Leib

Leib heißt der Körper in seiner Zugehörigkeit zur Seele (s. d.), der organisierte, beseelte Körper, der zwar vom Geiste (s. d.), von den höheren Denk- und Willensfunktionen als untergeordnetes System von Kräften verschieden ist, aber doch selbst, an sich, seelischer Art ist und der physikalisch-chemisch als Objektivation (s. d.), Äußerung, Ausdrucksform der Seele, des Psychischen betrachtet werden kann. Das Ich (s. d.) erfaßt sich zunächst in seinem Leibe, d.h. hier in dem Komplex von Gemein- und anderen Empfindungen, den es (wegen der Eigenart desselben: doppelte Tastempfindung, Schmerz u.s.w.) von anderen Komplexen unterscheidet. Seele und Leib sind zwei Daseins- und Betrachtungsweisen eines einheitlichen Wesens, eines Lebenssystems. Eine Wechselwirkung (s. d.) zwischen Leib und Seele besteht nur insofern, als der Leib schon als Seele auf die Seele (den »Geist«, die höheren Funktionen) einwirkt. Der Leib als »Körper« geht in seinen Prozessen der »Seele« »parallel« (s. Parallelismus).

Der Leib wird der Seele schroff gegenübergestellt oder er wird als Produkt oder Erscheinung der Seele selbst angesehen.

Die Vedanta-Philosophie lehrt die Existenz eines Astralleibes, eines feinen Seelenleibes (»açraya, sûkshmam çarîam«). Auch der Zend-Avesta (»feruer«). Die Pythagoreer nennen den Leib ein »Zeichen« der Seele (sêma tês psychês) (Plat., Cratyl. 400 B). PLATO und die Neuplatoniker sehen im Leibe einen »Kerker« der Seele (s. d.). CICERO bemerkt: »Corpus quidem quasi vas est aut aliquod animi receptaculum« (Tusc. disput. I, 12, 52). PORPHYR (Sent. 32), JAMBLICH (De myst. Aegypt. I, 8; V, 10), HIEROKLES (sôma aitherion), SYRIANUS, PRISCIAN (Solut. p. 255 b) nehmen einen »Ätherleib« (s. d.) an. - Im Neuen Testamente unterscheidet PAULUS sarx und sôma. Das sôma pneumatikon, der pneumatische, geistige Leib, wird dereinst auferstehen (2. Kor. 5, 1 ff.; 1. Kor. 15, 44; Röm. 8, 21, 29). Nach VALENTINUS, BASILIDES, ORIGENES (De princip. II, 8, 4; 10, 7) ist die Verleiblichung der Seele eine Folge des Sündenfalles (vgl. SIEBECK, Gesch. d. Psychol. I 2, 362). Die Auferstehung mit einem ätherischen Leibe lehren ORIGENES (De princ.), TERTULLIAN (De carne Chr. 6), AUGUSTINUS (De div. et daem. 3, 5) u. a. Nach GREGOR VON NYSSA ist der Leib an sich geistiger Natur (SIEBECK, Gesch. d. Psychol. I 2, 377). Nach JOH. SCOTUS ERIUGENA schafft sich die Seele einen intelligiblen Körper geistiger Art (De divis. natur. IV, 9; IV, 12). Der sinnliche Leib ist ein Produkt der Seele nach dem Sündenfalle (l.c. II, 25; IV, 13). Einen »siderischen« Leib (Astralleib) nimmt die Kabbalâ an, ferner PARACELSUS (»corpus spiritus«, »unsichtiger Leib«, »corpus spirituale«, »syderischer Leib«, Phil. sag. I, 1; I, 3; I, 6; I, 9; De lunatic. II, 1; De virt. imag. WW. 1, 274; II, 406, 550). Ähnlich AGRIPPA, der den Seelenleib »Wagen der Seele« nennt (Occ. Philos. III, 36 f.).

DESCARTES stellt Seele (s. d.) und Leib einander dualistisch (s. d.) gegenüber. Seele und Leib sind durch Gott miteinander geeint. Nach SPINOZA sind Seele und Leib zwei Daseinsweisen eines Wesens. »Mens humana apta est ad plurima percipiendum, et eo aptior, quo eius corpus pluribus modis disponi potest« (Eth. IV, prop. XIV). »Omnia, quae in corpore humano contingunt, mens percipere debet« (l.c. dem.). Einen geistigen Leib nimmt J. BÖHME an.

Nach LEIBNIZ besteht der Leib an sich aus einer Vielheit geistiger Monaden (s. d.). Die Konstanz unseres Leibes als Unterscheidungsgrund gegenüber anderen Körpern betont CHR. WOLF: »Unter diesen Körpern halten wir einen für unsern Leib, weil sich die Gedanken von den übrigen nach ihm richten und er uns allezeit gegenwärtig bleibet, wenn sich alle übrigen ändern« (Vern. Ged. I, § 218). G. E. STAHL erklärt: »Corpus hoc verum et immediatum animae organon« (Disquis. de mech. et org. divers. p. 44; Opp. 1831; De scopo et fine corp. p. 238 ff.).

J. G. FICHTE erklärt: »Ich, als Prinzip einer Wirksamkeit in der Körperwelt angeschaut, bin ein artikulierter Leib« (Syst. d. Sittenlehre S. XV). Der Leib ist ein Triebkomplex (l.c. S. 138). Nach SCHELLING, SUABEDISSEN (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 190 f.), STEFFENS, MEHRING, ESCHENMAYER, c. G. CARUS (Symb. d. Leib. S. 3; Vorles. S. 272), SCHUBERT (Gesch. d. Seele S. 423), BURDACH (Anthropol. § 201, 208 ff., 391 ff.), HEINROTH (Psychol. S. 197 f.) ist der Leib die Manifestation der Seele, eine Gestaltung, ein Symbol derselben. Nach HEGEL ist der Leib »die Existenz der systematischen Gliederung des Begriffs selbst, der in den Gliedern des lebendigen Organismus seinen Bestimmtheit ein äußeres Naturdasein gibt« (Ästhet. I, 154). Seele und Leib sind »ein und dieselbe Totalität derselben Bestimmungen« (l.c. S. 155). SCHOPENHAUER nennt den Leib die »Sichtbarkeit« (»Objektität«) des Willens. Der Leib ist »das unmittelbare Objekt« des Willens. Dem Subjekt des Erkennens ist der Leib »auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes jedem unwittelbar Bekannte, welches das Wort ›Wille‹ bezeichnet«. Willensakt und Leibesbewegung sind zwei Betraschtungsweisen einer Wesenheit. »Die Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Act des Willens.« »Mein Leib und mein Wille sind eines« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 18 f.). Jede Leibesaction ist Erscheinung eines Willensaktes. Der ganze Leib ist der »sichtbar gewordene Wille«. »Die Teile des Leibes müssen deshalb den Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich manifestiert, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben sein: Zähne, Schlund und Darmcanal sind der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen« (1. e. § 20). BENEKE erklärt: »Was wir vom menschlichen Leibe durch die Sinne auffassen, oder was man gewöhnlich ›den Leib‹ nennt, haben wir nur als äußere Zeichen oder Repräsentanten von dem innern (An-sich-) Sein des Leibes anzusehen, welches, ebenso wie die Seele, aus gewissen Kräften und deren Entwicklungen besteht, die zwar von denen der Seele verschieden, aber doch denselben im wesentlichen gleichartig sind« (Lehrb. d. Psychol.3, S. 35; Syst. d. Met. S. 91 ff., 194 ff.; Verhältn. von Leib u. Seele S. 239 ff.). Nach LOTZE besteht der Leib aus Monaden (s. d.). Nach ULRICI ist der Leib ein Inbegriff von Atomen, bei welchen die einigende Kraft in der Widerstandskraft liegt (Leib u. Seele S. 131) FORTLAGE nimmt einen »Empfindungs-« oder »Seelenleib« an (Blätt. f. liter. Unterhalt. 1861, Nr. 46). Nach J. H. FICHTE ist der Leib der reale »Ausdruck der Individualität der Seele« (Anthropol. S. 257), die »Vollgebärde« der Seele (Psychol. II, 81), das »Raum- und Zeitbild« der Seele (l.c. I, 13). Es gibt einen »innern Leib«, »pneumatischen Organismus«, »Geistleib«, der »von der Seele selbst durch vorbewußte raumconstruierende Phantasietätigkeit produziert« wird (l.c. I, 13, 66; Anthropol. S. 269, 283). So auch nach OETINGER, PERTY, AKSAKOW, DU PREL (Mon. Seelenl. S. 131 ff.) u. a. Nach TEICHMÜLLER ist der Leib »das Coordinatensystem der lebendigen Kräfte der bewegenden Funktion des Ich - sofern dieses System durch die Funktionen beherrschter anderer Wesen sich in Wirklichkeit erhält« (Neue Grundleg. S. 209). Das Wesen des Leibes gehört dem Ich (der Seele) selbst an (l.c. S. 213). Nach A. LASSON ist der Leib an sich (im Unterschiede vom Körper) kein Ding, sondern ein Prozess, die »idea corporis«, die »Entelechie« des Körpers, die Seele selbst, ein Inbegriff von Reflexen, Instinkten u.s.w. (Der Leib; Philos. Vorträge III, 6. H., 1898, S. 54, 71 f. 78 ff, 84 f.). -Nach FECHNER ist der Leib die Außenseite desselben Wesens, das sich unmittelbar als Seele (s. d.) erscheint (Üb. d. Seelenfr. S. 9 ff.). Nach WUNDT sind Leib und Seele (s. d.) nur Inhalte zweier Betrachtungsweisen eines und desselben Seins. Nach Du PREL ist der Leib Produkt, Gestaltung der Seele, Sichtbarkeit dieser (Mon. Seelenl. S. 128 ff.). Nach RENOUVIER, E. V. HARTMANN, L. BUSSE u. a. besteht der Leib aus Monaden (s. d.). - SCHUPPE erklärt: »Der eigene Leib gehört zum Inhalt des Bewußtseins, d.h. ist etwas und besteht aus lauter etwas, dessen oder deren das Ich sich bewußt ist. Grundlage alles dessen, was diesen Bewußtseinsinhalt ausmacht, ist, daß das Ich unmittelbar sich mit der Bestimmtheit seiner compakten Ausgedehntheit empfindet oder sich dieser bewußt ist« (Log. S. 26 f.). Vgl. Seele, Körper, Physisch, Parallelismus, Identitätsphilosophie, Wechselwirkung, Selbstbewußtsein, Ich.


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