2. Die Bedeutung des Gemeinschaftsgefühls für die Charakterentwicklung.


Bei der Entwicklung des Charakters spielt neben dem Streben nach Macht noch ein zweiter mitwirkender Faktor eine hervorragende Rolle, das Gemeinschaftsgefühl. Es kommt, wie das Geltungsstreben, schon in den ersten seelischen Regungen des Kindes, besonders in seinen Zärtlichkeitsregungen, in den Regungen des Kontaktsuchens zum Ausdruck. Die Bedingungen für die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls haben wir an anderer Stelle kennengelernt, wir wollen sie an dieser Stelle nur kurz wiederholen. Vor allem steht es unter der ständigen Einwirkung des Minderwertigkeitsgefühls und des von ihm ausgehenden Strebens nach Macht. Der Mensch ist eine außerordentlich empfängliche Basis für Minderwertigkeitsgefühle aller Art. In dem Moment, da ein Minderwertigkeitsgefühl auftritt, beginnt eigentlich erst der Prozeß seines Seelenlebens, die Unruhe, die nach einem Ausgleich sucht, die nach Sicherheit und Vollwertigkeit verlangt, um ein Leben in Ruhe und Freude genießen zu können. Aus der Erkenntnis des Minderwertigkeitsgefühls erwachsen die Verhaltungsmaßregeln, die dem Kind gegenüber zu beobachten sind, die in der allgemeinen Forderung gipfeln, dem Kind das Leben nicht sauer zu machen, es davor zu behüten, die Schattenseiten des Lebens allzu schwer kennenzulernen, ihm also möglichst die Lichtseiten des Lebens zu vermitteln. Hier knüpft eine weitere Gruppe von Bedingungen an, die ökonomischer Natur sind und bewirken, daß Kinder unter Verhältnissen aufwachsen, die nicht sein müßten, weil Umbildung, Unverständnis und Not schließlich Erscheinungen sind, denen abzuhelfen wäre. Eine wichtige Rolle spielen körperliche Mängel, die bewirken, daß die normale Art des Lebens für ein solches Kind nicht taugt, daß ihm Privilegien zuerkannt und besondere Maßregeln ergriffen werden müssen, um seine Existenz zu erhalten. Selbst wenn wir das alles vermögen, das können wir nicht verhindern, daß solche Kinder das Leben doch als etwas Schwieriges empfinden, wodurch ihnen die Gefahr droht, an ihrem Gemeinschaftsgefühl schweren Abbruch zu erleiden.

Wir können einen Menschen nicht anders beurteilen, als indem wir die Idee des Gemeinschaftsgefühls an seine ganze Haltung, an sein Denken und Handeln heranbringen und es daran messen. Dieser Standpunkt ist uns deshalb gegeben, weil die Stellung jedes Einzelnen innerhalb der menschlichen Gesellschaft ein tiefes Gefühl für die Zusammenhänge des Lebens erfordert, demzufolge wir mehr oder weniger dunkel, manchmal auch ganz klar fühlen und wissen, was wir den andern schuldig sind. Die Tatsache, daß wir mitten im Getriebe des Lebens stehen und der Logik des menschlichen Zusammenlebens unterliegen, macht es aus, daß wir für die Beurteilung Sicherheiten bekommen müssen, für die wir kein anderes Maß als eben die Größe des Gemeinschaftsgefühls anerkennen können. Es ist uns unmöglich, unsere geistige Abhängigkeit vom Gemeinschaftsgefühl zu verleugnen. Es gibt keinen Menschen, der imstande wäre, ernstlich jedes Gemeinschaftsgefühl für sich in Abrede zu stellen. Es gibt keine Worte, um sich der Verpflichtungen gegen die Mitmenschen zu entschlagen. Das Gemeinschaftsgefühl bringt sich stets mit warnender Stimme in Erinnerung. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir immer im Sinne des Gemeinschaftsgefühls vorgehen, wohl aber, daß es eines gewissen Kraftaufwandes bedarf, um dieses Gefühl zu drosseln, beiseite zu schieben, und ferner, daß bei der Allgemeingültigkeit des Gemeinschaftsgefühls niemand eine Handlung vornehmen kann, ohne daß er sich in irgendeiner Weise vor diesem Gefühl rechtfertigt. Daher rührt der Zug, im menschlichen Leben, für alles, was man denkt und tut, Gründe, zumindest Milderungsgründe beizubringen und es entsteht daraus die eigenartige Technik des Lebens, des Denkens und Handelns, daß wir immer im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgefühl stehen wollen, zu stehen glauben oder wenigstens den Schein dieses Zusammenhanges erwecken wollen. Kurz, diese Erörterungen sollen zeigen, daß es etwas wie einen Schein des Gemeinschaftsgefühls gibt, der wie ein Schleier andere Tendenzen verdeckt, deren Aufdeckung uns erst das richtige Urteil über einen Menschen gestatten würde. Die Tatsache der Täuschungsmöglichkeit bedeutet eine Erschwerung bei der Beurteilung der Größe des Gemeinschaftsgefühls. Aber Menschenkenntnis ist nun einmal so schwer und daher muß sie zur Wissenschaft erhoben werden. Um zu zeigen, welcher Mißbrauch hier getrieben werden kann, geben wir im folgenden einige Fälle aus unserer Erfahrung.

Ein junger Mann erzählt, er sei einmal mit mehreren Kameraden auf das Meer hinaus zu einer Insel geschwommen, auf der sie einige Zeit verweilten. Einem von ihnen geschah es, daß er, sich über den Rand des Felsens beugend, das Gleichgewicht verlor und ins Meer fiel. Der junge Mann beugte sich vor und sah neugierig zu, wie sein Kamerad unterging. Als er später darüber nachdachte, fiel es ihm auf, daß bei ihm damals nichts als Neugierde vorhanden war. Nebenbei sei bemerkt, daß der Fall gut ausgegangen ist. Was aber den Erzähler betrifft, muß man feststellen, daß er des Gemeinschaftsgefühls zum großen Teil bar ist. Wenn man dann noch hört, daß er in seinem Leben eigentlich noch niemand etwas zuleide getan hat, es sogar gelegentlich versteht, mit jemand auf sehr gutem Fuß zu stehen, so wird uns dies doch nicht darüber täuschen, daß sein Gemeinschaftsgefühl gering ist. Selbstverständlich muß zu einer solchen immerhin gewagten Forderung noch Material beschafft werden. Wir bringen zu diesem Zweck noch eine beliebte Tagesphantasie dieses Jünglings. Ihr Inhalt war, sich in einem schönen kleinen Häuschen mitten im Walde zu befinden, abgeschlossen von allen Menschen. Dieses Bild war ihm auch für seine Zeichnungen ein beliebtes Motiv. Wer sich in Phantasien auskennt, wird, wenn er die Vorgeschichte kennt, den Mangel an Gemeinschaftsgefühl leicht erkennen. Und wenn wir ohne moralischen Aufwand feststellen, daß bei ihm irgendeine fehlerhafte Entwicklung eingewirkt und die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls verhindert haben muß, so werden wir ihm kaum unrecht tun.

An einer anderen Geschichte, von der wir hoffen wollen, daß sie nur eine Anekdote geblieben ist, soll der Unterschied zwischen echtem und falschem Gemeinschaftsgefühl noch deutlicher gezeigt werden. Eine alte Frau glitt beim Besteigen einer Tramway aus und fiel in den Schnee. Sie konnte sich nicht erheben und eine Menge Menschen eilte vorbei ohne ihr zu helfen, bis endlich jemand hintrat und sie aufhob. In diesem Augenblick sprang ein anderer hinzu, der sich irgendwo verborgen gehalten hatte und begrüßte den Retter mit den Worten: »Endlich einmal ein anständiger Mensch; seit fünf Minuten stehe ich da und warte, ob wohl jemand diese Frau aufheben werde. Sie sind der erste.« Hier ist deutlich zu sehen, wie durch eine Art Überhebung, durch Vortäuschen eines Gemeinschaftsgefühls Mißbrauch getrieben wird und sich jemand zum Richter über andere aufwirft, Lob und Tadel verteilt, ohne selbst einen Finger gerührt zu haben.

Es gibt Fälle, die so kompliziert liegen, daß es nicht leicht ist, eine Entscheidung über die Größe des Gemeinschaftsgefühls zu treffen. Da bleibt nichts anderes übrig, als zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Wir werden dann nicht im unklaren bleiben, wenn wir z. B. den Fall beurteilen sollen, wo ein Feldherr, der den Krieg schon halb für verloren hält, noch Tausende von Soldaten in den Tod jagt. Er wird natürlich den Standpunkt vertreten, daß er im Interesse der Allgemeinheit gehandelt habe, und viele werden ihm beistimmen. Wir werden aber heute wenig Neigung haben, ihn als einen richtigen Mitmenschen anzusehen, welche Gründe er auch angeben mag.

Was wir in solchen Fällen brauchen, um ein richtiges Urteil fällen zu können, ist ein Standpunkt, dem Allgemeingültigkeit zukommt. Für uns ist dieser Standpunkt der Nutzen der Allgemeinheit, das Wohl der Gesamtheit. Wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen, wird uns die Entscheidung in den seltensten Fällen Schwierigkeiten bereiten.

Die Größe des Gemeinschaftsgefühls wird sich in allen Lebensäußerungen eines Menschen zeigen. Es wird oft schon ganz äußerlich darin zum Ausdruck kommen, wie z. B. einer den andern anblickt, wie er ihm die Hand reicht, mit ihm spricht. Sein ganzes Wesen wird uns oft schon rein gefühlsmäßig einen Eindruck vermitteln. Wir ziehen manchmal ganz unbewußt aus dem Verhalten eines Menschen Schlüsse, die so weit gehen, daß wir unsere eigene Haltung davon abhängig machen. In diesen Erörterungen tun wir nichts anderes, als daß wir diesen Vorgang in die Sphäre des Bewußtseins verlegen und auf diese Weise ermöglichen, zu prüfen und abzuschätzen, ohne Fehlerquellen befürchten zu müssen. Dann sind wir nicht mehr durch Voreingenommenheiten irregeleitet, die viel leichter möglich sind, wenn sich dieser Vorgang im Unbewußten abspielt, wo wir nicht kontrollieren können und keine Revisionsmöglichkeit haben.

Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß bei der Beurteilung eines Charakters immer nur die Gesamtposition des Menschen als wesentlicher Faktor ins Auge zu fassen ist, daß es nicht genügt, Einzelerscheinungen herauszugreifen, etwa nur auf das körperliche Substrat, nur auf das Milieu oder nur auf die Erziehung zu schauen. Mit dieser Feststellung ist zugleich ein Alp von der Brust der Menschheit genommen. Denn wenn wir diesen Weg festhalten und ausbauen können, wenn wir uns bewußt sind, daß es durch eine vertiefte Selbsterkenntnis möglich ist, uns selbst entsprechender zu verhalten, dann ist es auch möglich, auf andere, insbesondere auf Kinder mit Erfolg einzuwirken und zu verhüten, daß ihr Schicksal blindes Fatum wird, daß sie, weil sie aus einer dunklen Familienatmosphäre stammen, im Unglück landen oder verharren müssen. Wenn wir das zustande bringen, dann hat die Kultur der Menschheit einen entscheidenden Schritt nach vorwärts getan und es besteht die Möglichkeit, daß eine Generation heranwächst, die sich dessen bewußt ist, selbst Herr ihres eigenen Schicksals zu sein.


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