Charakter


Wenn bei sehr vielen Menschen, besonders aber bei Gelehrten, dasjenige, was sie leisten, als die Hauptsache erscheint und der Charakter sich dabei wenig äußert, so tritt im Gegenteil bei Winckelmann der Fall ein, daß alles dasjenige, was er hervorbringt, hauptsächlich deswegen merkwürdig und schätzenswert ist, weil sein Charakter sich immer dabei offenbart. Haben wir schon unter der Aufschrift vom Antiken und Heidnischen, vom Schönheits- und Freundschaftssinne einiges Allgemeine zum Anfang ausgesprochen, so wird das mehr Besondere hier gegen das Ende wohl seinen Platz verdienen.

Winckelmann war durchaus eine Natur, die es redlich mit sich selbst und mit andern meinte; seine angeborne Wahrheitsliebe entfaltete sich immer mehr und mehr, je selbständiger und unabhängiger er sich fühlte, so daß er sich zuletzt die höfliche Nachsicht gegen Irrtümer, die im Leben und in der Literatur so sehr hergebracht ist, zum Verbrechen machte.

Eine solche Natur konnte wohl mit Behaglichkeit in sich selbst zurückkehren, doch finden wir auch hier jene altertümliche Eigenheit, daß er sich immer mit sich selbst beschäftigte, ohne sich eigentlich zu beobachten. Er denkt nur an sich, nicht über sich, ihm liegt im Sinne, was er vorhat, er interessiert sich für sein ganzes Wesen, für den ganzen Umfang seines Wesens, und hat das Zutrauen, daß seine Freunde sich auch dafür interessieren werden. Wir finden daher in seinen Briefen vom höchsten moralischen bis zum gemeinsten physischen Bedürfnis alles erwähnt, ja er spricht es aus, daß er sich von persönlichen Kleinigkeiten lieber als von wichtigen Dingen unterhalte. Dabei bleibt er sich durchaus ein Rätsel und erstaunt manchmal über seine eigene Erscheinung, besonders in Betrachtung dessen, was er war und was er geworden ist. Doch so kann man überhaupt jeden Menschen als eine vielsilbige Scharade ansehen, wovon er selbst nur wenige Silben zusammenbuchstabiert, indessen andre leicht das ganze Wort entziffern.

Auch finden wir bei ihm keine ausgesprochenen Grundsätze; sein richtiges Gefühl, sein gebildeter Geist dienen ihm im Sittlichen wie im Ästhetischen zum Leitfaden. Ihm schwebt eine Art natürlicher Religion vor, wobei jedoch Gott als Urquell des Schönen und kaum als ein auf den Menschen sonst bezügliches Wesen erscheint. Sehr schön beträgt sich Winckelmann innerhalb der Grenzen der Pflicht und Dankbarkeit.

Seine Vorsorge für sich selbst ist mäßig, ja nicht durch alle Zeiten gleich. Indessen arbeitet er aufs fleißigste, sich eine Existenz aufs Alter zu sichern. Seine Mittel sind edel; er zeigt sich selbst auf dem Wege zu jedem Zweck redlich, gerade, sogar trotzig und dabei klug und beharrlich. Er arbeitet nie planmäßig, immer aus Instinkt und mit Leidenschaft. Seine Freude an jedem Gefundenen ist heftig, daher Irrtümer unvermeidlich, die er jedoch bei lebhaftem Vorschreiten ebenso geschwind zurücknimmt als einsieht. Auch hier bewährt sich durchaus jene antike Anlage, die Sicherheit des Punktes, von dem man ausgeht, die Unsicherheit des Zieles, wohin man gelangen will, sowie die Unvollständigkeit und Unvollkommenheit der Behandlung, sobald sie eine ansehnliche Breite gewinnt.


 © textlog.de 2004 • 16.11.2024 09:50:20 •
Seite zuletzt aktualisiert: 30.10.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Gedichte  West-östlicher Divan  Zur Farbenlehre  Italienische Reise