Realismus

Realismus (von res, Sache, Ding) hat verschiedene Bedeutungen. Allgemein. besagt der Terminus nichts, als daß ein bestimmtes Etwas als real (s. d.), d. h als unabhängig vom Denken, an sich selbst, in den Dingen selbst seiend gilt. Zunächst gibt es einen Begriffs- Realismus (»Realismus« der Scholastiker). Ihm zufolge haben die (Allgemein-)Begriffe, die Universalien (s. d.) Realität, d.h. sie sind mehr als bloße subjektive Begriffe oder gar Worte, Namen (s. Nominalismus). Das Begriffliche, Allgemeine (s. d.) hat vielmehr ein Eigensein, es ist objektiv gegeben, und zwar: 1) nach dem extremen Realismus »ante res«, unabhängig vom (menschlichen) Denken (bezw. von der Erfahrung auch noch im Denken) und von den Einzeldingen (als Idee, Gedanke Gottes, s. d.), 2) nur »in rebus« den Einzeldingen immanent: gemäßigter Realismus. Ein vermittelnder Standpunkt lehrt, die Universalien seien »ante res« (in Gott), »in rebus« (als Gattungsmäßiges), »post res« (als Begriffe). »Realisten« sind PLATO, ARISTOTELES, PORPHYR, ANSELM, R. CUDWORTH, HEGEL u. a. (s. Allgemein).

Der erkenntnistheoretische Realismus im neueren Sinne ist der Standpunkt wonach es eine vom erkennenden Subjekt unabhängige, selbstseiende, in diesem Sinne absolut reale (nicht bloß ideelle) Außenwelt gibt. Der naive Realismus objektiviert fast alle Wahrnehmungsinhalte. Mit ihm teilt der (schon zwischen subjektiven und objektiven Elementen sondernde) philosophisch- dogmatische Realismus die ungeprüfte Voraussetzung der Realität von Außendingen überhaupt. Dagegen behauptet der kritische Realismus (der meist Ideal-Realismus, Real-Idealismus, s. d., ist) die Existenz eines vom Ich Unabhängigen erst auf Grund der Prüfung der zu solcher Setzung nötigenden Denkmotive und unter Berücksichtigung der Idealität des Wahrnehmungsinhaltes als solchen. Je nachdem der Realismus als das Ideale das Körperliche, Materielle oder als (ein dem eigenen Ich analog gedachtes) Geistiges oder als Einheit von beidem bestimmt, ist er Materialismus (s. d.), Spiritualismus (s. d.) oder Identitätslehre (s. d.). - Metaphysisch ist der »Realismus« von HERBART, d. h die Lehre von den »Realen« (s. d.). Der ästhetische Realismus fordert die möglichst intime, getreue Orientierung der Kunst an der Wirklichkeit des Lebens.

»Realista« wird zuerst (als Gegensatz zu »nominalista«) bei MAZOLINUS DE PRIERIA (Compendium dialecticae, 1496) gebraucht (vgl. Prantl, Gl. d. L. IV, 292). Die neuere Bedeutung seit KANT. Realistisch sind die Erkenntnislehren der meisten Philosophen des Altertums und des Mittelalters. In. der neueren Zeit sind Realisten insbesondere F. BACON, HOBBES, DESCARTES, SPINOZA, LOCKE, LEIBNIZ (Halb-Realismus), CHR. WOLF, REID, die Materialisten (s. d.) u. a. (s. Objekt, Ding, Qualität). KANT lehrt einen kritischen Realismus, nach welchem das Ding an sich (s. d.) zwar besteht, aber nicht erkennbar ist. Einen »rationalen Realismus« lehrt BARDILI nach welchem der Gedanke der Grund aller Dinge ist (Gr. d. ersten Logik.) Einen Real-Idealismus (Ideal-Realismus, s. d.) lehrt SCHELLING (vgl. WW, I 10, 107), auch SCHLEIERMACHER, TRENDELENBURG, LOTZE, HARMS, ROSMINI, J. E. FICHTE (Psychol. I, 289 ff.), ULRICI, M. CARRIERE (Sittl. Weltordn. S. 92: »Was die Dinge an sich sind, das gibt sich kund in den Beziehungen, in denen jedes zum andern steht«) ÜBERWEG (Welt- u. Lebensansch. S.80), F. ERHARDT (Wechselwirk. zw. Leib u. Seele S. 109), RIEHL, WUNDT (vgl. Philos. Stud. XII/XIII: gegen den Standpunkt der Erhebung des »naiven Realismus« zum erkenntnistheoretischen Princip), u. a. - Die selbständige Existenz der Außendinge lehrt HERMES (Einleit. in d. christkathol. Theol. I2, 327). So auch ROYER-COLLARD (Adam, Philos. en France p. 197 f.). HERBART erklärt, »daß es wirklich eine Menge von Wesen außer uns gibt, deren eigentliches und einfaches Was wir zwar nicht erkennen, über deren innere und äußere Verhältnisse wir aber eine Summe von Einsichten erlangen können, die sich ins Unendliche vergrößern lassen« (Lehrb. zur Einl. in d. Philos.5, S. 263). Nach HELMHOLTZ ist der Idealismus nicht widerlegbar, der Realismus aber als »eine ausgezeichnet brauchbare und präcise Hypothese« wertvoll (Vortr. u. Red. II, 238). - »Natural Realism« (»Presentationism«) ist die Lehre von W. HAMILTON, nach welcher das Bewußtsein die Präsenz von Subjekt und Objekt sicherstellt (Lect. on Met. und Log.). Nach H. SPENCER ist die naiv-ursprüngliche Auffassung realistisch, indem wir uns der Objekte und der Eindrücke von ihnen bewußt sind (Psychol. § 406, 438 f.). Er selbst lehrt einen »verklärten Realismus« (»transfigured Realism«, s. Idealrealismus, Objekt). Einen »reasoned Realism« lehrt LEWES. Realismus ist er, »because it affirms the reality of what is given in feeling«, »reasoned«, »because it justifies that affirmation through an investigation of the grounds and processes of philosophy« (Probl. I, 177). Realisten sind TH. H. CASE (»Physical Realism« 1888), M'COSH (Realistic Philosophy 1887), W. JAMES u. a. Ferner JANET (Princ. d. Mét. II, 238 ff., 311 ff.), nach welchem zwischen Denken und Sein Conformität besteht (l. c. p. 315), C. BRAIG, GUTBERLET, HAGEMANN u. a.

Einen »transzendentalen«, die extramentale Existenz der raumzeitlichen Welt behauptenden Realismus lehrt E. V. HARTMANN. Zu einem solchen führt »das Bemühen, sich im Ablauf des Bewußtseinsinhalts kausal zu orientieren« (Kategorienlehre S. 372). Einen kritischen Realismus lehren H. WOLFF (Neue Kr. d. r. Vern. S. 225), W. JERUSALEM, JODL, KÜLPE, BUSSE, UPHUES, H. SCHWARZ (Was will der krit. Realism.? 1894), R. WEINMANN (Wirklichkeitsstandpunkt 1896. Zeitschr. f. Psychol. 17. Bd., S. 215 ff.), L. DILLES (Weg zur Met. S. 119) u. a.

In verschiedener Weise wird der Standpunkt des »naiven Realismus« zu stützen gesucht, wobei zuweilen (Immanenzphilosophie, s. d.) ein Idealismus (s. d.) daraus wird. Einen »reinen Realismus« vertritt A. E. BIEDERMANN, der das Bewußtsein und dessen Inhalt so nimmt, wie es gegeben ist (Christl. Dogmat. § 13 ff.). Dem naiven Realismus nähert sich CZOLBE, indem er die Sinnesqualitäten als objektive Eigenschaften setzt (Neue Darstell. d. Sensual.). V. KIRCHMANN lehrt einen »Realismus«, welcher bestimmt: »Indem... ein Seiendes für den Realismus außerhalb des Wissens besteht und das Wahrnehmen den Übergang von jenem in dieses vermittelt, ergeben sich für den Realismus zwei Fundamentalsätze, auf denen alles wahre Wissen beruht. sie lauten: 1) Das Wahrgenommene ist seinem Inhalte nach nicht bloß in der Wahrnehmung des Menschen, sondern auch außerhalb der Wahrnehmung als ein Seiendes und von der Wahrnehmung Unabhängiges vorhanden. 2) Das sich Widersprechende kann weder als eines gedacht werden, noch als solches im Sein bestehen« (Kat. d. Philos.3, S. 55). Dem naiven Realismus nähern sich (durch die Auffassung der Erfahrungsinhalte als der Dinge selbst) die Lehren von R. AVENARIUS, E. MACH, auch die der Immanenzphilosophen, besonders von SCHUPPE (Log. S. 29). vgl. ILARIUS-SOCOLIU (Grundprobl. d. Philos. S. XVI). Nach H. CORNELIUS ist der naive Realismus die psychologisch notwendige, normale Anschauung (Psychol. S. 427). Nach H. COHEN ist der Idealismus »der wahrhafte Realismus« (Log. S. 511).

Nach dem mathematischen Realismus beruht die Bedeutung der mathematischen Ideen auf ihrer realen Existenz im Geiste. der mathematische Nominalismus leugnet diese Existenz, er hält die mathematischen Ideen für bloße Namen u. dgl. (WUNDT, Log. II 19, 93 ff.). Realisten sind DESCARTES (Oeuvr. II, 290), LEIBNIZ (Nouv. Ess. I, 1. IV, 17. Math. WW. VII, 17 ff.). KANT. Nominalisten: HOBBES, LOCKE (Ess. II, ch. 13. IV, ch. 4), BERKELEY (Princ., Introd. u. CXI f.), HUME (Treat. I, 2), J. ST. MILL (Log. I, 270 f.). Vgl. P. DUBOIS-REYMOND, Allgem. Funktionentheorie 1882, I, 68 ff.. A. SIEGFRIED, Radicaler Realismus.


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