Kraft - Lotze, Fechner, Wundt
Als (objektiver oder subjektiver) kausaler Beziehungsbegriff wird die Kraft verschiedentlich formuliert. R. MAYER faßt die Kraft im Sinne der Energie (s. d.), als Arbeitsleistung, auf und spricht den Gedanken der »Erhaltung der Kraft« aus (vgl. Energie, dort auch HELMHOLTZ). Es gibt nur eine einzige Kraft. »In ewigem Wechsel kreist dieselbe in der toten wie in der lebenden Natur; dort und hier kein Vorgang ohne Formänderung der Kraft.« Formen der Kraft sind Fallkraft, Bewegung, Wärme u.s.w. Das Hypothetische im Kraftbegriffe wird eliminiert (Bemerk. üb. d. Kräfte d. unbelebt. Nat. 1842; Die organ. Beweg. 1846). Nach E. H. WEBER ist die Kraft »die unbekannte Ursache derjenigen Wechselwirkung der Körper, die sich durch Bewegung oder durch Druck äußert, die aber für uns kein Phänomen ist«. »Der einzige Fall, wo wir von dieser unbekannten Ursache etwas mehr wissen, ist eben der, wo unser Wille die Ursache oder ein Teil der Ursache des Denkens ist, den wir fühlen« (Tastsinn u. Gemeingef. S. 85). Nach REDTENBACHER besteht die Kraft »in der Fähigkeit der Körper, wechselseitig anziehend oder abstoßend einzuwirken und dadurch die Zustände ihres Seins verändern zu können« (Das Dynamidensyst. 1857, S. 11 ff.). Nach LOTZE bezeichnet die Kraft »nichts weiter als die Fähigkeit und die Nötigung zu einer nach Art und Größe bestimmten zukünftigen Leistung, die allemal eintreten wird, sobald eine bestimmte Bedingung realisiert sein wird, und die solange nicht eintritt, als diese Bedingung nicht realisiert ist« (Gr. d. Met. § 61). Nur in Beziehung zueinander haben die Körper Kräfte (ib.). FECHNER bemerkt: »Was man jedem Körper an Kraft besonders beilegt, ist nur der Anteil, mit dem er je nach seiner Individualität und Stellung zu andern Körpern zur Erfüllung des Gesetzes beiträgt« (Üb. d. physikal. u. philosoph. Atomenlehre2, S. 121). Nach O. LIEBMANN ist die Kraft »der in rerum natura liegende objektive Realgrund, daß das Gesetz gilt«. Die Kraft ist ein »Grenzbegriff« (Anal. d. Wirkl.2, S. 285); sie ist das »Realprincip« des Geschehens (ib.). Nach VOLKMANN ist die Kraft »eine unbekannte Eigenschaft der Ursache« (Lehrb. d. Psychol. II4, 279). Nach VOLKELT ist sie »Betätigung der Ursache nach der Richtung hin« (Erfahr. u. Denk. S. 234). Nach WUNDT ist Kraft »die an die Substanz gebundene Kausalität«. Physikalisch ist sie »die Beschleunigung, die an einer Masse von bestimmter Größe hervorgebracht wird« (Log. I2, S. 583 f., 614 ff., 625; II2 1, 327 ff.; Syst. d. Philos.2, S. 279 ff.). Die Materie (s. d.) ist das System der Ausgangs- und Angriffspunkte der Kräfte (l.c. Log. II2, 1, S. 327 ff.; Syst. d. Philos.2, S. 284 ff.; Philos. Stud. X, 11 ff.; XII, 3. Artikel). Die Kraft einer Substanz ist die Eigenschaft, vermöge deren sie ihre Wirkung ausübt. Alle Kräfte in der Natur sind »bewegende Kräfte und wirken zwischen räumlich getrennten Teilen der Materie«. Sie sind alle »Zentrallkräfte«, d.h. »sie gehen von bestimmten Punkten des Raumes aus, an denen sich substantielle Träger der Kräfte (Kraftpunkte oder Kraftatome) befinden«. Die vier allgemeinsten »dynamischen Prinzipien« sind: 1) das Trägheitsprinzip, das den Charakter einer »permanenten Hypothese« hat; 2) das »Prinzip der Zentralkräfte«: »Jede Kraft wirkt in der geraden Verbindungslinie ihres Ausgangs - und Angriffspunktes, und ihre Wirkung besteht in einer Geschwindigkeitsänderung, die der Größe der Kraft direkt und der Masse, auf die sie wirkt, umgekehrt proportional ist«; 3) das »Prinzip der Gegenwirkung«; 4) das »Prinzip der Kräfteverbindung« (Syst. d. Philos.2, S. 476 ff.; Log. I2, S. 614 ff.; II2 l, 327 ff.). Die »Kraftgleichungen« »enthalten als Wirkungen die Beschleunigungen irgend welcher Massen, als Ursachen die Komponenten samt den mit ihnen verbundenen speziellen Bedingungen, unter denen die Komponenten stehen« (Log. II2 1, 327 ff.). Die psychische Kraft besteht in der »Wirksamkeit des wollenden Ich in Bezug auf die ihm gegebenen Vorstellungen«, sie ist rein aktuell (s. d.), bedeutet im engeren Sinne »die Wirkungsfähigkeit in Bezug auf die aktive Apperzeption der Vorstellungen« (Log. I2, S. 625 ff.). Nach R. WAHLE ist Kraft empirisch »passive und active Beeinflussungsfähigkeit«. Die Kraft selbst ist ein völliges x, ein Postulat, daß Veränderung nicht durch Bleiben erfaßt werde (Das Ganze d. Philos. S. 113 ff.).
Den idealistischen Kraftbegriff, nach welchem Kraft nichts ist als Gesetzmäßigkeit (s. d.), Notwendigkeit empirischer Verknüpfungen, haben die Kantianer (s. d.) und Immanenzphilosophen (s. d.). Nach SCHUPPE bedeuten die Begriffe: Kraft, Vermögen, Fähigkeit, Anlage nur »Causalbeziehungen«, nicht Wahrnehmungsinhalte (Log. S. 72). Sie bedeuten nur die direct zum Sein der Dinge gerechnete Notwendigkeit, nach welcher dem a ein b folgt. »Um wessenwillen ein Ereignis möglich genannt wird, um deswillen wird einem Dinge die Kraft, es zu bewirken, zugesprochen« (l.c. S. 73). Die psychischen Kräfte (Vermögen, Anlagen) sind »das direkt zum psychischen Sein gehörige, es ausmachende Gesetz, daß unter bestimmten Umständen die und die Regungen oder Bestimmtheiten bewußt werden oder im Bewußtsein auftreten« (l.c. S. 73). SCHUBERT-SOLDERN versteht unter Kraft die gesetzmäßige Notwendigkeit des Eintretens bestimmter Veränderungen unter bestimmten Bedingungen (Gr. ein. Erk. S. 62), die Erwartung einer bestimmten Veränderung (l.c. S. 144).
Den (metaphysischen) Kraftbegriff will aus der Physik d'ALEMBERT eliminieren (Trait. de dynam., préf.). So auch COMTES Positivismus (s. d.). Ferner KIRCHHOFF (Vorles. üb. mathem. Phys. I, S. 5 ff). CZOLBE betont: »Das Verlangen, für die Bewegung als Ursachen nicht nur unbekannte, sondern auch undenkbare Kräfte zu finden, beruht... nur auf der theologischen Neigung nach einer Welt des Unbegreiflichen, die hier ausgeschlossen ist. Der Begriff ›Kräfte‹ kann wohl aus Bequemlichkeitsrücksichten für die unsichtbaren, elementaren Bewegungen der Atome gebraucht werden, ihn aber für die tiefere Ursache derselben anzusehen, ist durchaus falsch und verwirrend. Derartige Kräfte gibt es nicht« (Gr. u. Ursp. d. m. Erk. S. 82). Kraft ist nichts als der im Raume befindliche anschauliche Gegensatz (Neue Darstell. d. Sensual. S. 110). Nach DUBOIS- REYMOND sind Kraft und Materie Abstractionen der Dinge, die vereinzelt keinen Bestand haben. Die Kraft ist nur »eine versteckte Ausgeburt unseres Hanges zur Personifikation«. In Wahrheit ist sie nichts als »das Maß, nicht die Ursache der Bewegung« (Untersuch. üb. tier. Elektricit. I, Vorw. S. XLI, XLII). E. MACH hält die Anwendung des Kraftbegriffs für »Fetischismus« (Populärwiss. Vorles. S. 259). Es gibt nur »Abhängigkeiten« (s. d.). Ähnlich R. AVENARIUS, auch STALLO, HERTZ. Nach OSTWALD ist der physikalische Grundbegriff nicht die Kraft oder Materie (s. d.), sondern die Energie (s. d.). Kraft ist »das, was sich der Bewegung der Körper widersetzt« (Vorles. üb. Naturphilos.2, S.157). Masse ist nur »die besondere Eigenschaft, von der die Energie eines bewegten Körpers außer seiner Geschwindigkeit abhängt« (l.c. S. 185), »Kapazität für Bewegungsenergie« (l.c. S. 283 f.), »die Eigenschaft eines gegebenen Objektes unter dem Einfluß von Bewegungsursachen eine bestimmte Geschwindigkeit anzunehmen« (Energet. S. 6 f., 13). Nach H. CORNELIUS bezeichnen »Massen« und »Kräfte« nichts anderes als »gesetzmäßige Zusammenhänge von Wahrnehmungen«. Der Wert dieser Begriffe »beruht nur darin, daß durch ihre Einführung die Beschreibung unserer Erfahrungen eine Vereinfachung erfährt« (wie bei MACH; Einl. in d. Philos. S. 327). Ähnlich H. KLEINPETER. CLIFFORD erklärt: »Eine gewisse veränderliche Eigenschaft des Stoffes (der Grad der Veränderung seiner Bewegung) hat sich als beständig an seine relative Lage zu anderem Stoffe gebunden herausgestellt; betrachtet man sie beschrieben durch Ausdrücke, die sich auf diese Lage beziehen, so heißt sie Kraft. ›Kraft‹ ist somit eine Abstraction, die sich auf objektive Tatsachen bezieht; sie ist eine der Arten der Ordnung meiner Empfindungen« (Von d. Nat. d. Dinge an sich S. 34). Vgl. SECCHI, Die Einheit der Naturkräfte 1876. - Vgl. Kausalität, Gesetz, Vermögen, Substanz, Objekt, Wirken, Energie, Ich, Seele, Seelenvermögen.