Gerechtigkeit

Gerechtigkeit (als Gerechtsein) bedeutet den Willen zu dem jedem Wesen Gebührenden, nach der Rechtsvernunft Zukommenden, das rechtmäßige Verhalten selbst juridische und ethische Gerechtigkeit). Die Gerechtigkeit bekundet sich darin, daß der Handelnde Lohn und Strafe (im engeren und im weiteren Sinne) so handhabt, wie es die Leistungen und die Würde (der Wert) einer Person an sich und in ihrem Verhältnis zur Gesamtheit nach vernünftigem Ermessen fordert. Absolute Gerechtigkeit ist ein Ideal, das sich empirisch-praktisch nur unvollkommen realisiert. Die soziale Gerechtigkeit besteht in der wahrhaft menschlichen Behandlung des Menschen, in der Anerkennung des Wertes jedes Menschen als Gesellschaftsglied und in der höheren Bewertung des Besseren.

Die Pythagoreer bestimmen die Gerechtigkeit als »Quadratzahl« (arithmos isakis isos Aristot., Eth. Nic. V, 8), »wodurch die Korrespondenz zwischen Tat und Leiden (to antipeponthos, d. h. ha tis epoiêse, taut' antipathein) also die Vergeltung ausgedrückt werden sollte« (ÜBERWEG-HEINZE, Gr. d. Gesch. d. Philos. I9, 70). Nach PLATO ist die Gerechtigkeit dikaiosynê die allgemeine Tugend; sie liegt in der naturgemäßen Betätigung jedes Seelenteiles (Rep. II, 367 squ.). ARISTOTELES definiert die Gerechtigkeit als tês holês aretês chrêsis pros allon (Eth. Nie. V 5, 1130b 20). Sie ist der vollkommene Gebrauch der Tugend (hoti tês teleias aretês chrêsis esti teleia) die vollkommenste Tugend aretê men tekeia, all' ouch' haplôs alla pros heteron l.c. V 3, 1129b 26). Sie ist das Ganze der Tugend (holê aretê l.c. V 3, 1130a 9), des Einhaltens der rechten Mitte. Im engeren Sinne geht sie auf das ison und anison. Sie zerfällt in die austeilende (en tais dianomais) und die ausgleichende (en tois synallagmasin) Gerechtigkeit; erstere waltet nach geometrischem, letztere nach arithmetischem Verhältnisse (l.c. V 5, 1130b 31, V 7, 1131 b 25, V 7, 1132a 1). - THOMAS erklärt: »Ratio iustitiae consistit in hoc, quod alteri reddatur, quod ei debetur secundum aequalitatem« (Sum. th. II, II, 80, 1 C). GEULINCX erklärt »iustitia« als »praecisio eius, quod nimis et eius quod minus est« (Eth. I, C. 2, § 3). HOBBES faßt die Gerechtigkeit rein politisch - juridisch auf. LEIBNIZ basiert sie auf die Vernunft und Güte des Menschen und der Gottheit. Sie beruht auf der Angemessenheit, die eine gewisse Genugtuung als Sühne für eine böse Tat fordert (Theod. I, § 73). CHR. WOLF: »Iustitia - virtus est, qua ins suum cuique tribuitur« (Eth. II, § 576). Nach PLATNER ist Gerechtigkeit »Rechtschaffenheit in der Beurteilung des Wertes und Unwertes, des Verdienstes und der Schuld und der Ansprüche anderer Menschen« (Philos. Aphor. II, § 976). Nach HILLEBRAND besteht die Gerechtigkeit darin, »daß die einzelnen oder individuellen Zwecke der Dinge aus dem Gesichtspunkte ihrer individuellen Notwendigkeit und ihres gegenseitigen Bestehens für die Möglichkeit des wahren freien Seins überhaupt affirmiert werden« (Philos. d. Geist. II, 112 f.). Nach SPENCER besagt das »Gesetz der vormenschlichen Gerechtigkeit«, »daß jedes Einzelwesen die Vorzüge und die Nachteile seiner eigenen Platur und des daraus entspringenden Handelns auf sich zu nehmen hat« (Princ. d. Eth. II, § 5, S. 10). Der Gerechtigkeitsbegriff hat zwei Bestandteile: »Auf der einen Seite jenes positive Element, welches darin besteht, daß jeder einzelne sein Anrecht auf ungehinderte Tätigkeit und auf die dadurch errungenen Vorteile erkennt und behauptet. Auf der andern Seite jenes negative Element, das in dem Bewußtsein von den Grenzen besteht, welche durch die Gegenwart anderer Menschen mit gleichen Rechten bedingt werden« (l.c. § 22, S. 40). Die Gerechtigkeitsformel lautet: »Es steht jedermann frei, zu tun, was er will, soweit er nicht die gleiche Freiheit jedes andern beeinträchtigt« (l.c. § 27, S. 51). Nach WUNDT ist der eigentliche Träger der Gerechtigkeit der Gesamtwille, daher der unpersönliche Charakter der Gerechtigkeit (Eth.2, S. 5S2 f.). Die Billigkeit hingegen ist eine Privattugend, sie weist dem einzelnen zu, was er nach Lage der besonderen Umstände wünschen darf (ib.). PAULSEN definiert Gerechtigkeit (Subjektiv) als »die Willensrichtung und Verhaltungsweise, die vor störenden Übergriffen in das Leben und die Interessenkreise anderer selber sich hütet und auch ihre Verübung durch andere nach Möglichkeit hindert« (Syst. d. Eth. II5, 128). Über Gerechtigkeit im religionsphilosophischen Sinne vgl. A. DORNER, Gr. d. Religionsphilos. S. 73, 93, 97, 104 f., 107, 152, 154 f., 238. Vgl. Rechtsphilosophie.


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