Sittlichkeit - Moderne I

KANT setzt die Quelle der Sittlichkeit in die reine praktische Vernunft (s. d.), welche autonom (s. d.) das Sittengesetz, den kategorischen Imperativ (s. d.) ausspricht, ohne jede Beziehung auf fremdartige, eudämonistische Zwecke (s. Rigorismus), rein um der Pflicht (s. d.) willen. Schon 1764 bemerkt Kant: »Es ist eine unmittelbare Häßlichkeit in der Handlung, die dem Willen desjenigen, von dem unser Dasein und alles Gute herkommt, widerstreitet. Diese Häßlichkeit ist klar, wenngleich nicht auf die Nachteile gesehen wird, die als Folgen ein solches Verfahren begleiten können« (Üb. d. Deutl. d. Grunds. S. 94). »Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen« (Krit. d. prakt. Vern. S. 37). Sittlich ist nur die dem Vernunftgebote gemäße und aus der reinen Gesinnung entspringende Handlung (l. c. S. 35). »In der Unabhängigkeit... von aller Materie des Gesetzes (nämlich einen begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit« (l. c. S. 39). »Das Wesentliche alles sittlichen Wertes der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme« (l. c. S. 87). Sittlich ist nur, was aus Achtung für das Gesetz der Vernunft geschieht (Grdleg. zur Met. d. Sitt. 1. Abschn.). Das Sittengesetz ist a priori, muß für alle Wesen notwendig gelten (l. c 2. Abschn.). Die Sittlichkeit erfordert, die Menschheit in jedem stets zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu brauchen (ib). In den »Träum. ein. Geisterseh.« bemerkt Kant: »Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe ist denkenden Naturen, wie solche sich aufeinander wechselseitig beziehen,... als die Folge einer wahrhaft tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen, vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl die empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistige Vollkommenheit bildet?« (l. c. I. T., 2. Hptst.). Im Begriffe der »schönen Seele« (s. d.) sucht SCHILLER Vernunft und Gefühl (Sinnlichkeit) auch in sittlicher Beziehung miteinander zu versöhnen. In der schönen Seele harmonieren Pflicht und Neigung (Üb. Anm. u. Würde). Ein ursprüngliches Sollen legt der Sittlichkeit zugrunde J. S. BECK (Grundr. d. krit. Philos. 1796). Nach KRUG ist die sittliche Triebfeder allein die Achtung gegen das Gesetz (Handb. d. Philos. II, 277 ff.. Syst. d. prakt. Philos.. vgl. Aretologie, 1818), so auch CHR. SCHMID (Grundr. d. Moralphilos., 1793), KIESEWETTER (Üb. d. erst. Grunds. d. Moralphilos. 1788/90). Ähnlich lehren JACOB (Philos. Sittenlehre, 1794), HOFFBAUER (Anfangsgründe d. Moralphilos.. 1797), TIEFTRUNK (Philos. Untersuchungen üb. d. Tugendlehre, 1798), SALAT (Moralphilos., 1810) u.a. - Nach BOUTERWEK fordert das Sittengesetz: handle übereinstimmend mit dir selbst in der reinsten Harmonie der Bestrebungen, durch die sich das eigentlich Menschliche in dir von dem Tierischen scheidet (Lehrb. d. philos. Wiss. II, 52. vgl. S. 19 ff.). Den Gedanken der Humanität (s. d.) betont HERDER. Nach E. REINHOLD besteht die Sittlichkeit in der innern Ordnung unseres Lebens, in dem Einklang des individuellen Geistes mit seinem Begriffe (Die Wissenschaften d. prakt. Philos. 1837).

Auf die Pflicht (s. d.) basiert die Sittlichkeit J. G. FICHTE. Das Prinzip der Sittlichkeit ist »der notwendige Gedanke der Intelligenz, daß sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen sollte« (Syst. d. Sittenl. S. 66). Das Sittengesetz ist die Äußerung und Darstellung des reinen, absoluten Ich, der Geistigkeit, im individuellen Ich. Soziale förderliche Wirksamkeit.

Kulturarbeit des einzelnen ist Pflicht. Die Kultur ist »das letzte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen, die völlige Übereinstimmung mit sich selbst, - wenn der Mensch als vernünftig sinnliches Wesen. - sie ist selbst letzter Zweck, wenn er als bloß sinnliches Wesen betrachtet wird. Die Sinnlichkeit soll kultiviert werden: das ist das Höchste und Letzte, was sich mit ihr vornehmen läßt« (Üb. d. Bestimm. d. Gelehrt. 1. Vorles.). »Ohne Sittlichkeit ist keine Glückseligkeit möglich.« Nur das macht glückselig, was gut ist (ib.). Vervollkommnung des Menschen ins unendliche ist seine Bestimmung (ib.). SCHELLING erklärt: »Sittlichkeit ist gottähnliche Gesinnung, Erhebung über die Bestimmung durch das Konkrete, ins Reich des schlechthin Allgemeinen« (Vorles. üb. d. Meth. d. akad. Stud.3, §, S. 145). »Die Sittlichkeit wird in der allgemeinen Freiheit objektiviert, und diese ist selbst nur gleichsam die öffentliche Sittlichkeit« (l. c. S. 146). »Nur Ideen geben dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung« (l. c. S. 148). Nach NOVALIS ist der sittliche Wille der Wille Gottes (Fragm. vermischt. Inhalts). Nach J. J. WAGNER ist die Sittlichkeit »die Gesundheit der Seele«, das Halten des Gleichgewichts zwischen Geist und Leib (Syst. d. Idealphilos. S. XIV. vgl. ESCHENMAYER, Syst. d. Moralphilos. 1818). Nach CHR. KRAUSE lautet das Sittengesetz: »Bestimme dich selbst zur Herstellung (Darstellung) des Guten, rein und allein, weil es gut ist. oder: wolle und tue mit Freiheit das Gute« (Abr. d. Rechtsphilos. S. 5).»Wolle rein und allein das Gute und tue es« (Vorles. S. 242). Der allgemeine sittliche Wille ist der »Grundwille, Urwille« (l. c. S. 245). »Wolle du selbst und tue das Gute als das Gute« (Syst. der Sittenl. I, 292 f.). Das Gute (Lebwesentliche) ist das vom Menschen als Menschen Darzulebende. »Jedes menschliche Streben, das aus reinem, freiem Willen entsprungen ist und von ihm regiert wird, ist sittlich gut« (Urb. d. Menschh.3, S. 52). - HEGEL bestimmt Moralität (s. d.) und Sittlichkeit als Objektivierung des freien Willens. Die Gesetze der Sittlichkeit sind »nicht zufällig, sondern das Vernünftige selbst«, Schöpfungen des objektiven Geistes (Philos. d. Gesch. S. 40). »Die Sittlichkeit ist die Vollendung des objektiven Geistes die Wahrheit des subjektiven und objektiven Geistes selbst« (Encykl. § 513). »Die frei sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit« (l. c. § 514). Sittlichkeit ist »die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, sowie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat« (Rechtsphilos. S. 210). K. ROSENKRANZ erklärt: »Der Begriff der Idee des Guten enthält den Begriff der allgemeinen Wahrheit des Willens, des Willens, wie er sein soll.« »Die Moralität ist der Begriff des einzelnen Willens zum absoluten, der Begriff der Realisation des absoluten Willens innerhalb des einzelnen und durch denselben« (Syst. d. Wiss. S. 452 ff.). »Die Wahrheit der Moralität ist... die Sittlichkeit, in welcher die Idee des Guten sich objektiv durch die Tätigkeit der mit ihr als ihrem Wesen sich identisch wissenden Subjekte realisiert« (l. c. S. 471 ff.). Auch nach HILLEBRAND erhebt sich die Sittlichkeit über die (individuelle) Moral (Philos. d. Geist. II, 133. vgl. G. BIEDERMANN, Philos. als Begriffswiss. I, 315 ff.). - Nach SCHLEIERMACHER bringt das sittliche, das Handeln der Vernunft »Einheit von Vernunft und Natur« hervor (Philos. Sittenlehre § 75 ff., 80). »Alles ethische Wissen... ist Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft« (l. c. § 81). »Die Ethik stellt also nur dar ein potenziertes Hineinbilden und ein extensives Verbreiten der Einigung der Vernunft mit der Natur« (l. c. § 81). Die Gebiete des sittlichen Handelns sind: Verkehr, Eigentum, Denken, Gefühl, ihnen entsprechen als ethische Verhältnisse: Recht, Geselligkeit, Glaube, Offenbarung. diesen vier ethische Organismen (Güter, s. d.): Staat, Gesellschaft, Schule, Kirche (vgl. Gr. d. philos. Eth. 1841. vgl. WW. III 2, 1838, S. 397 ff.). Vgl. CHALYBEAU, Wissenschaftslehre S. 410 ff. Nach HERBART sind die sittlichen Elemente »gefallende und mißfallende Willensverhältnisse« (Lehrb. zur Einl.5, S. 137, § 89). Sittlicher Geschmack ist die Gesamtheit der sittlichen Urteile (WW. II, 339). Diese sind Geschmacksurteile, »ästhetische« (s. d.) Urteile (l. c. IV, 105). sie haben ursprüngliche Evidenz (ib.), beziehen sich auf Willensverhältnisse, die Beifall oder Mißfallen erwecken (l. c. II, 344 ff.). Aus diesen Urteilen gehen praktische Ideen (s. d.) hervor. Das Sittliche ist Objekt absoluter Wertschätzung (l. c. II, 341 ff.). So auch ALLIHN (Gr. d. allg. Eth. S. 31 ff.. vgl. NAHLOWSKY, Allg. Eth.2, 1885. T. ZILLER, Allg. philos. Eth.2, 1888. STRÜMPELL, Abhandl. auf d. Geb. d. Eth., Ästh. u. Theol. 1895. STEINTHAL, Allg. Eth. 1885). - Nach BENEKE ißt sittlich das Tun, welches »nach der (objektiv und Subjektiv) wahren Wertschätzung als das Beste... sich ergibt« (Lehrb. d. Psychol. § 258). Die sittlichen Normen sind nicht angeboren, aber in der Natur des Menschen prädeterminiert (Syst. d. prakt. Philos. I, 1. vgl. S. 105). Schätzungen und Strebungen liegen der Sittlichkeit zugrunde (l. c. II, 4 ff.), Gefühle (Grundleg. zur Phys. d. Sitten, 1822). Die sichtige Wertschätzung ist mit dem Gefühle der Pflicht, des Sollens verbunden, weil sie der Natur der Seele entspringt (vgl. Pr. Philos. I, 32 ff., 68 ff., 99 ff., 219 ff., 340 ff., 429 ff.. Phys. d. Sitt. S. 80 ff.). - WAITZ leitet die Sittlichkeit aus dem Gefühle der Achtung vor dem Gesetze ab (Lehrb. 13. 395 ff.). SCHOPENHAUER begründet die Moral aus dem Mitleid (s. d.). Nach TRENDELENBURG besteht die Sittlichkeit in der Erfüllung der Idee des menschlichen Wesens, der menschlichen Gemeinschaft (Naturrecht). Nach K. GRASSMANN ist sittlich, »was dem in dem menschlichen Wesen Feststehenden, was dem im Leben desselben Geltenden gemäß ist« (Erkenntnislehre, S. 14). Nach V. CATHREIN ist sittlich gut, »was der vernünftigen Natur des Menschen angemessen ist« (Moralphilos. I, 230 ff.). Nach ULRICI ist das Sittengesetz in der Natur des Menschen begründet. Es ist ein »Gesetz der Erhaltung und Förderung des Ganzen durch das Einzelne und damit des Einzelnen durch das Ganze« (Gott u. d. Nat. S. 609). Die Vernunft setzt die ethischen Kategorien voraus, produziert sie nicht (l. c. S. 612), bringt sie nur zum Bewußtsein, erkennt sie allgemein an (ib.). Nach LOTZE ist nur der Keim des Guten angeboren (Mikrok. II2, 338). Es besteht die »unvertilgbare Idee eines verbindlichen Sollens, die unsere Tätigkeit und unsere Gefühle begleitet, die Selbstbeurteilung des Gewissens« (l. c. S. 340). Die Idee des Guten ist Grund und Zweck der Welt. Nach M. CARRIERE erhebt sich auf der festen Grundlage des materiellen Seins »der selbstbewußte wollende Geist mit seinen Zwecken und Ideen« (Sittl. Weltordn. S 3). Es gibt einen weltordnenden sittlichen Geist, »der die Natur selbst nur zum Mittel und zum Boden genommen, um seine Ziele zu erreichen« (ib.). Nach ÜBERWEG tritt das Bewußtsein der Form den unsittlichen Neigungen gegenüber als apodiktische Forderung auf (Welt- u. Lebensansch. S. 390 ff.). Die Ethik ist »die Lehre von den normativer Gesetzen des menschlichen Wollens und Handelns, die auf der Idee (d.h. dem Musterbegriff) des Guten beruhen« (l. c. S. 427). »Die psychologische Basis der Ethik liegt in den Wertunterschieden zwischen den verschiedenen psychischen Funktionen« (l. c. S. 433). Das moralische Gesetz lautet »Trage innerhalb der Grenzen deiner Berechtigung so viel, wie du vermagst, zur Lösung der Gesamtaufgabe der Menschheit bei« (l. c. S. 436). PLANCK setzt die Sittlichkeit in die Verwirklichung der Unendlichkeit und Universalität des sittlichen Zweckes auf der Grundlage der Naturbedingungen (Testam. ein. Deutsch. S. 577). Zweck des sittlichen, rechtlichen Handelns ist das »Wollen des Universellen und seiner ewigen Ordnung« (l. c. S. 692). Nach O. LIEBMANN haben die sittlichen Ideale absoluten Wert, sind sich selbst Zweck (Anal. d. Wirkl.2, S. 568 ff.). Nach WINDELBAND ist es das sittliche Ideal, »daß der Zweckgedanke sich das Zufällige unterwerfe und in den Mechanismus des Weltlaufs nur mit derjenigen Bestimmtheit hineinwirke, die seine eigene Realisierung zur Folge hat. Indem die ethische Tätigkeit die ihr an sich äußerliche Welt des Geschehens durchdringt, teilt sie dieser Welt ihren eigenen Wert mit und nimmt ihr die gleichgültige Unbestimmtheit der Zufälligkeit« (Die Lehr. vom Zuf. S. 60 f.). Nach K. LASSWITZ steht nur das Sittengesetz selbst über der Natur. das Wie seiner Vollziehung ist Natur (Wirkl. S. 164). »Die Persönlichkeit ist der Gesetzgeber des Sittengesetzes, d.h. sie ist die Einheit, zu der sich die Idee des Guten zum Selbstzweck bestimmt« (Wirkl. S. 167), P. NATORP bestimmt das Sittliche als ein Überindividuelles, Sociales (Socialpäd.. vgl. F. STAUDINGER, Das Sittenges., 1887. H. COHEN in Langes Gesch. d. Mat.5, 1896. L. WOLTMANN, Syst. d. moral. Bewußts., 1898). Nach R. STAMMEER hat »Sittlich« vier Bedeutungen: 1) gesetzmäßig im Wollen, 2) tugendhaft in Gedanken, 3) richtig im Verhalten, 4) geschlechtlich correct (Lehre vom richt. Recht S. 64). Der Kern der sittlichen Lehre ist, »an das Richtige sich in überzeugtem Wollen unbedingt hinzugehen« (l. c. S. 69), »das rechtlich Richtige gut wollen« (l. c. S. 70).


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