Aussprache
§ 3
So wie in der Musik das richtige, genaue und reine Treffen jedes einzelnen Tones der Grund alles weiteren künstlerischen Vortrages ist, so ist auch in der Schauspielkunst der Grund aller höheren Rezitation und Deklamation die reine und vollständige Aussprache jedes einzelnen Worts.
§ 4
Vollständig aber ist die Aussprache, wenn kein Buchstabe eines Wortes unterdrückt wird, sondern wo alle nach ihrem wahren Werte hervorkommen.
§ 5
Rein ist sie, wenn alle Wörter so gesagt werden, daß der Sinn leicht und bestimmt den Zuhörer ergreife.
Beides verbunden macht die Aussprache vollkommen.
§ 6
Eine solche suche sich der Schauspieler anzueignen, indem er wohl beherzige, wie ein verschluckter Buchstabe oder ein undeutlich ausgesprochenes Wort oft den ganzen Satz zweideutig macht, wodurch denn das Publikum aus der Täuschung gerissen und oft, selbst in den ernsthaftesten Szenen, zum Lachen gereizt wird.
§ 7
Bei den Wörtern, welche sich auf em und en endigen, muß man darauf achten, die letzte Silbe deutlich auszusprechen; denn sonst geht die Silbe verloren, indem man das e gar nicht mehr hört.
Zum Beispiel:
folgendem, nicht folgend'm.
hörendem, nicht hörend'm etc.
§ 8
Ebenso muß man sich bei dem Buchstaben b in acht nehmen, welcher sehr leicht mit w verwechselt wird, wodurch der ganze Sinn der Rede verdorben und unverständlich gemacht werden kann.
Zum Beispiel: Leben um Leben, nicht Lewen um Lewen.
§ 9
So auch das p und b, das t und d muß merklich unterschieden werden. Daher soll der Anfänger bei beiden einen großen Unterschied machen und p und t stärker aussprechen, als es eigentlich sein darf, besonders wenn er vermöge seines Dialekts sich leicht zum Gegenteil neigen sollte.
§ 10
Wenn zwei gleichlautende Konsonanten aufeinanderfolgen, indem das eine Wort mit demselben Buchstaben sich endigt, womit das andere anfängt, so muß etwas abgesetzt werden, um beide Wörter wohl zu unterscheiden. Zum Beispiel:
Schließt sie blühend den Kreis des Schönen.
Zwischen blühend und den muß etwas abgesetzt werden.
§ 11
Alle Endsilben und Endbuchstaben hüte man sich besonders, undeutlich auszusprechen; vorzüglich ist diese Regel bei m, n und s zu merken, weil diese Buchstaben die Endungen bezeichnen, welche das Hauptwort regieren, folglich das Verhältnis anzeigen, in welchem das Hauptwort zu dem übrigen Satze steht, und mithin durch sie der eigentliche Sinn des Satzes bestimmt wird.
§ 12
Rein und deutlich ferner spreche man die Hauptwörter, Eigennamen und Bindewörter aus. Zum Beispiel in dem Verse:
Aber mich schreckt die Eumenide,
Die Beschirmerin dieses Orts.
Hier kommt der Eigenname Eumenide und das in diesem Fall sehr bedeutende Hauptwort Beschirmerin vor. Daher müssen beide mit besonderer Deutlichkeit ausgesprochen werden.
§ 13
Auf die Eigennamen muß im allgemeinen ein stärkerer Ausdruck in der Aussprache gelegt werden als gewöhnlich, weil so ein Name dem Zuhörer besonders auffallen soll. Denn sehr oft ist es der Fall, daß von einer Person schon im ersten Akte gesprochen wird, welche erst im dritten und oft noch später vorkommt. Das Publikum soll nun darauf aufmerksam gemacht werden, und wie kann das anders geschehen als durch deutliche energische Aussprache?
§ 14
Um es in der Aussprache zur Vollkommenheit zu bringen, soll der Anfänger alles sehr langsam, die Silben und besonders die Endsilben stark und deutlich aussprechen, damit die Silben, welche geschwind gesprochen werden müssen, nicht unverständlich werden.
§ 15
Zugleich ist zu raten, im Anfange so tief zu sprechen, als man es zu tun imstande ist, und dann abwechselnd immer im Ton zu steigen; denn dadurch bekommt die Stimme einen großen Umfang und wird zu den verschiedenen Modulationen gebildet, deren man in der Deklamation bedarf.
§ 16
Es ist daher auch sehr gut, wenn man alle Silben, sie seien lang oder kurz, anfangs lang und in so tiefem Tone spricht, als es die Stimme erlaubt, weil man sonst gewöhnlich durch das Schnellsprechen den Ausdruck hernach nur auf die Zeitwörter legt.
§ 17
Das falsche oder unrichtige Auswendiglernen ist bei vielen Schauspielern Ursache einer falschen und unrichtigen Aussprache. Bevor man also seinem Gedächtnis etwas anvertrauen will, lese man langsam und wohlbedächtig das zum Auswendiglernen Bestimmte. Man vermeide dabei alle Leidenschaft, alle Deklamation, alles Spiel der Einbildungskraft; dagegen bemühe man sich nur, richtig zu lesen und darnach genau zu lernen, so wird mancher Fehler vermieden werden, sowohl des Dialekts als der Aussprache.