Katharsis (katharsis): Reinigung, Läuterung (besond. in der Mystik). Nach den Pythagoreern ist die Seele (s. d.) im Leben an einen Körper gefesselt, der Tod bedeutet eine Befreiung von demselben. In diesem Sinne faßt PLATO den Tod als Läuterung, katharsis, der Seele, als Trennung vom Leibe (chôrizein), als Befreiung von dessen Fesseln (Phaed. 67 C, D, 114 C; Rep. 10, 613 A). Plato spricht auch von einer Befreiung der Seele von sinnlichen Leidenschaften (Phaed. 67 A; Sophist. 130 C), von einer katharsis tôn hêdonôn (l.c. 69 C); hêdonê kathara: Phaedr. 268 C). Nach PLOTIN ist die Loslösung des Menschen vom Sinnlichen, die Emporhebung des Geistes zum Wissen und zur Tugend eine katharsis (Enn. I, 2, 3). Vom monôthênai tên psychên spricht GREGOR VON NYSSA (De an. et resurr. p. 202).
Den Begriff der ästhetischen Katharsis begründet ARISTOTELES, wohl in Anlehnung an ältere medizinische Lehren (HIPPOKRATES). Er versteht unter katharsis die »Reinigung« von Affekten durch die Kunst. Es ist nicht sicher, ob er meint: entweder die Reinigung, Läuterung der Affekte selbst, d.h. deren Herabstimmung auf das rechte Maß, Befreiung vom Überwältigenden und »Interessierten« des praktischen Lebens (- was jedenfalls bei den ästhetischen Affekten Tatsache ist -), oder aber die Reinigung der Seele von den Affekten durch deren Ablauf, die (momentane) Befreiung des Gemütes von zu starken Affektdispositionen, von bestimmten (schädlichen und starken) Affekten selbst. Nach LESSING besteht die tragische Katharsis in einer Umwandlung der Affekte in »tugendhafte Fertigkeiten« (Hamburg. Dramat. 74 ff.). GOETHE verlegt die Katharsis in den Helden, nicht in den Zuschauer (WW. XXIX, 490). MAASS bemerkt: »Das Drama, und das Trauerspiel insbesondere, soll... die Leidenschaften reinigen, d. i. sie auf eine der Vernunft angemessene Art üben. Es soll einige erwecken, andere unterdrücken, einige vermindern, andere vermehren« (Vers. üb. d. Einbild. S. 249). Nach J. BERNAYS besteht die katharsis in einer »erleichternden Entladung« von Gefühlsdispositionen (Zwei Abhandl. üb. d. Aristotel. Theor. d. Drama 1880). ÜBERWEG betrachtet die Funktion der Katharsis als zeitweilige Ausscheidung, Wegschaffung von Affecten (Furcht, Mitleid) (Zeitschr. f. Philos. Bd. 36 u. 50; vgl. A. DÖRING, Kunstlehre d. Aristot. 1876, S. 263 ff.); »durch den Verlauf der an die tragischen Ereignisse geknüpften Affekte leben diese sich selbst aus, und wird zugleich der Drang, solche Affekte... zu hegen, befriedigt und gestillt« (ÜBERWEG- HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. I9, 276). Ähnlich PAULSEN (Syst. d. Eth. 15, 247). - H. SIEBECK betont: »Das Wesen der tragischen Katharsis liegt für Aristoteles nicht in der Ausscheidung (Kenosis) jener beiden Affekte [Furcht und Mitleid], sondern in ihrer durch die ästhetische Wirkung des Geschauten bedingten Ermäßigung« (Aristot S. 88). Die Affekte verwandeln sich in Lustgefühle, werden in einen »wohltuenden Einfluß« aufgelöst, werden frei vom Drückenden des Affekts (l.c. S. 89, 112; vgl. Jahrb. f. Philol. 1882, S. 225 ff.). H. LEHR erklärt: »Das rechte Verhältnis im Gemüt, die rechte Gemütsart in ihrer Reinheit wiederherstellen, den Einfluß der Sinne und des Verstandes auf das rechte Maß sei es herabdrücken, sei es steigern, so daß das Licht der Vernunft hell strahlen und das Ziel des Schönen klar erleuchten kann, das soll die Tragödie, das soll die enthusiastische Musik leisten, und diese Leistung heißt Reinigung« (Die Wirk. d. Tragöd. nach Aristot. S. 77). Nach JODL besteht die Katharsis in der Ablösung der ästhetisch erregten Gefühle von Affekt und Begehren (Lehrb. d. Psychol. S. 710). Ähnlich HERZOG (Was ist ästhet.?). K. LANGE meint: »Der Aristotelischen Theorie liegt... nur eine richtige Ahnung zugrunde, nämlich die, daß die von der Tragödie erzeugten Gefühle gar keine wirklichen, sondern gereinigte, abgeblaßte, ihres emotionellen Elements entkleidete Gefühle sind« (Wes. d. Kunst II, 129). - ARISTOTELES erklärt, die Musik habe zum Zweck nicht nur paideia, diagôgê, anesis, syntonia, sondern auch katharsis (Polit. VIII 7, 1341 b 36). Er sagt ferner über die kathartische Wirkung der Kunst (Musik): ek de tôn hierôn melôn horômen toutous, hotan chrêsontai tois exorgiazousi tên psychên melesi, kathistamenous, hôsper iatreias tychontas kai katharseôs, tauto dê touto dê anankaion paschein kai tous eleêmonas kai tous phobêtikous kai tous holôs pathêtikous, tous de allos kath' hoson epiballei tôn toioutôn hekastô kai pasi ginesthai tina katharsin kai kouphizesthai meth' hêdonês. homoiôs de kai ta melê ta kathartika parechei charan ablabê tois anthrôpois (Polit. VIII 7, 1342a 8; vgl. VIII 6, 1341 a 21). Die Tragödie (s. d.) bewirkt di' eleou kai phobou... tên toioutôn pathêmatôn katharsin (Poët. 1449b 23 squ.). - Über religiöse Läuterung vgl. E. ROHDE, Psych. II2, 1808, S. 48.