Dialektik. - Kant, Fichte, Hegel
KANT erklärt, die Dialektik sei nur eine »Logik des Scheins« (Kr. d. r. Vern. S. 83), eine »ars sophistica, disputatoria«, die aus einem Mißbrauch der Logik entspringt (Log. S. 11). Denn »da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntnis lehret, sondern nur bloß die formalen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstande..., so muß die Zumutung, sich derselben als eines Werkzeugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten« (Kr. d. r. Vern. S. 84). K. selbst will unter Dialektik nur »eine Kritik des dialektischen, Scheins« verstanden wissen. Auf dem Gebiete des Erkennens zunächst besteht eine in der Natur des Denkens liegende »transzendentale Dialektik«, die zu einer Verwechselung subjektiver Notwendigkeit mit objektiver Realität führt. Sie »beruht auf ursprünglichen, natürlichen Illusionen, auf einem transzendentalen Schein, dessen Folge es ist, daß in unserer Vernunft... Grundregeln und Maximen ihres Gebrauches liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer Verknüpfung unserer Begriffe zugunsten des Verstandes für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird« (Krit. d. r. Vern. S. 263). Die »transzendentale Dialektik« als Kritik begründet den »Schein«, ohne ihn zerstören zu können (l.c. S. 263 f.). »Da aller Schein darin besteht, daß der subjektive Grund des Urteils für objektiv gehalten wird, so wird eine Selbsterkenntnis der reinen Vernunft in ihrem transzendentalen (überschwenglichen) Gebrauch das einzige Verwahrungsmittel gegen die Verirrungen sein, in welche die Vernunft gerät, wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet und dasjenige transzendenterweise aufs Objekt an sich selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauche angeht« (Proleg. § 40; vgl. § 45). Die transzendentale Dialektik besteht in der Untersuchung der Paralogismen (s. d.), Antinomien (s. d.) und Ideale (s. d.) der reinen Vernunft. Es gibt auch eine Dialektik der praktischen Vernunft, indem diese unter dem Namen des höchsten Gutes (s. d.) ein Unbedingtes sucht (Kr. d. pr. Vern. I. T., 2. B.). So auch in der Urteilskraft, nämlich betreffs der Antinomien des Geschmacks (s. d.) (Kr. d. Urt. § 55 ff.).
J. G. FICHTES philosophische Methode, nach welcher in Entgegengesetztem das übereinstimmende Merkmal aufgesucht und der Dreischritt: Thesis, Antithesis, Synthesis gemacht wird, ist dialektisch (»synthetisch«, Gr. d. g. Wiss. S. 31; ähnlich HEGEL, S. weiter unten). SCHLEIERMACHER versteht unter Dialektik eine »Kunstlehre des Denkens«, die Kunst des Begründens (Dialekt. S. 8), die philosophische Prinzipienlehre (Metaphysik und Erkenntnistheorie). Dialektik ist die Philosophie, weil das Wissen ein Produkt des gemeinsamen Denkens ist (l.c. S. 66). Sie ist »die Idee des Wissens unter der isolierten Form des Allgemeinen« (l.c. S. 309, vgl. S. 22, 315). SCHOPENHAUER versteht unter Dialektik »die Kunst des auf gemeinsame Erforschung der Wahrheit, namentlich der philosophischen, gerichteten Gespräches« (W. a. W. u. V. II. Bd., a. 9). SPICKER erklärt: »Unter Dialektik verstehen wir nicht bloß eine Begriffszergliederung, sondern zugleich auch eine Begriffserzeugung. Beides zusammen fassen wir unter den Ausdruck: ›Begriffsentwicklung‹. Die zwei Hauptmomente der Dialektik sind also: Analyse und Synthese. In jener wird gezeigt, was ein Begriff ist und was er nicht ist; in dieser, was er sein soll« (K., H. u. B. S. 165). WUNDT versteht unter dialektischen Methoden »alle diejenigen philosophischen Methoden..., bei denen aus gegebenen Begriffen vermittelst einer rein logischen Entwicklung andere Begriffe abgeleitet werden« (Phil. Stud. XIII, 68).
Auf die Wirklichkeit selbst wendet zuerst PROKLUS den Begriff der Dialektik an. Der Weltprozeß macht eine triadische Entwicklung durch: aus der Einheit oder Ursache, in der das Erzeugte vermöge seiner Ähnlichkeit verharrt (monê) tritt es heraus infolge seiner Unähnlichkeit (proodos), um dann wieder zu ihr zurückzukehren (epistrophê) (Procli stoicheiôsis theologikê, c. 31 ff.). Später überträgt HEGEL die dialektische Entwicklung, die nach ihm das logische Denken beherrscht, auf das Sein. Die Dialektik ist »die wissenschaftliche Anwendung der in der Natur als Denkens liegenden Gesetzmäßigkeit« (Enzykl. § 10) und zugleich diese Gesetzmäßigkeit selbst. Diese besteht in der immanenten Bewegung des. »Begriffs« (s. d.), der infolge des in ihm steckenden »Widerspruchs« (s. d.) sich selbst aufhebt, um wieder zu sich, auf einer höheren Stufe, zurückzukehren. Der Begriff schlägt in sein Gegenteil um, geht mit diesem in einem höheren Begriff zusammen, wodurch der Widerspruch »aufgehoben« wird. »Das dialektische Moment ist das eigene Sich-aufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte« (Enzykl. § 81). So entwickeln sich die Begriffe auseinander »in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange« (Log. I, 41). Der Geist ist hierbei nicht produktiv, sondern sieht der Selbstentwicklung des Begriffs zu (Rechtsphil. S. 65). Die Dialektik ist »die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt« (Enzykl. § 81). Die geistige Entwicklung geht vom An-sich-sein durchs Für-sich-sein zum An- und Für-sich-sein. HILLEBRAND: »Alles, Geistige hat Form und Inhalt... nur in der Dialektik seines eigenen Tuns« (Phil. d. Geist. II, 95). SCHASLER erklärt den dialektischen Prozess als »Fortgang vom abstrakt Allgemeinen durch die Differenz und Besonderung zum Individuellen, worin der in der Besonderung enthaltene Gegensatz zu einer höheren Einheit aufgehoben, d.h. die abstrakte Einheit des Allgemeinen zur konkreten erhoben wird« (Kr. Gesch. d. Ästh. S. 8). J. E. ERDMANN überträgt die Dialektik auf die Psychologie (Psychol. Briefe3, 209, 250, 256). BAHNSEN nimmt nur eine »Realdialektik«, eine (antilogische) dialektische Entwicklung des Seins an (s. Widerspruch). R. HAMERLING betrachtet die Seins-Dialektik als logisch, zweckmäßig, er kennt auch eine Dialektik des Denkens und der Anschauung (Atom. d. Will. I, 73 ff.). Im Sinne Hegels lehrt CARNERI (Sittl. u. Darwin. S. 12). Vgl. E. DÜHRING, Natürl. Dialektik 1865.