigt sie keine besonderen Beziehungen zu diesem oder jenem noch vorhandenen Beutler, sondern nur indirekt zu allen oder fast allen Marsupialien überhaupt, indem sie sich einen Teil des Charakters des gemeinsamen Urerzeugers oder eines frühern Gliedes dieser Gruppe erhalten hat. Andererseits besitzt nach WATERHOUSE's Bemerkung unter allen Beuteltieren die Phascolomys am meisten Ähnlichkeit nicht mit einer einzelnen Art, sondern mit der ganzen Ordnung der Nager überhaupt. In diesem Falle ist indes sehr zu vermuten, dass die Ähnlichkeit nur eine Analogie ist, indem die Phascolomys sich einer Lebensweise angepasst hat, wie sie Nager besitzen. Der ältere DE CANDOLLE hat ziemlich ähnliche Bemerkungen hinsichtlich der allgemeinen Natur der Verwandtschaft zwischen verschiedenen Pflanzenordnungen gemacht.

Nach dem Prinzip der Vermehrung und der stufenweisen Divergenz des Charakters der von einem gemeinsamen Ahnen abstammenden Arten in Verbindung mit der erblichen Erhaltung eines Teiles des gemeinsamen Charakters erklären sich die außerordentlich verwickelten und strahlenförmig auseinander gehenden Verwandtschaften, wodurch alle Glieder einer Familie oder höhern Gruppe miteinander verkettet werden. Denn der gemeinsame Stammvater einer ganzen Familie, welche jetzt durch Erlöschung in verschiedene Gruppen und Untergruppen gespalten ist, wird einige seiner Charaktere in verschiedener Art und Abstufung modifiziert allen gemeinsam mitgeteilt haben, und die verschiedenen Arten werden demnach nur durch Verwandtschaftslinien von verschiedener Länge miteinander verbunden sein, welche in weit älteren Vorgängern ihren Vereinigungspunkt finden, wie es das so oft angezogene Schema darstellt. Wie es schwer ist, die Blutsverwandtschaft zwischen den zahlreichen Angehörigen irgend einer alten oder vornehmen Familie sogar mit Hilfe eines Stammbaumes zu zeigen, und fast unmöglich, es ohne dieses Hilfsmittel zu tun, so begreift man auch die außerordentliche Schwierigkeit, auf welche Naturforscher, ohne die Hilfe einer bildlichen Skizze, stossen, wenn sie die verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den vielen lebenden und erloschenen Gliedern einer großen natürlichen Klasse nachweisen wollen.


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