III. Shakespeare als Theaterdichter
Wenn Kunstliebhaber und -freunde irgend ein Werk freudig genießen wollen, so ergötzen sie sich am Ganzen und durchdringen sich von der Einheit, die ihm der Künstler geben können. Wer hingegen theoretisch über solche Arbeiten sprechen, etwas von ihnen behaupten und also lehren und belehren will, dem wird Sondern zur Pflicht. Diese glaubten wir zu erfüllen, indem wir Shakespeare erst als Dichter Überhaupt betrachteten und sodann mit den Alten und den Neuesten verglichen. Nun aber gedenken wir unsern Vorsatz dadurch abzuschließen, daß wir ihn als Theaterdichter betrachten.
Shakespeares Name und Verdienst gehören in die Geschichte der Poesie; aber es ist eine Ungerechtigkeit gegen alle Theaterdichter früherer und späterer Zeiten, sein ganzes Verdienst in der Geschichte des Theaters aufzuführen.
Ein allgemein anerkanntes Talent kann von seinen Fähigkeiten einen Gebrauch machen, der problematisch ist. Nicht alles, was der Vortreffliche tut, geschieht auf die vortrefflichste Weise. So gehört Shakespeare notwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf. Weil man ihn dort unbedingt verehren kann, so muß man hier die Bedingungen erwägen, in die er sich fügte, und diese Bedingungen nicht als Tugenden oder als Muster anpreisen.
Wir unterscheiden nahverwandte Dichtungsarten, die aber bei lebendiger Behandlung oft zusammenfließen: Epos, Dialog, Drama, Theaterstück lassen sich sondern. Epos fordert mündliche Überlieferungen an die Menge durch einen Einzelnen; Dialog Gespräch in geschlossener Gesellschaft, wo die Menge allenfalls zuhören mag; Drama Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der Einbildungskraft geführt würde; Theaterstück alles dreies zusammen, insofern es den Sinn des Auges mit beschäftigt und unter gewissen Bedingungen örtlicher und persönlicher Gegenwart faßlich werden kann.
Shakespeares Werke sind in diesem Sinne am meisten dramatisch; durch seine Behandlungsart, das innerste Leben hervorzukehren, gewinnt er den Leser; die theatralischen Forderungen erscheinen ihm nichtig, und so macht er sich's bequem, und man läßt sich's, geistig genommen, mit ihm bequem werden. Wir springen mit ihm von Lokalität zu Lokalität, unsere Einbildungskraft ersetzt alle Zwischenhandlungen, die er ausläßt, ja wir wissen ihm Dank, daß er unsere Geisteskräfte auf eine so würdige Weise anregt. Dadurch, daß er alles unter der Theaterform vorbringt, erleichtert er der Einbildungskraft die Operation; denn mit den »Brettern, die die Welt bedeuten« sind wir bekannter als mit der Welt selbst, und wir mögen das Wunderlichste lesen und hören, so meinen wir, das könne auch da droben einmal vor unsern Augen vorgehen; daher die so oft mißlungene Bearbeitung von beliebten Romanen in Schauspielen.
Genau aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet. Daß Shakespeare auch diesen Gipfel zu erfassen gewußt, bezeugt jener Augenblick, wo dem todkranken schlummernden König der Sohn und Nachfolger die Krone von seiner Seite wegnimmt, sie aufsetzt und damit fortstolziert. Dieses sind aber nur Momente, ausgesäte Juwelen, die durch viel Untheatralisches auseinandergehalten werden. Shakespeares ganze Verfahrungsart findet an der eigentlichen Bühne etwas Widerstrebendes; sein großes Talent ist das eines Epitomators, und da der Dichter überhaupt als Epitomator der Natur erscheint, so müssen wir auch hier Shakespeares großes Verdienst anerkennen, nur leugnen wir dabei, und zwar zu seinen Ehren, daß die Bühne ein würdiger Raum für sein Genie gewesen. Indessen veranlaßt ihn gerade diese Bühnenenge zu eigner Begrenzung. Hier aber nicht, wie andere Dichter, wählt er sich zu einzelnen Arbeiten besondere Stoffe, sondern er legt einen Begriff in den Mittelpunkt und bezieht auf diesen die Welt und das Universum. Wie er alte und neue Geschichte in die Enge zieht, kann er den Stoff von jeder Chronik brauchen, an die er sich oft sogar wörtlich hält. Nicht so gewissenhaft verfährt er mit den Novellen, wie uns »Hamlet« bezeugt. »Romeo und Julie« bleibt der Überlieferung getreuer, doch zerstört er den tragischen Gehalt derselben beinahe ganz durch die zwei komischen Figuren Mercutio und die Amme, wahrscheinlich von zwei beliebten Schauspielern, die Amme wohl auch von einer Mannsperson gespielt. Betrachtet man die Ökonomie des Stücks recht genau, so bemerkt man, daß diese beiden Figuren, und was an sie grenzt, nur als possenhafte Intermezzisten auftreten, die uns bei unserer folgerechten, Übereinstimmung liebenden Denkart auf der Bühne unerträglich sein müssen.
Am merkwürdigsten erscheint jedoch Shakespeare, wenn er schon vorhandene Stücke redigiert und zusammenschneidet. Bei »König Johann« und »Lear« können wir diese Vergleichung anstellen, denn die ältern Stücke sind noch übrig. Aber auch in diesen Fällen ist er wieder mehr Dichter überhaupt als Theaterdichter.
Lasset uns denn aber zum Schluß zur Auflösung des Rätsels schreiten. Die Unvollkommenheit der englischen Bretterbühne ist uns durch kenntnisreiche Männer vor Augen gestellt. Es ist keine Spur von der Natürlichkeitsforderung, in die wir nach und nach durch Verbesserung der Maschinerie und der perspektivischen Kunst und der Garderobe hineingewachsen sind und von wo man uns wohl schwerlich in jene Kindheit der Anfänge wieder zurückführen dürfte: vor ein Gerüste, wo man wenig sah, wo alles nur bedeutete, wo sich das Publikum gefallen ließ, hinter einem grünen Vorhang das Zimmer des Königs anzunehmen, den Trompeter, der an einer gewissen Stelle immer trompetete, und was dergleichen mehr ist. Wer will sich nun gegenwärtig so etwas zumuten lassen? Unter solchen Umständen waren Shakespeares Stücke höchst interessante Märchen, nur von mehreren Personen erzählt, die sich, um etwas mehr Eindruck zu machen, charakteristisch maskiert hatten, sich, wie es not tat, hin und her bewegten, kamen und gingen, dem Zuschauer jedoch überließen, sich auf der öden Bühne nach Belieben Paradies und Paläste zu imaginieren.
Wodurch erwarb sich denn Schröder das große Verdienst, Shakespeares Stücke auf die deutsche Bühne zu bringen, als daß er der Epitomator des Epitomators wurde! Schröder hielt sich ganz allein ans Wirksame, alles andere warf er weg, ja sogar manches Notwendige, wenn es ihm die Wirkung auf seine Nation, auf seine Zeit zu stören schien. So ist es z.B. wahr, daß er durch Weglassung der ersten Szenen des »Königs Lear« den Charakter des Stücks aufgehoben; aber er hatte doch recht, denn in dieser Szene erscheint Lear so absurd, daß man seinen Töchtern in der Folge nicht ganz unrecht geben kann. Der Alte jammert einen, aber Mitleid hat man nicht mit ihm, und Mitleid wollte Schröder erregen, so wie Abscheu gegen die zwar unnatürlichen, aber doch nicht durchaus zu scheltenden Töchter.
In dem alten Stücke, welches Shakespeare redigiert, bringt diese Szene im Verlaufe des Stücks die lieblichsten Wirkungen hervor. Lear entflieht nach Frankreich, Tochter und Schwiegersohn, aus romantischer Grille, machen verkleidet irgendeine Wallfahrt ans Meer und treffen den Alten, der sie nicht erkennt. Hier wird alles süß, was Shakespeares hoher tragischer Geist uns verbittert hat. Eine Vergleichung dieser Stücke macht dem denkenden Kunstfreunde immer aufs neue Vergnügen.
Nun hat sich aber seit vielen Jahren das Vorurteil in Deutschland eingeschlichen, daß man Shakespeare auf der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer daran erwürgen sollten. Die Versuche, durch eine vortreffliche genaue Übersetzung veranlaßt, wollten nirgends gelingen, wovon die Weimarische Bühne bei redlichen und wiederholten Bemühungen das beste Zeugnis ablegen kann. Will man ein Shakespearisch Stück sehen, so muß man wieder zu Schröders Bearbeitung greifen; aber die Redensart, daß auch bei der Vorstellung von Shakespeare kein Jota zurückbleiben dürfe, so sinnlos sie ist, hört man immer wiederklingen. Behalten die Verfechter dieser Meinung die Oberhand, so wird Shakespeare in wenigen Jahren ganz von der deutschen Bühne verdrängt sein, welches denn auch kein Unglück wäre, denn der einsame oder gesellige Leser wird an ihm desto reinere Freude empfinden.
Um jedoch in dem Sinne, wie wir oben weitläufig gesprochen, einen Versuch zu machen, hat man »Romeo und Julie« für das Weimarische Theater redigiert. Die Grundsätze, wonach solches geschehen, wollen wir ehestens entwickeln, woraus sich denn vielleicht auch ergeben wird, warum diese Redaktion, deren Vorstellung keineswegs schwierig ist, jedoch kunstmäßig und genau behandelt werden muß, auf dem deutschen Theater nicht gegriffen. Versuche ähnlicher Art sind im Werke, und vielleicht bereitet sich für die Zukunft etwas vor, da ein häufiges Bemühen nicht immer auf den Tag wirkt.