Poesie
So sehr Winckelmann bei Lesung der alten Schriftsteller auch auf die Dichter Rücksicht genommen, so finden wir doch, bei genauer Betrachtung seiner Studien und seines Lebensganges, keine eigentliche Neigung zur Poesie, ja man könnte eher sagen, daß hie und da eine Abneigung hervorblicke; wie denn seine Vorliebe für alte gewohnte Luthersche Kirchenlieder und sein Verlangen, ein solches unverfälschtes Gesangbuch selbst in Rom zu besitzen, wohl von einem tüchtigen, wackern Deutschen, aber nicht eben von einem Freunde der Dichtkunst zeuget.
Die Poeten der Vorzeit schienen ihn früher als Dokumente der alten Sprachen und Literaturen, später als Zeugnisse für bildende Kunst interessiert zu haben. Desto wunderbarer und erfreulicher ist es, wenn er selbst als Poet auftritt, und zwar als ein tüchtiger, unverkennbarer in seinen Beschreibungen der Statuen, ja beinahe durchaus in seinen spätern Schriften. Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen Drang, mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen. Das vollendete Herrliche, die Idee, woraus diese Gestalt entsprang, das Gefühl, das in ihm beim Schauen erregt ward, soll dem Hörer, dem Leser mitgeteilt werden, und indem er nun die ganze Rüstkammer seiner Fähigkeiten mustert, sieht er sich genötigt, nach dem Kräftigsten und Würdigsten zu greifen, was ihm zu Gebote steht. Er muß Poet sein, er mag daran denken, er mag wollen oder nicht.