Vernunft - Jacobi, Bolzano, Fichte, Hegel


Nach Kant wird die Vernunft zunächst vielfach als das Erkenntnisorgan für das Unendliche, Absolute, Übersinnliche angesehen. So besonders durch JACOBI. Nach ihm ist die Vernunft ein Vernehmen, Innewerden des Übersinnlichen, Ewigen, Göttlichen in unserem Geiste, eine »Glaubenskraft« (s. d.) (WW. II, 11), ein unmittelbares Gefühl von der Existenz des Übersinnlichen (WW. III, 351 ff., 318, 378). Als Vermögen der Intuition des Übersinnlichen betrachtet die Vernunft N. F. BIBERG. als »übersinnliche Rezeptivität« LICHTENFELS (Gr. d. Psychol. S. 165). Nach E. SCHMIDT ist die Vernunft das Gefühl für das Wahre, Schöne, Gute (Empir. Psychol. S. 347).

Nach CHR. WEISS ist sie der Sinn für das Unendliche, der allen Seelenvermögen eignet (Unt. üb. d. Wes. u. Wirk. d. menschl. Seele S. 430, 444, 500). Nach KRUG ist die Vernunft das »Vermögen, welches sich das Absolute selbst zum Ziele seiner Wirksamkeit setzt und insoferne nach dem Unendlichen strebt«. Sie versetzt den Menschen »über die sinnliche Ordnung der Wesen hinaus in eine übersinnliche Reihe der Wesen« (Fundamentalphilos. B. 191). Die theoretische Vernunft »setzt ein Absolutes in Ansehung des Erkennens«, die praktische Vernunft »setzt ein Absolutes in Ansehung des Handelns«. Aus beiden entspringen Ideen bezw. Ideale (Handb. d. Philos. I, 63 ff.). Die Vernunft ist das Vermögen, »zu einem gegebenen Bedingten die Bedingung zu suchen« (l. c. I, 299). Sie beruhigt sich erst beim Unbedingten, ihrem Ziele (l. c. S. 299). Es gibt einen empirischen und reinen Vernunftgebrauch (l. c. I, 300 ff.). Ähnlich lehren WEILLER (Verstand u. Vernunft, 1807), SALAT (Vern. u. Verst., 1808) u. a. G. E. SCHULZE bemerkt: »In der Vernunft (ratio)... besitzt der Mensch eine Kraft, wodurch er sich über das Sinnliche zu erheben vermag« (Psych. Anthropol. S. 119). »Insofern... die Vernunft durch ihre Ideen das Begehren bestimmt, wird sie praktische Vernunft genannt« (l. c. S. 408. vgl. S, 127). - GRILLPARZER bemerkt: »Die Vernunft ist nur der durch die Phantasie erweiterte Verstand« (WW. XV, 6). - Nach BOUTERWEK ist die Vernunft ein »Vermögen des Anerkennens der sinnlichen Wahrheit durch diskursive Begriffe« (Apodikt. I, 329). Im engeren Sinne ist sie »die Summe der höheren, den Verstand übersteigenden Funktionen der Denkkraft« (Lehrb. d. philos. Wissensch. I, 18). Das Absolute ist Objekt der Idee durch die Vernunft (l. c. I, 105) Nach FRIES ist die Vernunft die »erregbare Selbsttätigkeit des Erkenntnisvermögens« (Neue Krit. I, 77), »die Selbsttätigkeit im Erkennen, kraft deren die menschliche Erkenntnis unter den notwendigen Gesetzen der Einheit steht« (Psych. Anthropol. § 17. vgl. Log. S. 341). Rein ist die Vernunft, »wiefern ihr unabhängig vom Sinne die Form ihrer Erregbarkeit zukommt« (Neue Krit. I, 77. vgl. Psych. Anthropol. § 39). Ähnlich lehrt CALKER (Denklehre S. 205 ff., 208 ff.). - Nach BOLZANO ist Vernunft »die Kraft, durch die wir uns zur Erkenntnis reiner Begriffswahrheiten erheben« (Wissenschaftslehre III, § 226). - - Nach HERMES ist die Vernunft »das Vermögen, zu begründen« (Philos., Einleit. § 28, S. 153). Die Idee ist ein Begriff der Vernunft (ib.). Nach BIUND ist die Vernunft ein Denken vom Übersinnlichen, eines Grundes der vom Verstande gedachten Dinge und Verhältnisse, ein Begründen (Empir. Psychol. I2, 122 ff.), das Vermögen des Gründens (l. c. S. 136 f.). Ähnlich GÜNTHER, ESSER u. a. - Nach BACHMANN ist die Vernunft »die nach einem unerforschlichen Gesetze in unserem Bewußtsein hervortretende Ahnung eines vollkommneren Seins als die Erscheinungswelt, die des Unendlichen, Göttlichen, mit der Überzeugung der objektiven Realität desselben« (Syst. d. Log. S. 73).

J. G. FICHTE bestimmt die Vernunft als die in ihrer Ruhe aufgefaßte innere Tätigkeit (WW. VII, 533). Sie ist kein Ding, sondern »Tun, lauteres, reines Tun«, sie »schaut sich selbst an« (Syst. d. Sittenlehre S. 63). Als ihre Tätigkeit selbst bestimmend, ist sie praktische Vernunft (l. c. S. 64). Die Forderung derselben ist die, »daß alles mit dem Ich übereinstimmen, alle Realität durch das Ich schlechthin gesetzt sein solle« (Gr. d. g. 1 Wissensch. S. 245). Die Vernunft kann nicht theoretisch sein, ohne praktisch zu sein (ib.. vgl. Primat). »Der erste, zunächst sich anbietende, aber bloß negative Charakter der Vernünftigkeit ist Wirksamkeit nach Begriffen, Tätigkeit nach Zwecken.« »Die Vernunft wirkt immer mit Freiheit« (Bestimm. d. Gel ehrt., 2. Vorles.). Nach SCHELLING ist die Vernunft der Verstand in seiner Submission unter das höhere (WW. I 7, 472). Sie ist das »Erkennen, in welchem die ewige Gleichheit sich selbst erkennt« (WW. I 6, 141 ff.). Es gibt eine absolute Vernunft, außer der nichts ist. sie ist Identität (s. d.) von Subjekt und Objekt, seiend, unendlich, das All (WW. I 4, 114 ff., 207 f.. vgl. I 4, 301. I 5, 270. I 6, 516. I 7, 146f.). Später bemerkt Schelling: »Die Funktion der Vernunft ist es.... gerade am Negativen festzuhalten, wodurch eben der Verstand genötigt ist, das Positive zu suchen, dem allein jener sich unterwirft. Die Vernunft ist so wenig das unmittelbare Organ für das Positive, daß vielmehr erst an ihrem Widerspruch der Verstand zum Begriff des Positiven sich steigert« (WW. I 10, 174). »Die Vernunft erkennt nur das Unmittelbare, das Nicht -sein-könnende.« Sie ist »das Unbewegliche, der Grund, auf dem alles erbaut werden muß, aber eben darum nicht selbst das Erbauende. Unmittelbar bezieht sie sich nur auf die reine Substanz, diese ist ihr das unmittelbar Gewisse, und alles, was sie außerdem begreifen soll, muß ihr erst durch den Verstand vermittelt werden« (ib.). »Gott wird gerade nur mit dem Verstand erkannt« (ib.). - H. STEFFENS erklärt: »Es gibt nur ein wahres Erkennen, und dieses ist das absolute Erkennen der Vernunft.« »Was in der Vernunft erkannt wird, ist nichts als die Vernunft selbst« (Grdz. d. philos. Naturwiss. S. 1). »In der Vernunft ist alles außer der Vernunft, nichts« (l. c. S. 2). »Die Vernunft ist schlechthin, d.h. sie ist ewig« (L G. S. 3). »Das Erkennen der Identität des ewigen Denkens und ewigen Seins ist die Selbstanschauung der Vernunft schlechthin - intellektuelle Anschauung« (l. c. S. 5). In der Vernunft erkennen heißt, »ein jedes einzelne in seinem Wesen, d.h. in der Potenz des Ewigen, erkennen« (l. c. S. 6). Nach SUABEDISSEN ist die Vernunft in engeren Sinne »das höchste Vernehmende in der Erkenntnistätigkeit, ist der Sinn für das Ursprüngliche« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 128). ESCHENMAYER definiert: »Vernunft ist das Vermögen der Prinzipien. Prinzip ist, was ein ganzes System von Begriffen zur Einheit verknüpft« (Psychol. S. 106). Nach SCHUBERT ist die Vernunft »das erkennende Vermögen für das innewohnende, unsichtbare Prinzip der sichtbaren Bewegung«, die Schöpferin einer Welt des Idealen, indem sie die Ideen erkennt (Lehrb. d. Menschen- u. Seelenkunde, S. 131 ff.). Nach HEGEL ist die allgemeine Vernunft in den Erkennenden identisch mit dem Wesen der Dinge, der objektiven Vernunft. Die Vernunft, Idee (s. d.) ist das wahre Sein, das Absolute ist Vernunft (s. Panlogismus), die sich zum System der objektiven und subjektiven Begriffe (s. d.), der Welt entfaltet (s. Dialektik). Die Vernunft ist die Einheit von Denken und Sein (s. Identitätsphilosophie). »Was vernünftig ist, das ist wirklich. und was wirklich ist, das ist vernünftig« (Rechtsphilos., Vorr. S. 17). Die Vernunft ist (Subjektiv) das »Dem des in sich konkreten Allgemeinen« (Encykl. § 30). Sie ist »negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstandes in nichts auflöst. sie ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt und das Besondere darin begreift« (Log. I, 7). Sie ist »die Gewißheit, alle Realität zu sein« (Phänomenol. S. 177). Sie ist »die an und für sich seiende Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewußtseins« (Encykl. § 437), der »Begriff des Geistes« (l. c. § 417. vgl. § 387) (vgl WW. I, 169. III, 7. V, 116 f.. VI, 95. VIII, 19. IX, 45. XVIII, 89 f.). Nach J. E. ERDMANN ist die Vernunft »wirkliches, unendliches, freies Denken« (Gr. d. Psycholog. § 110). »Vernunft ist allgemeines Selbstbewußtsein, eine Allgemeinheit, die als Substanz des Bewußtseins das Selbstbewußtsein überhaupt möglich macht« (Üb. Glaub. u. Wissen 1837, S. 141). Ähnlich K. ROSENKRANZ (Syst. d. Wissensch. S. 415. vgl. HANUSCH, Handb. d. Erfahrungsseelenlehre, S. 124). Nach MICHELET ist die Vernunft freie und reine Bewegung und Verknüpfung der Begriffe durch sich selbst (Anthropol. B. 367, 442 ff.). Nach G. A. GABLER ist nur das Vernünftige das wahrhaft Seiende (Syst. d. theoret. Philos. 1827, I, 428 ff.).

Nach CHR. KRAUSE ist die Vernunft »das Vermögen der Erkenntnis des Ganzen«, das »Vermögen, die Einheit und die Wesenheit zu schauen« (Vorles. S. 346). Die Vernunft steht frei und selbständig der Natur gegenüber (Urb. d. Menschh.3, S. 13). Gott vereint Natur und Vernunft zur Wechseldurchdringung (l. c. S. 272). Nach AHRENS ist die Vernunft »die den menschlichen Geist auszeichnende Kraft des Unendlichen, Unbedingten, Göttlichen« (Naturrecht I, 2). Sie ist eine aus Gott stammende Kraft (l. c. S. 241). Nach C. H WEISSE ist Vernunft die »Allgemeinheit des geistigen Selbstbewußtseins und Erkennens« (Grdz. d. Met. S. 38). Sie ist »das Für-sich-sein der reinen metaphysischen Kategorie in Gestalt der Vorstellung, des denkenden Erkennens« (l. c. S. 556). In allem Seienden ist »nur die Vernuft das wahrhaft Seiende« (l. c. S. 559). Die Vernunft ist zugleich Geist und Wille (ib.), die »absolute Voraussetzung alles Weltenlebens« (l. c. S. 560). - Nach SCHLEIERMACHER ist die Vernunft »das Ineinander alles Dinglichen und Geistigen als Geistiges« (Philos. Sittenlehre, § 47). Im höchsten Wissen ist Einheit von Natur und Vernunft (l. c. § 48). Das Handeln der Vernunft in der Natur ist ein organisierendes (l. c. § 124. vgl. Sittlichkeit, Ethik). Nach H. RITTER ist die Vernunft »das Vermögen, von welchem alle zweckmäßigen Tätigkeiten unseres Lebens ausgehen« (Syst. d. Log. u. Met. I, 231. vgl. Philos. Paradoxa S. 11, 47, 127, 134). Nach FR. SCHLEGEL ist die Vernunft die Anwendung des Willens auf die Denkkraft, das Vermögen der Zwecke (Deutsch. Museum I, 1. H., S. 96). G. W. GERLACH erklärt Vernunft als »die in der Bildung allgemeiner Lebensregeln sich betätigende Form des Geistes« (Hauptmom. d. Philos. S. 141).


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