Gesamtbewußtsein ist der Zusammenhang, die Gleichartigkeit, Einheit der geistigen Inhalte in einer Gemeinschaft von Individuen. Es ist das Produkt der Wechselwirkungen zwischen diesen, zugleich eine jedem Einzelgeiste übergeordnete, objektive Macht. Der Gesamtgeist ist die Totalität der Vorstellungen und Gefühle, der Gesamtwille die Willensresultante der Gemeinschaft. Als höchster Gesamtgeist und Gesamtwille kann Gott (s. d.) angesehen werden.
Vom »objektiven Geist« (s. d.) sowie von »Volksgeistern« spricht HEGEL. So auch die organische Staatslehre (s. d.). Ferner STEINTHAL (Zeitschr. f. Völkerspych. I, 1860) und LAZARUS. Nach ihm ist der Geist »das gemeinschaftliche Erzeugnis der menschlichen Gesellschaft« (Leb. d. Seele I2, 333). Der »Geist der Gesamtheit« ist die Einheit der Einzelgeister, die von ihnen verschieden ist und sie alle beherrscht (l.c. S. 335). Der Volksgeist ist der Inhalt des Gleichen im Volke (l.c. S. 373). Nach SCHÄFFLE ist der Volksgeist »ein durch die ganze geschichtliche Geistesarbeit angehäuftes, fortgesetzt überliefertes, in jeder Generation modifiziertes, vielseitig gegliedertes System geistiger Energien und Spannkräfte, welche, über alle aktiven Elemente des Volkskörpers vereinigt, die einzelnen zu einer geistigen Collectivkraft vereinigen« (Bau u. Leb. d. soc. Körp. 2. A. 1896). SCHÄFFLE, H. SPENCER, P. v. LILIENFELD, R. WORMS u. a. betrachten die Gesellschaft nach Analogie eines Organismus. Vom »social medium« spricht LEWES. Nach einigen Sociologen gibt es ein »Gesamt-Ich«. P. BARTH erklärt: »Zeitweilig, in den Momenten gemeinsamen Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns hat eine Gesellschaft ein Bewußtsein« (Philos. d. Gesch. I, 154; vgl. S. 10).
RATZENHOFER betrachtet den »Socialwillen« als zusammenfassende Kraft, als Resultierende aller Triebe in der Gesellschaft (Sociolog. Erk. S. 285 ff.). WUNDT erblickt in der Volksseele ein Erzeugnis der Wechselwirkung der Individuen, das ebenso real ist wie diese selbst (Völkerpsychol. I l, 9 ff.). Aber sie existiert nur in und mit den Individuen (ib.). Als selbstbewußter Willenseinheit kommt der Gemeinschaft eine Gesamtpersönlichkeit zu (Gesch. d. Philos.2, S. 625 f.). Der einzelne differenziert sich erst aus einem Zustand sozialer Indifferenz heraus; von Anfang an besteht eine Gleichartigkeit der Richtung der Willenseinheiten (Eth.2, S. 449, 453, 408). Der Individualwille geht schließlich »in den Allgemeinwillen auf, um aus diesem abermals individuelle Geister von schöpferischer Kraft zu erzeugen« (l.c. S. 458 ff.). »In den geistigen Gemeinschaften und in den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns... geistige Zusammenhänge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesentlichen Beziehungen von dem Zusammenhang der Gebilde im individuellen Bewußtsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Wirklichkeit zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man den Zusammenhang der Vorstellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesamtbewußtsein und die gemeinsamen Willensrichtungen als einen Gesamtwillen bezeichnen. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, daß diese Begriffe ebensowenig etwas bedeuten, was außerhalb der individuellen Bewußtseins- und Willensvorgänge existiert, wie die Gemeinschaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeugnisse hervorbringt, zu denen in dem einzelnen nur spurweise Anlagen vorhanden sind, und indem sie für die Entwicklung des einzelnen von früh an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das individuelle Bewußtsein ein Objekt der Psychologie« (Gr. d. Psychol.5, S. 378 f.). - Nach LOTZE (Mikrok. III, 425) und TEICHMÜLLER gibt es keinen objektiven Gesamtgeist, nur Individuen (Neue Grundleg. S. 226, 228). Vgl. UNOLD, Gr. d. Eth. S. 175 f. Vgl. Soziologie Volksgeist.