Übel

 

Übel (kakon, malum) ist ein Wertbegriff, bedeutet alles als schlecht, unvollkommen, schädlich, unzweckmäßig Gewertete, alles, was dem zwecksetzenden und nach Zwecken beurteilenden Geiste als nicht sein-sollend gilt. Subjektiv ist ein Übel, insofern es auf das Gefühl des einzelnen bezogen wird, objektives Übel ist die durch allgemeingültiges Urteil festgestellte Unzweckmäßigkeit. Beide Arten des Übels sind aber relativ, ein Übel an sich kann es nicht geben, nur in Beziehung zu irgendeinem, sei es individuell- immanenten, sei es universaltranszendenten Zwecke ist etwas gut (s. d.) oder vom Übel. Da aber Zwecke Willensintentionen sind, so ist das Übel mit dem Wollen gesetzt, unter der Voraussetzung, daß eine Vielheit von Willensintentionen besteht. Der Individualwille kommt, im Streben nach Selbsterhaltung, in Konflikt mit anderen Willen, und das Produkt desselben ist das Übel. Die relative Harmonie der Einzelwillen verringert das Übel, und die absolute Harmonie alles Wollens in der Welt müßte das Übel gänzlich aufheben. Vielleicht aber ist der Selbstwille, der Wille zur Individualität, ein ewiges Weltprinzip, das niemals durch den Willen zur Einheit des Alls aufzuheben ist, aufgehoben werden soll, weil zur Vollkommenheit des Ganzen gehörend, und dann ist das Übel sowohl eine ewige Folge der Selbstbejahung (der »Urschuld«) als auch ein ewiger Faktor der Entwicklung: an sich ein Negatives, eine Privatio (s. d.), wirkt es positiv, durch Reizung des Willens (vgl. GOETHE, Faust I). Das ist die Theodicee, die Konkordanz der Tatsache des Übels mit der Idee der Vollkommenheit der höchsten All-Einheit, der Gottheit. - Das mit der Individualität gesetzte ist das metaphysische Übel. davon sind die physischen (z.B. Krankheit), moralischen, sozialen Übel zu unterscheiden.

Zunächst einige Erklärungen des Begriffes »Übel«. Nach MICRAELIUS ist das Übel »privatio boni, seu defectus perfectionis debitae inesse«, kein Seiendes (ens) (Lex. philos. p. 615). Es gibt kein »malum metaphysicum«, welches dem Guten entgegengesetzt ist, »quia omne ens quoad essentiam bonum est« (l. c. p. 616. s. unten die Scholastiker). Nach HOBBES nennt der Mensch ein Übel dasjenige, »quod aversionis in ipso et odii causa est« (Leviath. I, 6). SPINOZA definiert: »Id malum vocamus, quod causa est tristitiae, hoc est, quod nostram agendi potentium minuit vel coërcet« (Eth. IV, prop. XXX). In der Natur (an sich) gibt es weder Gutes nach Schlechtes (De Deo II, 4). Nach LOCKE ist ein Übel alles, was Schmerz (Unlust) veranlaßt oder steigert oder Lust mindert oder ein anderes Übel bereitet oder ein Gut entzieht (Ess. II, ch. 20, §2). LEIBNIZ unterscheidet physisches, metaphysisches, moralisches Übel. Alles Übel ist ein Negatives, eine »Beraubung« (s. d.) des Guten (Theod. IB, § 21, 153). CHR. WOLF definiert: »Quicquid nos statumque nostrum sive internum, sive externum, imperfectiores reddit, malum est« (Psychol. empir. § 565). Nach PLATNER ist das Übel »das Leiden lebendiger Wesen« (Philos. Aphor. I, §1089). Nach KANT gibt es »Übel des Mangels (mala defectus) und Übel der Beraubung (mala privationis)«. »Die ersteren sind Verneinungen, zu deren entgegengesetzter Position kein Grund ist, die letzteren setzen positive Gründe voraus, dasjenige Gute aufzuheben, wozu wirklich ein anderer Grund ist, und sind ein negatives Gute« (Vers., den Begr. d. negat. Größ. in d. Weltweish. einzuführ., 2. Abschn., S. 36. vgl. Krit. d. prakt. Vern. I. T1., 1. B., 2. Hptst.). Nach G. E. SCHULZE ist ein Übel »der Gegenstand des Verabscheuens« (Psych. Anthropol. S. 406). HEGEL erklärt: »Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen« (Encykl. § 472). Nach SCHOPENHAUER ist ein Übel »alles dem jedesmaligen Streben des Willens nicht Zusagende« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 65). Vgl. Böse, Gut. Über Grund und Bedeutung des Übels bestehen verschiedene Ansichten und mehrfache Versuche einer Theodicee, letztere teils durch Betonung der Subjektivitat und Redativität der Übel, teils durch Hinweis auf die Zugehörigkeit des Übels zum Guten, zur Weltordnung.

HERAKLIT erklärt: tô men theô kala panta kai agatha kai dikaia, anthrôpoi de ha men adika hypeilêphasin, ha de dikaia (Fragm. 61). Nach PLATO ist die Gottheit schuldlos (anaitios) an dem Übel (Tim. 42 D. vgl. Gut). Die Stoiker lehren die vernünftige Ordnung des Alls. das All ist vollkommen, die Übel tragen nur zur Herstellung des Guten bei, sind für das Ganze notwendig. Das Böse stammt nicht von Gott, sondern von den Bösen, und das Schlechte wird von Gott zum Guten gelenkt (vgl. Stob., Ecl. I, 30. SENECA, Ep. 87, 11. MARC AUREL, In se ips. V, 8. VIII, 35. PLUTARCH, Stoic. rep. 44, 6. 35, 1. Diog. L. VII, 96). Eine Theodicee gibt auch PLOTIN. »Die Vernunft... bewirkt das sogenannte Böse selbst vernunftgemäß, indem sie nicht will, daß alles gut sei, gleichwie ein Künstler nicht alles an einem Tier zu Augen macht. Demgemäß machte denn auch die Vernunft nicht alles zu Göttern, sondern teils Götter, teils Dämonen, eine zweite Natur, dann Menschen und Tiere der Reihe nach, nicht aus Neid, sondern mit Vernunft, welche intellektuelle Mannigfaltigkeit in sich hat« (Enn. III, 2, 11). »Die mit Recht über die Bösen verhängten Strafen nun muß man füglich der Ordnung zuschreiben, die da alles gebührend leitet. Was aber den Guten mit Unrecht zustößt, wie Züchtigungen, Armut, Krankheit: soll man das als eine Folge früherer Sünden bezeichnen? Es ist dies ja mit verflochten und kündigt sich im voraus an, so daß es anscheinend gleichfalls nach der Vernunft geschieht. Jedoch geschieht es nicht nach naturnotwendiger Vernunft, und es lag nicht in der Absicht, sondern war eine unbeabsichtigte Folge... Vielleicht ist sogar dieses Unrecht... von Nutzen für den Zusammenhang des Ganzen. Was auf Grund früherer Verhältnisse geschieht, ist doch wohl nichts Unrechtes. Denn man darf nicht glauben, daß einiges in einer bestimmten Ordnung beschlossen, anderes dem eigenen Belieben überlassen ist. Denn wenn alles nach Ursachen und natürlichen Konsequenzen, nach einem Gedanken (Grunde) und einer Ordnung geschehen muß, so muß man annehmen, daß auch die kleineren Dinge mit hineingeordnet und verwebt sind« (l. c. IV, 3, 16). Die mittelalterliche Philosophie betrachtet in der Regel das Übel als ein Negatives, als bloße »Beraubung« des (allein seienden) Guten. So nach GREGOR VON NYSSA. Das Böse hat etwas Gutes an sich (De hom. opif. 20). Nach ORIGENES ist das Böse ein ouk on, eine sterêsis (In Joh. II, 7). Gegen die manichäische (s. d.) Auffassung des Übels (s. Böse) wendet sich AUGUSTINUS. Das Übel trägt zur Schönheit bei, dient dem Guten (De civ. Dei XI, 18. XVII, 11. De ord. I, 18. Enchir. 3). - MAIMONIDES erklärt: »Omne malum in ente aliquo existente existens est privatio boni alicuius e bonis illius« (Doct. perplex. III, 10). Nach ALBERTUS MAGNUS ist das Übel »privatio primae formae boni« (Sum. th. I, 27, 1). Das Übel hat nur eine negative Ursache: »Mali non potest esse aliqua causa nisi deficiens« (l. c. II, qu. 1). Das Übel erhöht das Gute: »Malum iuxta bonum positum eminentius et commendabilius facit bonum« (l. c. II, 62, 2). Nach THOMAS ist das Übel eine »privatio debitae perfectionis« (Contr. gent. I, 71), »privatio eius, quod quis natus est et debet habere« (l. c. III, 7), »privatio« oder »defectus boni« (Sum. th I, 49, l c. 48, 5). Das Übel trägt zur Güte des Ganzen bei: »Bonus totius praeeminet bono partis. Ad prudentem igitur gubernatorem pertinet, negligere aliquem defectum bonitatis in parte, ut fiat augmentum bonitatis in toto« (Contr. gent. III, 71). Es gibt »malum secundum quid« und »malum in se«.

 


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