Psychologie der Raumanschauung

 

Ein vermittelnder Standpunkt ist der der »Verschmelzungstheorie« (»präempiristische Raumtheorie«), welche die Räumlichkeit weder aus den Empfindungsinhalten als solchen ableitet, noch die Raumvorstellung selbst als angeboren betrachtet, sondern sie als ein Produkt synthetischer Tätigkeit des Bewußtseins selbst bestimmt. So HERBART. Nach ihm ist der Raum eine »Reihenform«, eine allmählich zustande gekommene Produktion der Psyche (Lehrb. z. Psychol.3, a 57 f.). Die ursprüngliche Auffassung des Auges ist nicht räumlich, auch nicht die des Tastsinnes. »Aber beim Sehen ist das Auge in Bewegung. es verrückt den Mittelpunkt seiner Gesichtsfläche. hiermit ist unaufhörlich ein Verschmelzen der gewonnenen Vorstellungen... verbunden.« »Die Vorstellung des Räumlichen erfordert eine Sukzession in dem aktus des Vorstellens« (l. c. S. I 19 ff.). Die Raumvorstellung ist die Reihenbildung, die sich durch ihre Umkehrbarkeit auszeichnet (Psychol. a. Wissensch. I, 488 f.). Ähnlich G. SCHILLING, welcher bemerkt: »Um die Bedingungen der Vorstellung des Räumlichen aufzufinden, erinnere man sich, daß beim Umherlenken des Auges oder der Hand auf einer Flache nicht nur Empfindungen des Farbigen oder Widerstand Leistenden entstehen, sondern mit diesen zugleich aus den Bewegungen des Auges und der Hand auch sogenannte Vitalgefühle, die immer untereinander entgegengesetzt sein werden, wenn auch das Aufgefaßte einfarbig ist oder überall gleichen Widerstand bietet. Da nun jede kleinste Stelle, die durch unmerkliche Bewegung erreicht wird, ein eigenes Vitalgefühl hervorruft, so muß für jeden Punkt einer Ebene eine Komplikation dieses Gefühlszustandes entweder mit der Farbe oder mit dem Widerstande entstehen. Dann wird aus dem allmählichen Durchlaufen einer Richtungslinie der Ebene... eine Reihe von jenen Gefühlszuständen entstehen, die Glied für Glied mit einer Farbe oder einem Widerstande kompliziert ist, und solche Doppelreihen müssen unzählig viele entstehen... Alle diese Reihen haben aber im Vergleich mit den aus seitlichen Ereignissen entstehenden die Eigentümlichkeit, daß sie nach vorwärts und rückwärts durchlaufen werden, während jene lediglich das erstere gestatten« (Lehrb. d. Psychol. S. 61 ff.. vgl. LINDNER, Psychol. S. 99 ff.). WAITZ leitet die Raumvorstellung aus der Nötigung der Seele ab, eine Vielheit von Empfindungen gleichzeitig zu erfassen (Lehrb. d. Psychol. S. 172). Die simultane Affektion homogener Nervenfasern durch qualitativ verschiedene Reize liegt dem räumlichen Vorstellen zugrunde (l. c. S. 178). VOLKMANN erklärt: »Das Nebeneinander der Vorstellungen ist nur eine psychische Erscheinung, d.h. eine Art und Weise ihres Vorstellens und daher nur das Bewußtsein eines Verhältnisses, das das Vorstellen entwickelt und annimmt, aber nicht schon an den Vorstellungen fertig vorfindet und bloß wiederholt« (Lehrb. d. Psychol. II4, 34 f.). Zu betonen ist, »daß das räumliche Vorstellen sich überall da einstellt, wo Vorstellungen in vollen Klarheitsgraden durch gegenseitige Reste gewissermaßen kreuzweise verschmelzen, was wieder jedesmal dort eintritt, wo dieselbe Reihe nach den entgegengesetzten Richtungen zum Ablauf gebracht wird« (l. c. S. 35 ff.). Jeder Sinn webt sein eigenes Raumgewebe. Der Ursprung der Apriorität des Raumes (aus der Zeit) ist »nicht in fertigen Formen vor aller Empfindung, sondern in konstanten Beziehungen der Vorstellungen, nicht in präformierten Eigentümlichkeiten der Sinnlichkeit, sondern in dem formierenden Mechanismus der Wechselwirkung der Vorstellungen« zu suchen (l. c. S. 7. vgl. S. 90 ff.). - Nach H. COHEN ist der Raum ein Kompliziertes, das aus der Ordnung von Empfindungen hervorgeht, eine ursprüngliche Verknüpfungsweise von Empfindungselementen, die unabhängig von der Erfahrung in der Natur des Bewußtseins selbst begründet ist (Kants Theor. d. Erfahr. S. 204 f., 213).

Die Lokalzeichen-Theorie stellt LOTZE auf. Die Localzeichen (s. d.) sind ein Mittel für die Seele, die Anschauungsform des Raumes anzuordnen (Med. Psychol. s. 332 f.). Die Seele muß aus Intensivem Extensives machen. »Überall wird das Extensive in Intensives verwandelt, und aus diesem erst muß die Seele eine neue innerliche Raumwelt konstruieren« (Medic. Psychol. S. 325 ff., 328). »Da... die spätere Lokalisation eines Empfindungselementes in der räumlichen Anschauung unabhängig ist von seinem qualitativen Inhalte, so daß in verschiedenen Augenblicken sehr verschiedene Empfindungen die geliehen Stellen unseres Raumbildes füllen können, so muß jede Erregung vermöge des Punktes im Nervensystent, an welchem sie stattfindet, eine eigentümliche Färbung erhalten, die wir mit dem Namen ihres Lokalzeichens belegen wollen« (l. c. S. 330 f.). Die Raumanschauung ist »ein der Natur der Seele ursprünglich und a priori angehöriges Besitztum«, wird »durch äußere Eindrücke nicht erzeugt, sondern nur zu bestimmten Anwendungen provoziert« (l. c. S. 335). Die ursprüngliche Natur unseres Geistes treibt uns dazu, unsere Empfindungselemente räumlich zu ordnen (ib.). Die Localzeichen veranlassen die Seele zu ihrer »raumsetzenden Tätigkeit« (l. c. S. 381, 389, 418 ff.). - E. v. HARTMANN erklärt: »Die nativistische Theorie betont es mit Recht, daß jedes höher organisierte Individuum, eine reich abgestufte, dreifache Mannigfaltigkeit von Lokalzeichen der Tast- und Bewegungsempfindungen schon vorfindet, auf die es sich bei der räumlichen Orientierung stützen kann. Die empiristische Theorie hingegen hebt das hervor, daß diese mehrfach abgestufte Ordnung von Localzeichen erst für das Bewußtsein angeeignet werden muß.« »Die nach Lokalzeichen abgestufte Ordnung der Empfindungen wird... von uns ebensowenig mit Bewußtsein vollzogen, wie sie uns angeboren ist. Es ist vielmehr ein und derselbe Akt der unbewußten Intellektualsfunktion, der das Gewirr des gleichzeitigen Ineinanders von Empfindungen ordnet und den so geordneten Komplex synthetisch zusammengefaßt dem Bewußtsein als gleichzeitiges Nebeneinander darbietet« (Kategorienlehre S. 117). Die Räumlichkeit ist eine Kategorialsfunktion (ib.).

In einer neuen Form tritt die Verschmelzungstheorie bei WUNDT auf, als »genetische«, und zwar »präempiristische« (Gr. d. Psychol.5, S. 138) Theorie der »komplexen Localzeichen« (s. d.). Von den »intensiven« unterscheiden sich die räumlichen (und zeitlichen) Vorstellungen »dadurch, daß ihre Teile nicht in beliebig verteuschbarer Weise, sondern in einer fest bestimmten Ordnung miteinander verbunden sind, so daß, wenn diese Ordnung verändert gedacht wird, die Vorstellung selbst sich verändert« (l. c. S. 123). Es sind »extensive Vorstellungen« (l. c. S. 124). »Unter den möglichen Formen extensiver Vorstellungen zeichnen sich nun die räumlichen wieder dadurch aus, daß jene feste Ordnung der Teile eines räumlichen Gebildes nur eine wechselseitige ist, daß sie sich also nicht auf das Verhältnis derselben zum vorstellenden Subjekte bezieht. Vielmehr kann dieses Verhältnis beliebig verändert gedacht werden. Diese objektive Unabhängigkeit der räumlichen Vorstellungsgebilde von dem vorstellenden Subjekte bezeichnen wir als die Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der Raumgebilde.« Eine einzelne räumliche Vorstellung kann als »ein dreidimensionales Gebilde von fester wechselseitiger Orientierung seiner Teile, aber von beliebig veränderlicher Orientierung zum vorstellenden Subjekte definiert werden« (l. c. S. 124). Dieses letztere Verhältnis schließt die psychologische Forderung ein, »daß die Ordnung der Elemente in einer solchen Vorstellung nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der Elemente selbst... sein kann, sondern daß sie erst aus dem Zusammensein der Empfindungen, also aus irgend welchen durch dieses Zusammensein neu entstehenden psychischen Bedingungen hervorgeht. Denn wollte man diese Forderung nicht zugestehen, so würde man genötigt sein, nicht etwa bloß jeder einzelnen Empfindung eine räumliche Qualität beizulegen, sondern man müßte in Jede räumlich noch so beschränkte Empfindung sogleich die Vorstellung des ganzen dreidimensionalen Raumes in seiner Orientierung zum vorstellenden Subjekte mit aufnehmen« (l. c. S. 125). »Alle räumlichen Vorstellungen bieten sich uns als Formen zweier Sinnesqualitäten dar, der Tastempfindungen und der Lichtempfindungen, von denen aus dann erst sekundär die Beziehung auf den Raum auch auf andere Empfindungen übertragen werden kann« (ib.). Die taktile Raumvorstellung ist »das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Localzeichen mit intensiv abgestuften inneren Tastempfindungen« (l. c. S. 132 ff.). Die optische Raumvorstellung ist das Verschmelzungsprodukt dreier verschiedener Empfindungselemente, »1) der in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten, 2) der von den Orten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Localzeichen, und 3) der durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten, intensiv abgestumpften Spannungsempfindungen. Dabei können die letzteren entweder, und dies ist das Ursprüngliche, die wirkliche Bewegung begleiten, oder sie können sich bei ruhendem Auge infolge bloßer Bewegungsantriebe von bestimmter Größe geltend machen« (l. c. S. 155 f.). Der Prozess der Raumanschauung ist »eine Ausmessung des mehrfach ausgedehnten Localzeichensystems der Netzhaut durch die einförmigen Localzeichen der Bewegung«, eine »assoziative Synthese« (Log. I, 458 f.. Grdz. d. physiol. Psychol. II4, S. 92 ff., 222 ff.. Vorles.3, Vorl. 9). - Den Standpunkt einer Verschmelzungstheorie vertritt auch LIPPS (Gr. d. Seelenleb. C. 23). An sich bestehen die einzelnen Gesichtseindrücke ohne räumliche Ausdehnung. Soll aus ihnen das Kontinuum des Raumes entstehen, so müssen sie stetig räumlich verschmelzen, d.h. ein Eindruck muß allmählich in den andern übergehen (Psychol. Stud. I, 43 ff.). Wegen der eigenartigen Beschaffenheit der ihnen anhaftenden Localzeichen nehmen die Eindrücke die Form von räumlichen Beziehungen an, aber ohne Innervationsgefühle (l. c. S. 30 ff, 40 ff.). Das Bewußtsein der dritten Dimension ist nicht Wahrnehmung, sondern Gedanke, Überzeugung, Wissen (l. c. 53. 84 ff.). - Vgl. VIERORDT, Gr. d. Physiol.5, 1877. Philos. Stud. XI, XII, XIII. AUBERT, Physiol. d. Netzhaut 1865. HERING, Lehre vom binocularen Sehen 1868. BOURDON, La perception visuelle de l'espace, 1902. HÖFFDING, Psychol.2, S. 264 f., u. a. Nach JODL ist das Räumliche eine Projektion des Neben- und Nacheinander von Qualitäten und Intensitäten (Lehrb. d. Psychol. S. 327 f.). Der Raum ist nicht Empfindung, sondern das Produkt des Zusammenwirkens von primären Funktionen der Empfindung in verschiedener Modalität mit den sekundären Funktionen des Vorstellens, der Reproduktion und Assoziation, ein Assoziationsprodukt (Lehrb. d. Psychol. S. 529 f.).

 


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