Satz vom zureichenden Grunde

Grunde, Satz vom (zureichenden) (»principium rationis sufficientis«) ist ein Denkgesetz (s. d.), eine Denknorm, welche für jeden Gedanken, jedes Urteil einen Grund, d.h. einen gültigen Satz fordert, durch den die Notwendigkeit des fraglichen Urteils sich rechtfertigt. Das (logische) Denken geht auf Zusammenhang und Folgerichtigkeit (Konsequenz) der Denkakte aus, der Satz vom Grunde gibt der Forderung des logischen Zusammenhanges, der Konsequenz (die schließlich auf der Einheit des Ich beruht) Ausdruck. Unbegründet darf nichts behauptet werden, soll dem Wahrheitswillen Genüge geschehen.

Der Satz vom Grunde wird bald logisch und ontologisch, bald rein logisch formuliert, in ontologischer Form (zugleich als Kausalgesetz) besonders in früheren Zeiten. So bei PLATO: anankaion, panta ta gignomena dia tina aitian gignesthai (Phileb.); pan de to gignomenon hyp' aition tinos ex anankês gignesthai. panti gar adynaton chôris aitiou genesin schein (Tim. 28 A). Ferner bei ARISTOTELES: pasôn men oun koinon tôn archôn, to prôton einai, hothen ê estin ê ginetai ê gignôsketai (Met. I, 1). So auch bei den Stoikern: malista men kai prôton einai doxeie, to mêden anaitiôs gignesthai, alla kata proêgoumenas aitias (Plut., De fato).

DESCARTES erklärt: »Nulla res existit, de qua non possit quaeri, quaenam sit causa, cur existat« (Resp. ad II. obiect., ax. I). Und SPINOZA: »Notandum, dari necessario uniuscuiusque rei existentis certam aliquam causam, propter quam existit« (Eth. I, prop. VIII). Die Bedeutung des Satzes vom Grunde betont aber erst LEIBNIZ. Der Satz bedarf keines Beweises (5. Brief an Clarke 125). Er bezieht sich auf empirische Wahrheiten, dient zur logischen Verarbeitung von Erfahrungsinhalten (3. Brief an Clarke, Erdm. p. 751). Dazu ist nötig eine »raison suffisante, pour qu'une chose existe, qu'un événement arrive, qu'une vérité ait lieu« (Gerh. VII, 419), »raison suffisante, en vertu duquel nous considérons qu'aucun fait ne saurait se trouver vrai ou existant, aucune énonciation véritable, sans qu'il y ait une raison suffisante, pourquoi il en soit ainsi et non pas autrement« (Monadol. 32; vgl. Theod. I, § 44). Nach CHR. WOLF ist der Satz vom Grunde »menti nostrae naturale« (Ontol. § 74). Er lautet: »Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit« (l.c. § 70). »Alles, was ist, hat seinen zureichenden Grund, warum es vielmehr ist, als nicht ist« (Vern. Ged. I, § 928). »Da nun unmöglich ist, daß aus nichts etwas werden kann, so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas sein, daraus man verstehen kann, warum es wirklich werden kann« (l.c. I, § 30). Gegen Wolf polemisiert CRUSIUS, Diss. philos. de usu et limit. princip. ration. determin. 1743. FEDER unterscheidet vom metaphysischen Satze des Grundes (Log. u. Met. S. 265 ff.) den »logischen Grundsatz vom zureichenden Grunde«, »daß wir ohne Grund nichts für wahr halten können und sollen« (l.c. S. 269). Das »Prinzip der Folge« stellt BAUMGARTEN auf: Nichts ist ohne ein Begründetes, alles hat seine Folge.

KANT formuliert: »Nihil est verum sine ratione determinante« (Princ. pr. cogn. sct. II, prop. V). Der Satz: »alle Dinge haben ihren Grund«, d.h. »alles existiert nur als Folge, d. i. abhängig, seiner Bestimmung nach, von etwas anderem« gilt ausnahmslos nur von den Dingen als Erscheinungen (Üb. e. Entdeck. S. 33). Es ist eine apriorische Regel, »daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendigerweise) folgt«. »Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund möglicher Erfahrung, nämlich der objektiven Erkenntnis der Erscheinungen, in Ansehung des Verhältnisses derselben in der Reihenfolge der Zeit« (Kr. d. r. Vern. S. 189). Dieser Satz hat folgenden Beweisgrund: »Zu aller empirischen Erkenntnis gehört die Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft, die jederzeit successiv ist, d. i. die Vorstellungen folgen in ihr jederzeit aufeinander. Die Folge aber ist in der Einbildungskraft der Ordnung nach (was vorgehen und was folgen müsse) gar nicht bestimmt, und die Reihe der einen der folgenden Vorstellungen kann ebenso rückwärts als vorwärts genommen werden. Ist aber diese Synthesis eine Synthesis der Apprehension (des Mannigfaltigen einer gegebenen Erscheinung), so ist die Ordnung im Objekt bestimmt, oder, genauer zu reden, es ist darin eine Ordnung der successiven Synthesis, die ein Objekt bestimmt, nach welcher etwas notwendig vorausgehen und, wenn dieses gesetzt ist, das andere notwendig folgen müsse« (l.c. S. 189 f.). Nach a. E. SCHULZE lautet der Satz vom Grunde: »Jedes wahre Urteil, es sei bejahend oder verneinend, muß einen Grund haben; oder die Wahrheit eines Urteils ist immer die Folge einer andern Erkenntnis, wodurch der Verstand genötigt wird, das im Urteile zwischen dem Grundund Beziehungsbegriffe gedachte Verhältnis davon für wahr anzunehmen« (Allg. Log. § 19). FRIES: »Jede Behauptung in einem Satze muß einen anderweiten zureichenden Grund haben, warum sie ausgesagt wird« (Syst. d. Log. S. 177). »Der Satz des Grundes hat es nur mit dem subjektiven Verhältnisse der Urteile zur unmittelbaren Erkenntnis zu tun und gibt also gar kein philosophisches Grundgesetz« (l.c. S. 178). J. G. FICHTE leitet den Satz vom Grunde aus der Tätigkeit des Ich (s. d.) ab. »Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Teilbarkeit. Wird von dem bestimmten Gehalte, dem Ich und Nicht-Ich, abstrahiert, und die bloße Form der Vereinigung entgegengesetzter durch den Begriff der Teilbarkeit übriggelassen, so haben wir den logischen Satz, den man bisher den des Grundes nannte: A zum Teil = - A und umgekehrt« (Gr. d. g. Wiss. S. 28). HEGEL betrachtet den Satz vom Grunde als die Bedingtheit der Begriffe durch andere. »Was ist, ist nicht als Seiendes unmittelbar, sondern als Gesetztes zu betrachten« (Log. II, 76). »Alles hat seinen zureichenden Grund, d.h. nicht die Bestimmung von etwas als Identisches mit sich, noch als Verschiedenes, noch als bloß Positives oder als bloß Negatives, ist die wahre Wesenheit von etwas, sondern daß es sein Sein in einem andern hat, das als dessen Identisches-mit-sich sein Wesen ist« (Encykl. § 121).

Nach WAITZ sagt der Satz des Grundes psychologisch: »Alle psychischen Phänomene, mit Ausnahme der sinnlich gegebenen oder der einfachen Vorstellungen, sind ableitbar aus anderen« (Lehrb. d. Psychol. S. 561). ULRICI spricht vom »Gesetz der Kausalität« an Stelle des Satzes vom Grunde. »Alles Gedachte hat notwendig an der Denktätigkeit seine Ursache.« »Alles Unterschiedene (Mannigfaltige, Einzelne) muß als gesetzt durch eine unterscheidende Tätigkeit gedacht werden« (Log. S. 115). HAMILTON stützt den Satz vom Grunde auf den Identitätssatz. Auch HEYMANS und RIEHL: »Aus dem Gedanken der ursprünglichen Einheit und Sich-selbst-Gleichheit ergibt sich...: daß die Veränderung einen Grund haben müsse« (Philos. Krit. II 1, 246). »Aus der Idee des logischen Ganzen, der synthetischen Einheit der Begriffe, entspringt... die Forderung des Grundes, welche eine Aufgabe stellt« (l.c. S. 238). »Wir fordern... für jede begriffliche Besonderung den Nachweis ihres Zusammenhangs mit dem Ganzen und ihres Hervorgangs aus demselben« (ib.). Nach B. ERDMANN besteht beim Beweis der zureichende Grund »aus dem Inbegriff der Urteile, aus denen der zu beweisende Satz, die Folge, denknotwendig ableitbar ist« (Log. I, 296).

Ale Grundgesetz denkender Verarbeitung von Erfahrungen betrachtet den Satz vom Grunde SCHOPENHAUER. Der Satz ist der allgemeinste Ausdruck für Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Bewußtseinsinhalten aller Art. »Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen untereinander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehen, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grunde in seiner Allgemeinheit ausdrückt« (Vierf. Wurz. d. Satz. vom zur. Gr. C. 3, § 16). Je nach der Art der Objekte nimmt der Satz verschiedene Gestalten an, die in vier Klassen zu bringen sind: 1) Satz vom Grunde des Werdens: »Alle in der Gesamtvorstellung, welche den Komplex der erfahrungsmäßigen Realität ausmacht, sich darstellenden Objekte sind hinsichtlich des Ein- und Austrittes ihrer Zustände, mithin in der Richtung des Laufes der Zeit, durch ihn miteinander verknüpft.« »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt, so muß ihm ein anderer vorhergegangen sein, auf welchen der neue regelmäßig, d.h. allemal, so oft der erstere da ist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung« (l.c. § 20). Die Kausalität stellt sich als physikalische, organische (Reiz) und psychologische dar. 2) Satz vom Grunde des Erkennens; dieser besagt, »daß, wenn ein Urteil eine Erkenntnis ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß« (l.c. § 29). 3) Satz vom Grunde des Seins: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Teile in einem Verhältnis zueinander stehen, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dieses Verhältnis Lage, in der Zeit Folge« (l.c. § 36). 4) Satz vom Grunde des Handelns (Gesetz der Motivation): »Bei jedem wahrgenommenen Entschluß, sowohl anderer als unser, halten wir uns berechtigt, zu fragen ›Warum?‹, d.h. wir setzen als notwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen« (l.c. § 43). Der Satz vom Grunde ist a priori, hat bloß empirische Geltung. »Der allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde überhaupt läuft darauf zurück, daß immer und überall jegliches nur vermöge eines anderen ist. Nun ist aber der Satz vom Grund in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserem Intellekt: Daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit Einschluß dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden« (l.c. § 52). Nach WUNDT ist der Satz vom Grunde das »Grundgesetz der Abhängigkeit unserer Denkakte voneinander« oder das »allgemeine Gesetz der Abhängigkeit der Begriffe«. Er bedarf der Anschauung (Erfahrung) zu seinen Anwendungen, und alles Anschauliche fügt sich seinem Gebrauche. Aber er ist kein Produkt der Erfahrung, da er erst Erfahrungszusammenhang erzeugt; in der Erfahrung hat er nur die Bedingungen seiner Anwendung (Syst. d. Philos.2, S. 77 ff., 167). Er ist ein »Prinzip der allgemeinen Verbindung unserer Denkakte«, das Prinzip des begründenden Denkens, ein Erkenntnisgesetz (l.c. S. 80 ff., 167 f.). Er wird zu einem »Prinzip der Verbindung aller Teile des gesamten Erkenntnisinhalts«, zu einem »Prinzip der widerspruchslosen Verknüpfung des Gegebenen«. Er liegt der Vernunfterkenntnis (s. d.), dem Fortschritte zur Transcendenz (s. d.),. zu den Ideen (s. d.) zugrunde (l.c. S. 168 ff.; Log. I2, 557 ff., 606 ff.). Nach H. COHEN muß das Denkgesetz des Grundes das Idealgesetz des Denkens werden, es ist das »Gesetz des reinen Denkens, der reinen Erkenntnis« (Log. S. 232, 266), entspringt dem Trieb des Denkens nach rastlosem Bedingen (1. c S. 262). Der Grund besteht nur im Legen des Grundes, im Bedingen (ib.).


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