Von deutscher Baukunst


(1823)  

 

Einen großen Reiz muß die Bauart haben, welche die Italiener und Spanier schon von alten Zeiten her, wir aber erst in der neuesten, die deutsche (tedesca, germanica) genannt haben. Mehrere Jahrhunderte ward sie zu kleinern und zu ungeheuren Gebäuden angewendet, der größte Teil von Europa nahm sie auf; Tausende von Künstlern, aber Tausende von Handwerkern übten sie; den christlichen Kultus förderte sie höchlich und wirkte mächtig auf Geist und Sinn; sie muß also etwas Großes, gründlich Gefühltes, Gedachtes, Durchgearbeitetes enthalten, Verhältnisse verbergen und an den Tag legen, deren Wirkung unwiderstehlich ist.

Merkwürdig war uns daher das Zeugnis eines Franzosen, eines Mannes, dessen eigene Bauweise der gerühmten sich entgegensetzte, dessen Zeit von derselben äußerst ungünstig urteilte; und dennoch spricht er folgendermaßen:

»Alle Zufriedenheit, die wir an irgendeinem Kunstschönen empfinden, hängt davon ab, daß Regel und Maß beobachtet sei; unser Behagen wird nur durch Proportion bewirkt. Ist hieran Mangel, so mag man noch so viel äußere Zierat anwenden, Schönheit und Gefälligkeit, die ihnen innerlich fehlen, wird nicht ersetzt, ja man kann sagen, daß ihre Häßlichkeit nur verhaßter und unerträglicher wird, wenn man die äußeren Zieraten durch Reichtum der Arbeit oder der Materie steigert.

Um diese Behauptung noch weiter zu treiben, sag ich, daß die Schönheit, welche aus Maß und Proportion entspringt, keineswegs kostbarer Materien und zierlicher Arbeit bedarf, um Bewunderung zu erlangen, sie glänzt vielmehr und macht sich fühlbar, hervorblickend aus dem Wuste und der Verworrenheit des Stoffes und der Behandlung. So beschauen wir mit Vergnügen einige Massen jener gotischen Gebäude, deren Schönheit aus Symmetrie und Proportion des Ganzen zu den Teilen und der Teile untereinander entsprungen erscheint und bemerklich ist, ungeachtet der häßlichen Zieraten, womit sie verdeckt sind, und zum Trutz derselben. Was uns aber am meisten überzeugen muß, ist, daß, wenn man diese Massen mit Genauigkeit untersucht, man im ganzen dieselben Proportionen findet wie an Gebäuden, welche, nach Regeln der guten Baukunst erbaut, uns beim Anblick so viel Vergnügen gewähren.«

François Blondel, »Cours d'Architecture«. Cinquième partie. Livre V. Chap. XVI. XVII.

Erinnern dürfen wir uns hierbei gar wohl jüngerer Jahre, wo der Straßburger Münster so große Wirkung auf uns ausübte, daß wir unberufen unser Entzücken auszusprechen nicht unterlassen konnten. Eben das, was der französische Baumeister nach gepflogener Messung und Untersuchung gesteht und behauptet, ist uns unbewußt begegnet, und es wird ja auch nicht von jedem gefordert, daß er von Eindrücken, die ihn überraschen, Rechenschaft geben solle.

Standen aber diese Gebäude jahrhundertelang nur wie eine alte Überlieferung da, ohne sonderlichen Eindruck auf die größere Menschenmasse, so ließen sich die Ursachen davon gar wohl angeben. Wie mächtig hingegen erschien ihre Wirksamkeit in den letzten Zeiten, welche den Sinn dafür wieder erweckten! Jüngere und Ältere beiderlei Geschlechts waren von solchen Eindrücken übermannt und hingerissen, daß sie sich nicht allein durch wiederholte Beschauung, Messung, Nachzeichnung daran erquickten und erbauten, sondern auch diesen Stil bei noch erst zu errichtenden, lebendigern Gebrauch gewidmeten Gebäuden wirklich anwendeten und eine Zufriedenheit fanden, sich gleichsam urväterlich in solchen Umgebungen zu empfinden.

Da nun aber einmal der Anteil an solchen Produktionen der Vergangenheit erregt worden, so verdienen diejenigen großen Dank, die uns in den Stand setzen, Wert und Würde im rechten Sinne, das heißt historisch zu fühlen und zu erkennen, wovon ich nunmehr einiges zur Sprache bringe, indem ich mich durch mein näheres Verhältnis zu so bedeutenden Gegenständen aufgefordert fühle.

Seit meiner Entfernung von Straßburg sah ich kein wichtiges imposantes Werk dieser Art; der Eindruck erlosch, und ich erinnerte mich kaum jenes Zustandes, wo mich ein solcher Anblick zum lebhaftesten Enthusiasmus angeregt hatte. Der Aufenthalt in Italien konnte solche Gesinnungen nicht wieder beleben, um so weniger, als die modernen Veränderungen am Dome zu Mailand den alten Charakter nicht mehr erkennen ließen; und so lebte ich viele Jahre solchem Kunstzweige entfernt, wo nicht gar entfremdet.

Im Jahre 1810 jedoch trat ich, durch Vermittelung eines edlen Freundes, mit den Gebrüdern Boisserée in ein näheres Verhältnis. Sie teilten mir glänzende Beweise ihrer Bemühungen mit; sorgfältig ausgeführte Zeichnungen des Doms zu Köln, teils im Grundriß, teils von mehreren Seiten, machten mich mit einem Gebäude bekannt, das nach scharfer Prüfung gar wohl die erste Stelle in dieser Bauart verdient; ich nahm ältere Studien wieder vor und belehrte mich durch wechselseitige freundschaftliche Besuche und emsige Betrachtung gar mancher aus dieser Zeit sich herschreibenden Gebäude, in Kupfern, Zeichnungen, Gemälden, so daß ich mich endlich wieder in jenen Zuständen ganz einheimisch fand.

Allein der Natur der Sache nach, besonders aber in meinem Alter und meiner Stellung, mußte mir das Geschichtliche dieser ganzen Angelegenheit das Wichtigste werden, wozu mir denn die bedeutenden Sammlungen meiner Freunde die besten Fördernisse darreichten.

Nun fand sich glücklicherweise, daß Herr Moller, ein höchst gebildeter, einsichtiger Künstler, auch für diese Gegenstände entzündet ward und auf das glücklichste mitwirkte. Ein entdeckter Originalriß des Kölner Doms gab der Sache ein neues Ansehen; die lithographische Kopie desselben, ja die Kontradrücke, wodurch sich das ganze zweitürmige Bild durch Zusammenfügen und Austuschen den Augen darstellen ließ, wirkte bedeutsam, und was dem Geschichtsfreunde zu gleicher Zeit höchst willkommen sein mußte, war des vorzüglichen Mannes Unternehmen, eine Reihe von Abbildungen älterer und neuerer Zeit uns vorzulegen, da man denn zuerst das Herankommen der von uns diesmal betrachteten Bauart, sodann ihre höchste Höhe und endlich ihr Abnehmen vor Augen sehen und bequem erkennen sollte. Dieses findet nun um desto eher statt, da das erste Werk vollendet vor uns liegt und das zweite, das von einzelnen Gebäuden dieser Art handeln wird, auch schon in seinen ersten Heften zu uns gekommen ist.

Mögen die Unternehmungen dieses ebenso einsichtigen als tätigen Mannes möglichst vom Publikum begünstigt werden; denn mit solchen Dingen sich zu beschäftigen ist an der Zeit, die wir zu benutzen haben, wenn für uns und unsere Nachkommen ein vollständiger Begriff hervorgehen soll.

Und so müssen wir denn gleiche Aufmerksamkeit und Teilnahme dem wichtigen Werke der Gebrüder Boisserée wünschen, dessen erste Lieferung wir früher schon im allgemeinen angezeigt.

Mit aufrichtiger Teilnahme sehe ich nun das Publikum die Vorteile genießen, die mir seit dreizehn Jahren gegönnt sind, denn so lange bin ich Zeuge der ebenso schwierigen als anhaltenden Arbeit der Boisseréeschen Verbündeten. Mir fehlte es nicht diese Zeit her an Mitteilung frisch gezeichneter Risse, alter Zeichnungen und Kupfer, die sich auf solche Gegenstände bezogen; besonders aber wichtig waren die Probedrücke der bedeutenden Platten, die sich durch die vorzüglichsten Kupferstecher ihrer Vollendung näherten.

So schön mich aber auch dieser frische Anteil in die Neigungen meiner früheren Jahre wieder zurückversetzte, fand ich doch den größten Vorteil bei einem kurzen Besuche in Köln, den ich an der Seite des Herrn Staatsministers von Stein abzulegen das Glück hatte.

Ich will nicht leugnen, daß der Anblick des Kölner Doms von außen eine gewisse Apprehension in mir erregte, der ich keinen Namen zu geben wüßte. Hat eine bedeutende Ruine etwas Ehrwürdiges, ahnen, sehen wir in ihr den Konflikt eines würdigen Menschenwerks mit der stillmächtigen, aber auch alles nicht achtenden Zeit, so tritt uns hier ein Unvollendetes, Ungeheures entgegen, wo eben dieses Unfertige uns an die Unzulänglichkeit des Menschen erinnert, sobald er sich unterfängt, etwas Übergroßes leisten zu wollen.

Selbst der Dom inwendig macht uns, wenn wir aufrichtig sein wollen, zwar einen bedeutenden, aber doch unharmonischen Effekt; nur wenn wir ins Chor treten, wo das Vollendete uns mit überraschender Harmonie anspricht, da erstaunen wir fröhlich, da erschrecken wir freudig und fühlen unsere Sehnsucht mehr als erfüllt.

Ich aber hatte mich längst schon besonders mit dem Grundriß beschäftigt, viel darüber mit den Freunden verhandelt, und so konnte ich, da beinahe zu allem der Grund gelegt ist, die Spuren der ersten Intention an Ort und Stelle genau verfolgen. Ebenso halfen mir die Probedrücke der Seitenansicht und die Zeichnung des vorderen Aufrisses einigermaßen das Bild in meiner Seele auferbauen; doch blieb das, was fehlte, immer noch so übergroß, daß man sich zu dessen Höhe nicht aufschwingen konnte.

Jetzt aber, da die Boisseréesche Arbeit sich ihrem Ende naht, Abbildung und Erklärung in die Hände aller Liebhaber gelangen werden, jetzt hat der wahre Kunstfreund auch in der Ferne Gelegenheit, sich von dem höchsten Gipfel, wozu sich diese Bauweise erhoben, völlig zu überzeugen; da er denn, wenn er gelegentlich sich als Reisender jener wundersamen Stätte nähert, nicht mehr der persönlichen Empfindung, dem trüben Vorurteil oder, im Gegensatz, einer übereilten Abneigung sich hingeben, sondern als ein Wissender und in die Hüttengeheimnisse Eingeweihter das Vorhandene betrachten und das Vermißte in Gedanken ersetzen wird. Ich wenigstens wünsche mir Glück, zu dieser Klarheit nach funfzigjährigem Streben durch die Bemühungen patriotisch gesinnter, geistreicher, emsiger, unermüdeter junger Männer gelangt zu sein.

Daß ich bei diesen erneuten Studien deutscher Baukunst des zwölften Jahrhunderts öfters meiner frühern Anhänglichkeit an den Straßburger Münster gedachte und des damals, 1773, im ersten Enthusiasmus verfaßten Druckbogens mich erfreute, da ich mich desselben beim späteren Lesen nicht zu schämen brauchte, ist wohl natürlich: denn ich hatte doch die innern Proportionen des Ganzen gefühlt, ich hatte die Entwickelung der einzelnen Zieraten eben aus diesem Ganzen eingesehen und nach langem und wiederholtem Anschauen gefunden, daß der eine hoch genug auferbaute Turm doch seiner eigentlichen Vollendung ermangle. Das alles traf mit den neueren Überzeugungen der Freunde und meiner eigenen ganz wohl überein, und wenn jener Aufsatz etwas Amphigurisches in seinem Stil bemerken läßt, so möchte es wohl zu verzeihen sein da, wo etwas Unaussprechliches auszusprechen ist.

Wir werden noch oft auf diesen Gegenstand zurückkommen und schließen hier dankbar gegen diejenigen, denen wir die gründlichsten Vorarbeiten schuldig sind, Herrn Moller und Büsching, jenem in seiner Auslegung der gegebenen Kupfertafeln, diesem in dem Versuch einer Einleitung in die Geschicht der altdeutschen Baukunst; wozu mir denn gegenwärtig als erwünschtestes Hülfsmittel die Darstellung zuhanden liegt, welche Herr Sulpiz Boisserée als Einleitung und Erklärung der Kupfertafeln mit gründlicher Kenntnis aufgesetzt hat.


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