Streben (hormê, orexis, appetitus, conatus) ist der (primäre) Wille (s. d.) sofern er auf ein durch ein Hindernis noch entferntes Ziel geht, Widerstreben, sofern er etwas von sich zu entfernen sucht. Das Streben ist in Gefühlen und (Spannungs-, Bewegungs-)Empfindungen lebendig, ist aber nicht die bloße Summe solcher Zustände, sondern ein primärer Bewußtseinszustand, der nur als Momente Empfindungen und Gefühle erkennen läßt. Der irgendwie gehemmte Trieb (s. d.) wird zum Streben. dieses geht objektiv auf Betätigung oder Nichtbetätigung bestimmter Art, subjektiv auf Entfernung einer Unlust Erreichung einer Lust, als Mittel zu beidem auch auf Entfernung bezw. Erreichung eines Objekts. Das Ich hat den Einwirkungen der Außenwelt gegenüber ein Streben nach Selbsterhaltung (s. Erhaltung), nach Erhaltung seiner Einheit, Identität (s. d.). Dieses Streben und das nach Betätigung überhaupt legen wir in die Objekte hinein und machen sie so zu strebenden, aktiven Subjekten (s. Introjektion, Kraft, Objekt). Ein einzelner Strebeakt heißt Strebung.
Das Streben wird bald als elementare oder primäre Funktion des Bewußtseins, bald als bloßes Moment des Gefühls, bald als bloßer Komplex von Empfindungen betrachtet (s. Wille). Den alten und mittelalterlichen Philosophen gilt das Streben in der Regel als besondere Seelenkraft (s. Begehren. Wille). - MELANCHTHON versteht unter der »facultas appetitiva« die »facultas prosequens aut fugiens« (De an. p. 178a). Nach GOCLEN ist »appetitus« »impulsus quidam ad rem quandam« (Lex. philos. p. 116. vgl. MICRAELIUS, Lex. philos. p. 142 f.). HOBBES erklärt: »This motion, in which consisted pleasure or pain, is also a sollicitation or provocation either to draw near to the thing that pleased, or to retire from the thing that displeased. and the sollicitation is the endeavour or internal beginning of animal motion« (Hum. nat. p. 38). Ein »conatus« nach Erhaltung (s. d.) des eigenen Selbst ist die Grundlage des Handelns. - LEIBNIZ schreibt den Monaden (s. d.) ein Streben nach Veränderung ihres inneren Zustandes, ihrer Perzeptionen zu, eine »tendance d'une perception à l'autre«. »L'action du principe interne, qui fait le changement ou le passage d'une perception à une autre, peut être appelé appetition« (Monadol. 15. Erdm. p. 714 a). Nach CHR. WOLF ist Streben das »Vermögen der Seele, sich zu einer Sache zu neigen, die man als gut erkennet« (Vern. Ged. I, § 495). »In omni perceptione praesente adest conatus mutandi perceptionem.« Dieser »conatus« heißt »percepturitio« (Psychol. rational. § 480 f.). BAUMGARTEN bestimmt: »Si conor seu nitor aliquam perceptionem producere, i.e. vim animae meae seu me determino ad certam perceptionem producendam, appeto« (Met. § 663). BILFINGER definiert: »Est... appetitus in genere conatus versus bonum, utcumque cognitum« (Diluc. § 292).
J. G. FICHTE schreibt dem Ich (s. d.) ein unendliches Streben, ein Streben ins Unendliche zu (Gr. d. g. Wiss. S. 252 f.). - Nach LICHTENFELS ist das Begehren »ein gegen eine Hemmung sinnlicher Tätigkeit gerichtetes Streben«, »ein Streben nach Abänderung des gegenwärtigen sinnlichen Zustandes« (Gr. d. Psychol. S. 35). BIUNDE bemerkt: »Wir können... alles Bestreben der Wesen in der Natur ansehen als die Befolgung eines allgemeinen Naturgesetzes, wodurch jedes Wesen bestimmt erscheint, nach demjenigen unablässig zu ringen, welches seinen Kräften, seinem innersten Wesen irgendwie zusagt« (Empir. Psychol. II, 264). Die ganze Natur strebt »nach größerer Vollendung ihrer selbst« (ib.). - Nach HERBART verwandeln sich die aus dem Bewußtsein verdrängten Vorstellungen in ein »Streben vorzustellen«, welches selbst »niemals unmittelbar im Bewußtsein erscheint«. Das Streben ist ein Zustand der Vorstellung selbst, nichts Selbständiges (Lehrb. zur Psychol. S. 29. Psychol. als Wissensch. I. Lehrb. zur Einl.5, § 158). DROBISCH erklärt das Streben einer Vorstellung als Begehren ihres Inhaltes (Empir. Psychol. § 143). VOLKMANN bestimmt das Streben als »jene Tätigkeit, die auf einen Effect gerichtet ist, an dessen Herbeiführung sie behindert ist« (Lehrb. d. Psychol. II4, 399). Nach LINDNER besteht das Streben »darin, daß die gehemmte Vorstellung des begehrten Gegenstandes diesen ihr unangemessenen Zustand der Hemmung abzuschütteln und mit dem ihr angemessenen der Ungehemmtheit zu vertauschen sucht«. Die im Streben begriffene Vorstellung ist Begierde (Empir. Psychol. S. 190 f.). Nach LIPFS ist Streben »gehemmte Vorstellungstätigkeit« (Gr. d. Seelenleb. S. 695). Strebungen sind »in ihrer Wirkung gehemmte, aber in Aufhebung der Wirkungen anderer Ursachen sich wirksam erweisende psychische Ursachen« (l. c. S. 596). - BENEKE betrachtet die seelischen »Urvermögen« (s. Seelenvermögen), die noch nicht Reize aufgenommen haben, als primäre Strebungen, d.h. sie streben nach »Erfüllung« durch Reize, sind in »Spannung«, »Unruhe« infolge des Nichtverbrauchs (Lehrb. d. Psychol. § 25). Alle »Spuren« (s. d.) als solche sind Strebungen, d.h. »die in ihnen gegebenen Urvermögen streben zur Wiedererlangung dessen, was sie verloren haben, oder zum Wiederbewußtwerden, auf« (l. c. § 24. vgl. Pragm. Psychol. I, 218 ff.). Das Streben ist früher als das Vorstellen in der menschlichen Seele gegeben, »indem jedes Urvermögen auch schon vor aller Anregung und unmittelbar aus sich den Reizen entgegenstrebt« (Lehrb. § 167). »In der ausgebildeten menschlichen Seele finden sich zwei Grundformen von Strebungen: die noch unerfüllten Urvermögen, und die durch Reizentschwinden wieder frei gewordenen.« Letztere sind »Strebungen nach etwas« (l. c. §168). Strebungshöhe ist der »Grad, in welchem das Urvermögen von Reiz frei geworden ist« (l. c. § 171). »Strebungsraum« ist die Stärke des Strebens, welche durch die Anzahl der in ihm verbundenen einfachen Spuren bestimmt ist (l. c. § 95, 259 f.). Nach FECHNER ist das Streben in der materiellen Welt »eine Kraft oder Kraftwirkung, die sich durch ihre Erfahrung erst beweist, wenn keine andersher wirkenden Kräfte in entgegengesetzter Richtung überwiegen oder keine Widerstände die Wirkung aufheben« (Tagesans. S. 205). Nach L. NOIRÉ ist das Streben nach Dauer der Grundtrieb aller Wesen (Einl. u. Begr. ein. mon. Erk. S. 179). HAGEMANN bestimmt: »Die erkennende Seele betätigt sich in der Richtung von außen nach innen, sofern sie in ihrer Weise Gegenstände in sich aufnimmt und sich vorstellt. Die dieser entgegengesetzte, von innen nach außen gerichtete Tätigkeit nennen wir in allgemeinen Streben, und die hierdurch bedingten Zustände Strebungszustände. Alles Streben oder Hinbewegen der Seele nach außen hat den Zweck, entweder etwas zu erreichen (Streben) oder etwas abzuwehren (Fliehstreben oder Widerstreben oder Sträuben). Geschieht das Streben mit Bewußtsein und ist es auf ein bestimmtes Objekt gerichtet, so heißt es Begehren« (Psychol.3, S. 106 f.). - Nach HODGSON ist das Streben ein Zustand der Erwartung Spannung (Philos. of Reflect.). Nach A. BAIN sind die Strebungen eine besondere Klasse von »sensations«, »the uneasy feelings produced by the recurring wants or necessities of the organic system«. »Appetite involves volition or action« (Ment. and Mor. Sc. I, ch. 3, p. 67. Emot. and Will). Nach SULLY u. a. ist das Streben die aktive Phase des seelischen Lebens (Handb. d. Psychol. S. 389. vgl. TITCHENER, Outl. of Psychol. ch. 10. JAMES, Psychol. ch. 23 ff.). Als Elementarvorgang des Wollens betrachtet die »conation« LADD (Psychol. 1894). Von einer »conative faculty« spricht L. F. WARD (Pure Sociol. p. 136 ff.). Alle Emotionen bestehen aus »appetitions« (l. c. p. 103 ff.). - Nach DURAND DE GROOS kommt den Monaden ein Streben nach Betätigung ihrer Kräfte zu. Nach FOUILLÉE ist »l'appetit« »le facteur principal de l'évolution en nous« (Psychol. d. id.-forc. I, p. XXXVII). Das Streben ist eine »force de tension«, geht dem Gefühle voran (l. c. I, 111 ff.), ist »origine des émotions« (l. c. p. 135 ff.). Das Streben (nach Leben) ist der Urgrund alles Psychischen (l. c I, 228, 251. II, 15, 242), es liegt allem Vorstellen zugrunde, wirkt bewußt als »idée-force«, Kraftidee (l. c. II, 19). Die Ursprünglichkeit des Strebens lehren u. a. auch BOUILLIER, BEAUNIS, RIBOT, FORTLAGE (s. Trieb), GÖRING, RIEHL, WUNDT (s. Trieb, Voluntarismus), JODL. Nach ihm ist Streben ein Gesamtbegriff »für diejenigen psychischen Erregungen, in welchen ein Bedürfnis des Organismus nach Reizen hervortritt, oder die Rückwirkung desselben auf empfangene und im Gefühle gewertete Eindrücke durch Entladung von Energie zur Herbeiführung von Veränderungen in dem Verhältnis des Organismus zur Außenwelt oder im Bewußtseinsinhalte zum Ausdruck kommt« (Lehrb. d. Psychol. S. 415). Nach SCHMIDKUNZ ist das Streben etwas Elementares (Suggest. S. 191). Der Mensch hat einen Drang nach einer Verschiedenheit von Inhalten (»Gesetz des Inhaltsstrebens«, l. c. S. 192 f.). E. DÜHRING erklärt: »Das ganze Gefühlsleben hat die Form des Strebens, und man kann in jeder Empfindung einen Bestandteil unterscheiden, welcher der Befriedigung, und einen andern, welcher dem Bedürfnis entspricht« (Wert d. Leb.3, S. 139). Nach A. DÖRING ist Streben »die von innen nach außen gerichtete seelische Aktion und geht entweder auf Ausdruck seelischer Zustände oder auf Zustandsänderung« (Philos. Güterlehre S. 168). Nach H. CORNELIUS sind die Strebungsgefühle allgemein bedingt durch die Vorstellung von Inhalten, die entweder selbst als relativ lustbetont oder als Glieder eines wertvollen Zusammenhanges beurteilt werden (Psychol. S. 381). Das Begehren ist »Kombination einer Strebung mit dem (positiven) Urteil über die Erreichbarkeit des Erstrebten« (l. c. S. 383). W. JERUSALEM nennt Streben »die ursprünglichste und allgemeinste psychische Wirkung der Willensfunktion«, »den dunklen Bewegungsdrang mit mehr oder minder deutlich bestimmter Tendenz der Bewegung« (Lehrb. d. Psychol.3, S. 188). Nach A. MEINONG sind Streben und Widerstreben qualitativ verschieden (Üb. Annahm. S. 185). KÜLPE reduziert alles, was sich als innere Tätigkeit, im Triebe, in der Sehnsucht beobachten läßt, auf das Streben. »Es ist ein von innen heraus erfolgender Drang, eine Spannung, eine Betätigung unseres Ich, die wir damit meinen« (Gr. d. Psychol. S. 274). Es reduziert sich (wie nach MÜNSTERBERG u. a.) auf einen Komplex von Spannungs- (Sehnen-) und Gelenkempfindungen (l. c. S. 275). J. WARD, Encykl. Brit. XX, 42 f. Vgl. RABIER, Psychol. p. 490 ff., u. a. Vgl. Begehren, Trieb, Wille.