Religion - Feuerbach, Comte, Mill, Tolstoi


 

Nach L. FEUERBACH ist das Abhängigkeitsgefühl der Grund der Religion, auch die Furcht (WW. VIII, 31 f.. I, 411). Die Religion ist die Kenntnis der wahren Bedingungen der menschlichen Glückseligkeit. Die Götter sind Phantasiegeschöpfe (WW. VIII, 255). Der Trieb nach Glückseligkeit erzeugt den Glauben (l. c. S. 257). Die Götter sind Wunschwesen. Was der Mensch »selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor. die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen« (l. c. S. 257). »Theologie ist Anthropologie,« in dem Gegenstande der Religion spricht sich nichts anderes aus als das Wesen des Menschen. »der Gott des Menschen ist nichts anderes als das vergötterte Wesen des Menschen« (l. c. S. 20, vgl. S. 28 ff.). Gott ist das »offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen« (WW. VII, 39), der vergöttlichte, idealisierte Mensch. Die Natur ist der erste Gegenstand der religiösen Verehrung. Sie ist das wahre Wirkliche. Pietät für das Universum fordert D. FR. STRAUSS (Der alte u. der neue Glaube). Ablösung des »Religionistischen« durch ein besseres Weltverständnis und durch eine edlere Lebensordnung verlangt E. DÜHRING (Wirklichkeitsphiloß. S. 533. Der Ersatz d. Relig. durch Vollkommneres, 1883). - Dem »Kultus der Menschheit« als des »grand être« soll die »religion de l'humanité« A. COMTES dienen. Nach J. ST. MILL ist das Wesen der Religion »die starke und konzentrierte Richtung unserer inneren Regungen und Wünsche auf einen idealen Gegenstand von anerkannt höchster Vortrefflichkeit und welcher mit Recht über allen Gegenständen unserer selbstsüchtigen Wünsche steht« (Üb. Relig. III, Theismus S. 92). Sociale und sittliche Gefühle können jede richtige Funktion der Religion erfüllen (l. c. S. 93). Die Furcht ist erst eine Folge der ursprünglichen Beseelung der Dinge (l. c. S. 86). A. BAIN erklärt: »The religious sentiment is constituted by the tender emotion, together with fear and the sentiment of the sublime« (Ment. und mor. sc. III, ch. 5, p. 248). Nach O. CASPARI ist das Wesen der Religion »Furcht in der Liebe« (Urgesch. d. Menschheit).

Nach LOTZE beginnt die Religion mit dem »theoretisch nicht beweisbaren, dennoch aber von uns anerkannten Gefühle einer Verpflichtung oder einer Gebundenheit durch denselben unendlichen Inhalt, deren Wahrheit wir theoretisch nicht beweisen können« (Grdz. d. Religionsphilos. 1882). Nach J. H. FICHTE ist das religiöse Gefühl die unwillkürliche Anerkennung einer unentfliehbaren, in unser Leben eingreifenden, uns beherrschenden unendlichen Macht (Psychol. I, 726 ff.). Nach ULRICI liegt der Religion das Gefühl der Abhängigkeit und das Streben nach Vereinigung mit Gott zugrunde (Glaub. u. Wiss. 1868. Gott u. d. Nat.2, 1866). Nach M. CARRIERE ist die Religion »Glaube, das heißt vertrauensvolle Hingabe des Gemüts an das Göttliche«, »das gottinnige Leben der Liebe« (Sittl. Weltordn. S. 355 ff.). Der Kern aller Religionen ist der »Glaube an die sittliche Weltordnung« (l. c. S. 365 ff.). Nach PLANCK ist Religion »das vom Bewußtsein des rein praktischen Weltgesetzes durchdrungene und bestimmte Leben« (Testam. ein. Deutsch. S. 48, 373 ff.). Nach VATKE ist die Region das Gefühl der göttlichen Nähe und Gnade in der Liebe (Religionsphilos. 1888). Nach ED. ZELLER ist die Religion »Bewußtsein des Göttlichen, aber nicht des Göttlichen als solchen, in seinem An-sich, sondern nur nach seiner Beziehung aufs Subjekt«. Sie ist »das Leben des Subjekts in Gott«, hat Seligkeit zum Ziel. Das Gottesbewußtsein hat eine apriorische Grundlage im Denken, eine empirische im Gefühle (Üb. d. Wes. d. Relig., Tüb. Theol. Jahrb. 1845, S. 26 ff., 393 ff.).

Nach A. E. BIEDERMANN ist der religiöse Prozess »Erhebung des Menschen, als endlichen Geistes, aus der eigenen endlichen Naturbedingtheit zur Freiheit über sie in einer unendlichen Abhängigkeit«. Die Religion ist »die Wechselbeziehung zwischen Gott als unendlichem und dem Menschen als endlichem Geist« (Christl. Dogmat. 19, 1884). Ähnlich O. PFLEIDERER (Religionsphilos.2). Nach F. A. LANGE ist die Religion keine Erkenntnis, aber sie befriedigt das Gemüt und ist culturell notwendig (Gesch. d. Mater.). Ähnlich AL. SCHWEIZER (Die Zuk. d. Relig. 1878). Als Wurzel der Religion betrachtet LIPSIUS »das Bewußtsein des Kontrastes, der zwischen der inneren Freiheit des Menschen und seiner äußeren Abhängigkeit von dem Naturzusammenhange besteht«. Die Religion ist »das Verhältnis, in welchem das Selbstbewußtsein und das Weltbewußtsein des Menschen zu seinem Gottesbewußtsein, jene beiden aber durch Vermittlung von diesem zueinander stehen«. Religion ist Erhebung zur Freiheit in Gott, zur Lebensgemeinschaft mit ihm (Lehrb. d. evangel.-protest. Dogmat.2, 1879. vgl. Philos. u. Relig. 1885). Vom Kantschen Standpunkte betont die Verschiedenheit von Glauben und Erkenntnis RITSCHL. Religion ist »Leben im heiligen Geiste« (Theol. u. Met. 1881. Die christl. Lehre von der Rechtfertig. u. Versöhn.3, 1888, S. 8, 21 ff.). Ähnlich W. HERMANN (Die Relig. im Verh. zum Welterkennen und zur Sittl. 1879) und J. KAFTAN (Das Wesen d. christl. Relig. 1881, 2. A. 1888). AD. LASSON betrachtet die Kirche als »Organismus der Sittlichkeit« (Üb. Gegenst. u. Behandlungsart d. Religionsphilos. 1879). Religiös ist, »wer sich und alles Seinige an Gott als den absoluten Zweck und absoluten Willen anknüpft«. R. SEIDEL erklärt: »Religion ist Leben in Gott und aus Gott... auf Grund eines ursprünglich noch ungeteilten, einheitlichen, göttlichen Willenstriebes« (Religionsphilos. S. 25. vgl. Die Relig. 1872. Relig. u. Wissensch. 1887). Die ideale, vollkommene Religion ist, »die aus einem aus innerster, zentralster Tiefe des Menschenwesens hervorbrechenden Zielstreben oder Triebwillen erwächst, der alles ›spezifisch‹ Menschliche und Selbstische überwächst, Gottes Leben im Menschenleben einwohnend zeigt und darauf geht, das Vollendete zu verwirklichen in allen denkbaren Formen« (l. c. S. 147 ff.. vgl. S. 215 ff.). Nach H. SIEBECK ist die Religion »die verstandes- und gefühlsmäßige, praktisch wirksame Überzeugung von dem Dasein Gottes und des Überweltlichen und in Verbindung hiermit von der Möglichkeit einer Erlösung« (Lehrb. d. Religionsphilos. S. 442 ff.). Nach G. THIELE entspringt die Religion einem Zuge der Seele zu Gott hin (Philos. d. Selbstbewußts. S. 457 ff.). Gott ist absolutes Selbstbewußtsein (l. c. S. 482, 487 ff.). Nach ED. V. HARTMANN ist die Religion psychisch eine »Beziehung des Menschen auf Gott«. Das mystische Gefühl ist der Urgrund aller Religiosität, doch sind an der Religion Vorstellung, Gefühl und Wille beteiligt (Rel. d. Geist. II2, 5 ff.). Der Eudämonismus in der Religion ist zu bekämpfen. Die wahre Religion besteht nur in der »Erweiterung und Erhebung von den egoistischen Zwecken des phänomenalen Individuums zu den universalen Zwecken des ihm subsistierenden absoluten Wesens« (l. c. S. 51 ff., 304 ff.). »Alle Religion beruht auf dem Gefühl des Erlösungsbedürfnisses, auf dem Verlangen nach Erlösung nicht nur von der Sünde, sondern auch von dem Übel« (Zur Gesch. u. Begrünt. d. Pessim.2, S. 23 f.). Der Pessimismus (s. d.) ist die »unerläßliche Vorbedingung der Erlösungsreligion« (l. c. S. 182). Das Verlangen nach Glückseligkeit, das Gefühl der Abhängigkeit dieser von den Naturmächten, denen er einen Willen zuschreibt, macht diese ursprünglich zu Göttern (Das rel. Bewußts. d. Menschheit, 3. 27 ff.). Nach W. BENDER ist die Religion eine »Reaktion des Selbsterhaltungstriebes gegen die Erfahrungen von Ohnmacht und Abhängigkeit«. Die Erhebung zur Gottheit ist ein Mittel für den Kampf ums Dasein, eine Lebensstütze. Religion besteht wahrhaft im »Glauben an das Ideal und seine Durchführbarkeit« (Das Wesen d. Relig. 1886, S. 134 ff., 238 ff., 337). In das Bewußtsein persönlicher Beziehung zu einer höheren Macht setzt die Religion RAUWENNOFF (Religionsphilos. 1889). - Aus dem (durch Gefühle bestimmten) Kausalitätstriebe leitet die Religion FR. SCHULTZE ab (Philos. d. Nat. II, 388). Ein psychologisch-logischer Zwang besteht, eine Gottheit zu setzen, ohne daß ein Beweis möglich ist (l. c. S. 391 ff.). Jede Religion ist »der Inbegriff der Vorstellungen, welche sich die Bekenner derselben Über das Wesen des Menschen und der Welt und das Verhältnis beider zu dem göttlichen Urgrunde des Alls machen, samt den daraus entspringenden Gefühlen und Motiven für das menschliche Handeln« (l. c. S. 417). Die Religion ist allgemeine Weltanschauung (ib.). Nach M. MÜLLER gibt es kein abgesondertes Bewußtsein für Religion, keinen eigenen religiösen Instinkt (Urspr. u. Entwickl. d. Relig. S. 24 f.). Die subjektive Seite der Religion besteht »in der potentiellen Energie, das Unendliche zu erfassen« (l. c. S. 28 ff.). Nach GUYAU ist die Religion das Gefühl der Solidarität mit dem Kosmos (L'irrélig. de l'avenir, 1887). Nach EMERSON ist die Religion Zuwendung zum Allgemeinen (Essays 6, S. 169). Nach ED. CAIRD ist das religiöse Prinzip ein schon in der einfachsten Erfahrungstatsache eingeschlossener notwendiger Faktor des Bewußtseins. Das Bewußtsein der Einheit ist überall, das Göttliche, Unendliche ist im Endlichen enthalten, es ist ein aktives Prinzip. Objektive (Mythus), Subjektive, christliche Religion sind Entwicklungsstufen (Evol. of Relig. 1893). Die Religion ist begründet in der »unity which binds together the self and the world« (l. c. p. 64). Sie ist »giving a kind of unity to life« (l. c. p. 81). Gott ist »unity of the objekt and the Subjekt«, Religion ist Bewußtsein dieser Einheit. Nach SABATIER sind Furcht und Hoffnung die Anfänge der Religion, welche aus dem Gefühle der Not entspringt (Religionsphilos. S. 9, 15), als eine Form des Erhaltungstriebes (ib.). Dieser stützt sich auf das Gefühl der Abhängigkeit gegenüber dem Allwesen (l. c. S. 15 f.). Religion besteht »in einer bewußten und gewollten Gemeinschaft und Beziehung, in welche die Seele in ihrer Not mit der geheimnisvollen Macht eintritt, von der sie das Gefühl hat, daß sie selber und ihr Schicksal von ihr abhängt« (l. c. S. 19). Ein aktives und ein passives Element zeigt die Religion (l. c. S. 20). Nach TOLSTOI ist Religion »die Erklärung der Beziehungen des Menschen zum Urquell alles Seienden und die aus dieser Stellung entspringende Bestimmung des Menschen und, aus dieser Bestimmung hervorgehend, die Richtschnur der Lebensführung« (Was ist Rel.? S. 75). »Die wahre Religion ist eine solche, welche im Einklang mit der Vernunft und mit dem Wissen des Menschen für ihn eine Beziehung mit dem ihn umgebenden Leben feststellt, die sein Leben mit dieser Unendlichkeit verbindet und seine Wirksamkeit lenkt« (l. c. S. 13). Der Glaube ist »das Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung im Weltall« (l. c. S. 29), das »Bewußtsein des Menschen von seiner Beziehung zur unendlichen Welt« (l. c. S. 31).

 

 


Vergleiche ferner:

- Religion (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- Religionsphilosophie (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- IV. Religionssoziologie (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft):

- § 1. Die Entstehung der Religionen

- § 2. Zauberer — Priester

- § 3. Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu

- § 4. »Prophet«

- § 5. Gemeinde

§ 6. Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge

- § 7. Stände, Klassen und Religion

- § 8. Das Problem der Theodizee

- § 9. Erlösung und Wiedergeburt

- § 10. Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung

- § 11. Religiöse Ethik und »Welt«

- § 12. Die Kulturreligionen und die »Welt«

- Feuerbach (Religion, Sensualismus, Ethik) (Vorländer, Gesch. d. Phil.)

- Of Unity in Religion (Bacon, Essays)


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