Lichtempfindungen

Lichtempfindungen sind die Empfindungen des Gesichtssinnes (s. d.), die zum äußeren Reize transversale Schwingungen des Lichtäthers (450-800 Billionen), zum inneren Reize chemische Prozesse in der Netzhaut haben. Sie zerfallen in Helligkeits- und Farbenempfindungen. Von der Energie, der Wellenlänge und der Zusammensetzung der Ätherschwingungen hängen Helligkeit, Farbenton und Sättigung der Lichtempfindungen ab. Organ der Lichtempfindung sind die »Stäbchen« und »Zapfen« der Netzhaut. Der »blinde Fleck« (Eintrittsstelle des Sehnerven) ist für Licht nicht empfänglich (weil ohne Stäbchen- und Zapfenschicht; der »gelbe Fleck« ist die Stelle des deutlichsten Sehens (wegen der dichten Zapfenanordnung). Es gibt eine Reihe von »Grundfarben«, die sich in einem »Farbensystem« anordnen lassen (Farbenkreis, Farbenpyramide), und die »Weiß-Schwarz-Reihe« (»reine Helligkeitsempfindungen«). An jeder Farbe ist zu unterscheiden: »Farbenton« (die Farbenqualität: rot u.s.w.), »Sättigungsgrad« (Sättigung, abhängig von der geringen Blässe, Weißlichkeit), »Helligkeit« (Lichtstärke). Farben, die in qualitativem Gegensatze zueinander stehen und sich zu Weiß verbinden lassen, heißen »Gegenfarben«, »Ergänzungs- (Komplementär-) Farben«. Licht- und Farbenkontrast besteht darin, daß in der Umgebung eines Lichteindrucks eine Empfindung von entgegengesetzter Helligkeit oder Farbe entsteht (»Randkontrast«). Es gibt verschiedene Farbentheorien (s. unten).

EMPEDOKLES nimmt als Grundfarben (wie die Pythagoreer) an: Weiß, Schwarz, Gelb, Rot (Theophr., De sens. 59). DEMOKRIT ersetzt das Gelb durch Grün (l.c. 73 squ.). Nach ARISTOTELES ist die Farbenempfindung die enargestatê aisthêsis (Probl. VII, 5). Die objektive Farbe entsteht aus der Mischung des »Durchsichtigen« mit dem Undurchsichtigen. Die Farbenempfindung entsteht durch Umwandlung des dynamei Durchsichtigen im Auge in actuell Durchsichtiges (De an. II, 7). Alle Farben gehen aus der Verbindung von Weiß und Schwarz hervor (ib.; vgl. De sens. 2). Ähnliche Anschauungen im Mittelalter, wo zugleich die Lehre von den »species« (s. d.) herrscht.

Gegen die NEWTONISCHE Farbentheorie kämpft GOETHE, indem er die physiologische Funktion des Sehens in den Vordergrund rückt. »Die Netzhaut befindet sich bei dem, was wir sehen heißen, zu gleicher Zeit in verschiedenen, ja in entgegengesetzten Zuständen« (WW. XXXV, 02). Aus Hell und Dunkel gehen die Farben hervor. »Ein Weißes, das sich verdunkelt, das sich trübt, wird gelb, das Schwarze, das sich erhellt, wird blau« (I. c. S. 219). Gelb entsteht durch erhelltes Trübes bei lichtem Grunde, Blau bei dunklem Grunde. Rot ist die gesteigerte Einheit, Grün die Indifferenz der beiden Gegensätze (l.c. S. 262 ff.). Ähnlich lehrt HEGEL. SCHOPENHAUER betont, »daß Helle, Finsternis und Farbe... Zustände, Modifikationen des Auges sind, welche unmittelbar bloß empfunden werden«. »Das die volle Einwirkung des Lichts empfangende Auge äußert... die volle Tätigkeit der Retina. Mit Abwesenheit des Lichtes oder Finsternis tritt Untätigkeit der Retina ein« (Üb. d. Seh. u. d. Farb. § 2). Auf der »intensiven Teilbarkeit« der Retinatätigkeit beruht die Helligkeitsreihe, auf der »qualitativ geteilten Tätigkeit« der Retina die Farbenreihe. Jeder Farbe ist ein Grad von Helle oder Dunkelheit wesentlich (ib.). »Die Farbe ist die qualitativ geteilte Tätigkeit der Retina. Die Verschiedenheit der Farben ist das Resultat der Verschiedenheit der qualitativen Hälften, in welche diese Tätigkeit auseinandergehen kann, und ihres Verhältnisses zueinander« (l.c. § 5 ff.; vgl. Parerg. II). Es gibt drei Haupt-Farbentheorien. Nach der YOUNG-HELMHOLTZschen Hypothese ist jedes Netzhautelement dreier elementarer Erregungen fähig, die einzeln die Empfindungen des Roten, Grünen, Violetten auslösen und durch deren Verbindung alle übrigen Farben entstehen (vgl. HEIMHOLTZ, Physiol. Opt. § 19 ff.; Vortr. u. Red. I4, 312 f.). Nach HERING gibt es drei Sehsubstanzen, von welchen jede zwei gegensätzliche Prozesse durchmacht: eine weiß-schwarz, rot-grün, gelb-blau auslösende Substanz, deren Dissimilation Weiß, Rot, Gelb, deren Assimilation Schwarz, Grün, Blau erregt (Zur Lehre vom Lichtsinn 1 ff.). Nach WUNDT besteht »jede einfache Lichtempfindung wahrscheinlich aus der Verbindung zweier photochemischer Prozesse..., eines achromatischen, der sich wieder aus einer bei größerer Lichtstärke überwiegenden Zersetzung und aus einer bei schwächerem Licht vorwaltenden Restitution zusammensetzt, und eines chromatischen, welcher sich derart stufenweise verändert, daß die ganze Folge der photochemischen Farbenzersetzungen einen Kreisprozess bildet, in dem sich die Zersetzungsprodukte je zweier relativ entferntester Stufen wechselseitig aufheben« (Gr. d. Psychol.5, S. 90; Philos. Stud. IV; Grdz. d. physiol. Psychol. II5, C. 10; vgl. über Farbentheorien: CHR. L. FRANKLIN, Zeitschr. f. Psychol. IV, 211; EBBINGHAUS, Zeitschr. f. Psychol. V, 145 ff. u. Gr. d. Psychol. I, 180 ff., 245 ff.; J. VON KRIES, Zeitschr. f. Psychol. IX, 81; G. E. MÜLLER, Zeitschr. f. Psychol. X, 1 u. 321). - Nach WUNDT besteht das System der Lichtempfindungen »aus zwei Partialsystemen, den farblosen Empfindungen und den Farbenempfindungen, zwischen deren Qualitäten aber alle möglichen stetigen Übergänge stattfinden können« (Gr. d. Psychol.5, S. 67). »Die farblosen Empfindungen bilden, für sich allein betrachtet, ein System von einer Dimension.« Es »hat die Eigenschaft, daß es, abweichend von der Tonlinie, gleichzeitig ein Qualitäts- und ein Intensitätssystem ist, indem jede Qualitätsänderung in der Richtung von Schwarz nach Weiß zugleich als Intensitätszunahme, und jede Qualitätsänderung in der Richtung von Weiß nach Schwarz als Intensitätsabnahme empfunden wird. Jede auf solche Weise qualitativ und intensiv bestimmte Stufe des Systems nennt man die Helligkeit der farblosen Empfindung« (System der »reinen Helligkeitsempfindungen«) (l.c. S. 68). Das System der Farbenempfindungen ist auch eindimensional, aber in sich zurücklaufend (l.c. S. 70). »Die durch die Einordnung in das Farbensystem bestimmte Qualität der Empfindung nennt man... den Farbenton.« »Unter Farbengrad oder Sättigung versteht man die Eigenschaft der Farbenempfindungen, in beliebigen Übergängen zu farblosen Empfindungen vorzukommen« (l.c. S. 71). Ferner kommt der Farbenempfindung Helligkeit zu. »Geht man nämlich von einer bestimmten Helligkeitsstufe aus, so nähert sich jede Farbenempfindung, wenn man ihre Helligkeit zunehmen läßt, in ihrer Qualität dem Weiß, während gleichzeitig die Intensität der Empfindung wächst.« Für jede Farbe gibt es eine gewisse mittlere Helligkeit, bei der ihre Sättigung am größten ist; für Rot ist dieser Helligkeitswert am höchsten, für Blau am niedrigsten (PURKINJEsches Phänomen, s. d.) (l.c. S. 73 f.). Das gesamte System der Lichtempfindungen ist ein dreidimensionales und in sich geschlossenes Kontinuum (l.c. S. 75 f.). Grundfarben sind Rot, Gelb, Grün, Blau (so zuerst L. DA VINCI). Vgl. VON KRIES, Die Gesichtsempfind. 1882. GRANT ALLEN, Der Farbensinn 1880. - Vgl. Nachbild, Kontrast.

 

 


Vergleiche ferner:

- Licht und Schatten (Sulzer: Allg. Th. d. schönen Künste)

- Zur Farbenlehre (Goethe)

 


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