Psychologie der Raumanschauung

 

Psychologischer Ursprung der Raumvorstellung. Von den älteren Philosophen wird die Raumvorstellung in der Regel als Abbild, Reproduktion des objektiven Raumes betrachtet. Auf Erfahrung vermittelst besonderer Empfindungen, bezw. deren Assoziationen und Urteile, führen die Raumvorstellung zurück: zunächst LOCKE, nach welchem die Raumvorstellung sowohl durch den Gesichts- als den Tastsinn erlangt wird (Ess. II, ch. 13, § 2). Sie gehört zu den »simple modi« (s. d.). Dann BERKELEY (Theor. of vision § 46). Die Entfernung, Distanz wird nicht unmittelbar erfaßt, sondern beurteilt. »It is plain, that distance is in its own nature imperceptible« (WW. I, p. 37. Princ. XLIII f.). Nach HUME entsteht die Vorstellung der Ausdehnung durch das Achten auf die Entfernung zwischen Körpern (Treat. II, sct. 3, S. 50). Die Ausdehnung ist nichts als »a copy of the colour'd point and of the manner of their appearance« (ib.). Der abstrakte Raumbegriff entsteht durch Absehen von allen Besonderheiten der Sinnesqualitäten (l. c. S. 51), als »idea of visible or tangible points distributed in a certain order« (l. c. sct. 5). Die Raumvorstellung wird nur durch Gesichts- und Tastsinn vermittelt (l. c. S. 56 f.). Sie ist keine Einzelvorstellung, sondern hat nur die Art und Ordnung, in welcher Gegenstände existieren, zum Inhalt (l. c. S. 57 f.), weshalb die Vorstellung eines leeren Raumes unstatthaft ist (l. c. S. 58). Aus der Erfahrung, insbesondere der Funktion des Tastsinnes (s. d.), leitet die Raumvorstellung CONDILLAC ab (Trait. des sens. I, ch. 11. III, ch. 3). Nach BONNET ist die Vorstellung der Ausdehnung eine einfache, undefinierbare Vorstellung (Ess. anal. XIV, 202).

Nach KANT ist nicht die Raumvorstellung selbst, sondern nur ihr formaler Grund, ihre Möglichkeit angeboren, die Raumvorstellung ist ursprünglich erworben, gleichwohl aber a priori (s. unten). Ein empirischer Begriff ist der Raum nach HERDER (Verst. u. Erfahr. I, 91). Nach MAINE DE BIRAN ist die Vorstellung des dreidimensionalen Raumes das Produkt von Erfahrungen des Tastsinnes und der freiwilligen Bewegung (Oeuvr. II, 132,178). Die Bedeutung der Muskelempfindungen für die Ausbildung der Raumvorstellung betonen JAMES MILL (Anal.), TH. BROWN (Lectur. I, 539 ff.), J. ST. MILL. Letzterer führt die Raumvorstellung auf Sukzession zurück. »Die Raumvorstellung ist im Grunde eine Zeitvorstellung, und die Erkenntnis der Ausdehnung oder Entfernung ist die Erkenntnis einer Muskelbewegung, welche durch längere oder kürzer Zeit fortgesetzt wird« (Examin. p. 276). Der Prozess der Entstehung der Raumvorstellung durch Verschmelzung von Empfindungen ist »psychische Chemie« (Log. II, 460). Auf Assoziation von Sinnes- und Muskelempfindungen beruht die Raumvorstellung nach GRUITHUISEN, A. BAIN (Sens. and Intell.3, p. 245 f.. Ment. and Mor. Science p. 48, 60), MÜNSTERBERG, ZIEHEN (Leitfad. d. physioL Psychol.2, S. 55 ff., 86 ff.). Nach ü. SPENCER ist die Disposition zur Raumvorstellung ererbt (Psychol. § 332), diese selbst ist auf unsere Bewegungsfähigkeit zurückzuführen, auf die Beweglichkeit unserer Organe (l. c. § 69 ff., 333 ff.). Auf die Hemmung unserer Bewegungen seitens der Außenwelt führt die Raumvorstellung VORLÄNDER zurück (Gr. ein. organ. Wissensch. d. menschl. Seele 1841, S. 135), auf Hemmung des Triebes FORTLAGE (Psychol. I, 289). Die Bedeutung der Bewegungsempfindungen für die Entstehung der Tiefenvorstellung betont STRICKER (Stud. üb. d. Assoc. S. 49). »Raum ist eine associierte Vorstellung, in welcher einerseits die Orte als Raumelemente und anderseits Ausdehnung enthalten ist« (l. c. S. 74 ff.). Nach HELMHOLTZ ist die Raumvorstellung durch die psychophysische Organisation bedingt (Tats. d. Wahrnehm. S. 16, 30), aber die Raumvorstellung selbst ist empirisch erworben (l. c. S. 28. Physiol. Opt. § 23). ÜBERWEG erklärt: »Die Raumanschauung ist empirisch begründet, die Vorstellungen räumlicher Gebilde zum Teil aus der Erfahrung abstrahiert und idealisiert, zum Teil aus diesen Elementen frei konstruiert.« »Die apodiktische Gültigkeit der mathematischen Sätze erkennen wir mit Kant an, halten aber dieselbe mit dem empirischen Ursprung der Raumanschauung vereinbar.« Ihre Gewißheit liegt »in dem Ganzen der systematischen Verkettung« (Welt- u. Lebensansch. S. 311, 313). Nach KROELL ist die Raumvorstellung empirisch (Die Seele im Lichte d. Monism. S. 43). So auch nach W. VON ZEHENDER (Üb. d. Entsteh. d. Raumbegr., Zeitschr. f. Psychol. 18. Bd. S. 91 ff.).

In den empiristischen Raumtheorien sind schon vielfach nativistische Elemente (Bedingtheit durch die Organisation) enthalten. Der Nativismus im engeren Sinne behauptet nun die Ursprünglichkeit (psychologische Apriorität) der Raumanschauung in verschiedener Weise. Nach BENEKE nimmt der Gesichtssinn auch die dritte Dimension unmittelbar wahr (Lehrb. d. Psychol.3, 13. 51. Log. II, 30. vgl. Syst. d. Met. S. 224 ff.). Nach JOH. MÜLLER ist der Raumbegriff schon »eine notwendige Voraussetzung, selbst Anschauungsform für alle Empfindungen.« »Sobald empfunden wird, wird auch in jenen Anschauungsformen empfunden. Was aber den erfüllten Raum betrifft, so empfinden wir überall nichts, als uns selbst, räumlich, wenn lediglich von Empfindung, von Sinn die Rede ist« (Zur vergl. Physiol. d. Gesichtssinn. S. 54). Teilweise nativistisch ist die »Verschmelzungstheorie« LOTZEs (s. unten) u. a. Nach J. H. FICHTE ist der Raum schon Bedingung der Empfindung, a priori (Psychol. S. 321). Der Raumzusammenhang ist dem Bewußtsein zugleich mit dem Empfindungsinhalte selbst gegeben (l. c. S. 326), stammt aber nicht aus Empfindungen (l. c. S. 333. Zur Seelenfr. S. 172). Nativistisch ist die Raumtheorie von HERING, nach welchem jedem Netzhauteindruck ein Flächen- und Tiefengefühl zukommt (Hermanns Handb. III, 1). Auch die von STUMPF. Nach ihm ist der Raum ein besonderer Inhalt (Psych. Urspr. d. Raumvorstell. S. 18, 25 f.). »Unsere Seele hat eine besondere Fähigkeit, einen eigentümlichen angeborenen Drang, gerade Raumvorstellungen zu bilden« (l. c. S. 28), veranlaßt durch in der Seele selbst liegende Reize (»Theorie der psychischen Reise«, l. c. S. 28 ff.). Der Raum ist nicht subjektiver als die Sinnesqualitäten (l. c. S. 30). Ähnlich lehrt VOLKELT, nach welchem der Raum mit den Farben- und Tastempfindungen zugleich entsteht (Zeitschr. f. Philos. 112 Bd., S. 238). Nach A. MAYER gibt es für die Raumform eine angeborene Fähigkeit (Monist. Erk. S. 37 f.). Nach REHMKE muß schon der erste Augenblick des gegenständlichen Bewußtseins Raumbewußtsein aufweisen (Allgem. Psychol. S. 206 ff.). Es gehört zum ursprünglichen Bewußtsein (ib.). Raum und Empfindung beruhen auf derselben Nerventätigkeit (l. c. S. 211), doch entspringt der Raum nicht aus Empfindungen (l. c. a 218. vgl. S. 233 ff.). Nach HODGSON wird die Flächendimension mit den Tast- und Gesichtsempfindungen unmittelbar empfunden. Ähnlich SIGWART (Log. II2, 60 ff., 64). Der unendliche Baum wird nicht vorgestellt, sondern gedacht (l. c. S. 65). RABIER erklärt die Raumanschauung für ursprünglich mit den Empfindungen gegeben, als »élément extensif« dieser (Psychol. p. 128 ff., 137 f.). Nach EBBINGHAUS ist die Räumlichkeit eine Eigenschaft der Empfindung (Gr. d. Psychol. I, 423, 431 ff.). die Tiefenvorstellung dagegen beruht auf Erfahrungen (l. c. S. 423 ff.). Die Anschauungsformen kommen als »directe seelische Gegenwirkungen auf die objektiven Reize« zustande (l. c. S. 418). »Die räumlichen, zeitlichen und verwandtschaftlichen Verhältnisse der Glieder eines Reizkomplexes sind es, die das Auftreten der verschiedenen Anschauungen an den durch ihn bewirkten Empfindungen bedingen« (l. c. S. 419 f.). Ursprünglich ist die Räumlichkeit auch nach ZIEHEN (Leitfad. d. physiol. Psychol. S. 57, 86, 94, 213). Nach W. JAMES ist in den Empfindungen schon ein »element of voluminousness«, als »original sensation of space«, so daß der Raum ursprünglich ist (Princ. of Psychol. II, 134 ff., vgl. Percept of Space, Mind XII, 1887, 1 ff., 183 ff., 321 ff., 516 ff.). BALDWIN erklärt: »The mind has a native and original capacity of reacting upon certain physiological data in such a way that the objekts of its activity appear under the form of space« (Handb. of Psychol. I2, ch. 8, p. 121 ff.). Den Nativismus vertritt CH. DUNAN (Théor. psychol de l'espace 1895). Nach H. SACHS beruht die Raumvorstellung auf »einer von äußeren Zufälligkeiten ganz unabhängigen Tätigkeit einer bestimmten nervösen Organisation unseres eigenen Körpers« (Die Entsteh. d. Raumvorst. 1897). - E. MACH erklärt: »Die biologische und die psychologische Untersuchung führen übereinstimmend zu der Überzeugung, daß in Bezug auf die Raumanschauung nur mehr die nativistische Ansicht aufrecht erhalten werden kann.« Der Wille, Blickbewegungen auszuführen, ist die Raumempfindung selbst. Die Raumwahrnehmung ist einem biologischen Bedürfnis entsprungen (Anal. d. Empfind.4, S. 142 ff.). Es entspricht ihr ein bestimmter Nervenprozess (l. c S. 51). KÜLPE betrachtet die Räumlichkeit als Eigenschaft der psychischen Erlebnisse (Gr. d. Psychol. S. 347). Es ist »ein letztes Datum von ebenso ursprünglicher Beschaffenheit wie die Erlebnisse selbst« (ib.). Der Gegensatz zwischen Nativismus und Empirismus ist nicht zutreffend (l. c. S. 364). »Die räumliche Gesichtswahrnehmung ist sinnlich und direkt allein durch die Leistungen der Netzhaut bedingt.« Die Bewegungen des Auges bewirken nur »eine Erweiterung des Gesichtsfeldes, eine bequeme Einstellung des Blickes, ein rasches Wechseln desselben und ähnliche, äußerliche Tätigkeiten«. »Die eindeutige Zuordnung bestimmter Objekte im Raum zu bestimmten Netzhautelementen ist dagegen durch die Organisation des Auges vollkommen gewährleistet« (l. c. S. 385 f.). Nach R. WAHLE ist die Extensität eine ursprüngliche Eigenschaft der Vorstellungen (Das Ganze d. Philos. S. 209 ff.). Nach W. JERUSALEM ist die Raumempfindung ein ursprüngliches Element der Gesichts-, Tast- und Bewegungsempfindungen (Lehrb. d. Psychol.3, S. 131). Die Ursprünglichkeit des Räumlichen betont auch L. BUSSE (Geist u. Körp. S. 224). - Vgl. SULLY, Psychol. III, ch. 7. J. WARD, Encycl. Brit. XX, p. 53 ff. FOUILLÉE, Psychol. II, 21 ff.

 


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