Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie


(1910)

 

Unter den nervösen Erscheinungen, die zu einer Erschwerung des Lebens oder zur Enthebung von jeder Leistung Anlaß geben, demnach zu einer weitgehenden Ausschaltung aller Forderungen der Gemeinschaft, nehmen schmerzhafte Sensationen einen großen Platz ein. Ihre Heftigkeit, oft auch ihre Lokalisation und ihre Einschätzung durch den Kranken stehen immer mit dem zu enträtselnden Zweck in Einklang. Lokale organische Minderwertig­keiten (Skoliosen, Augenanomalien, empfindliche Haut, Plattfuß usw.) und andererseits Arrangements der Schmerzen, wie durch Luftschlucken, lassen sich meist feststellen und entschleiern dann die elektive Wirkung der Neurose und ihre Affekte.

Die individualpsychologische Methode aber hat ihre strengen Indikationen und verlangt, vielleicht mehr wie jede andere Methode, eine genaue Abgrenzung ihres Arbeitsgebietes. Daß sie bloß für psychogene Erkrankungen Geltung hat, ist von vornherein selbstverständlich. Ebenso darf die Möglichkeit der psychischen Verarbeitung des gefundenen Materials nicht durch intellektuelle Störungen des Patienten, durch Verblödung, Schwachsinn, Delirien gestört sein. Wieweit die Psychose beeinflußbar ist, bildet heute noch eine offene Frage: Sicherlich aber ist sie der Analyse zugänglich, zeigt dieselben Grundlinien wie die Neurose und kann für das Studium abnormaler psychischer Einstellungen wertvolle Dienste leisten. Daß Fälle von Psychosen, die im geistigen Verfall noch keine Fortschritte gemacht haben, bei intensivster Leistung des Individualpsychologen Besserungen und Heilungen zulasssen, kann ich aus meiner Erfahrung feststellen.

Soll nun das Arbeitsgebiet der individualpsychologischen Methode voll ausgenützt werden, so muß in erster Linie die Möglichkeit gegeben sein, eine psychogene Krankheit zu erkennen.

Bezüglich der typischen Psychoneurosen, der Neurasthenie, der Hysterie und der Zwangsneurosen, ist die wissenschaftliche Überzeugung von deren psychogenem Ursprung so sehr gefestigt, daß Einwendungen zögernd und nur von einer Seite auserhoben werden. Man betont dann nur den konstitutionellen Faktor und versucht alle Erscheinungen unter den Gesichtspunkt der erblichen Degeneration zu bringen, funktionelle wie psychische Erscheinungen in gleicher Weise, ohne den Übergang aus der organischen Minderwertigkeit zur neurotischen Psyche ins Auge zu fassen. Daß dieser Übergang nicht unbedingt eintreten muß und daß andere Übergänge zum Genie, zum Verbrechen, zum Selbstmord, zur Psychose führen, habe ich vor längerer Zeit nachgewiesen.1) Und ich bin in dieser und anderen Arbeiten zu dem Schlüsse gelangt, daß eine angeborene Minderwertigkeit von Drüsen- und Organsystemen zur neurotischen Disposition führt, wenn sie sich psychisch geltend macht, d. h. wenn sie in dem hereditär belasteten Kinde das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber seiner Umgebung erzeugt.2) Ausschlaggebend bleibt demnach die Situation des Kindes und seine persönliche, also kindlichen Irrtümern unterworfene Einschätzung seiner Position. Bei genauerer Untersuchung zeigen sich die Neurosen nicht als Dispositions-, sondern als Positionserkrankungen. So können äußere Degenerationszeichen, sobald sie zu Entstellungen und Häßlichkeit Anlaß geben, oder wenn sie äußerlich sichtbare Signale tiefersitzender Organ­minderwertigkeiten sind und sich mit diesen verbinden — verbildete Ohren mit angeborenen Gehöranomalien, Farbenblindheit, Astigmatismus oder andere Brechungsanomalien, Schielen usw. — abgesehen von ihren objektiven Symptomen ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit in der Kindesseele hervorrufen. In der gleichen Weise wirken andere Organminderwertigkeiten, insbesondere wenn sie das Leben nicht bedrohen, sondern psychische Entwicklungsmöglichkeiten zulassen. Die Rachitis kann das Längenwachstum stören, zu auffallender Kleinheit und Plumpheit Anlaß geben; rachitische Deformitäten — Plattfuß, X- und O-Beine, Skoliose usw. — können sowohl die Beweglichkeit als das Selbstgefühl des Kindes herabsetzen. — Ausfallserscheinungen der Nebennieren, der Schilddrüse, des Thymus, der Hypophyse, der inneren Genitalien, insbesondere die angeborenen Formen leichter Natur, deren Symptome oft mehr den Tadel der Umgebung als eine entsprechende Behandlung erfahren, werden nicht nur für die organische, sondern vor allem für die psychische Entwicklung verhängnisvoll, indem sie das Gefühl der Zurückgesetztheit und Minder­wertigkeit wachrufen und unterhalten. So werden auch die exsudative Diathese, der Status lymphatico-thymicus und der asthenische Habitus 3) nach beiden Richtungen verderblich, ebenso der Hydrozephalus und leichte Formen von Schwachsinn. Angeborene Minderwertigkeiten des Harn- und Ernährungsapparates schaffen objektive Symptome 4) in gleicher Weise wie subjektive Gefühle der Minderwertigkeit, oft auf dem Umweg über den Kindesfehler der Enuresis, der Incontinentia alvi, oder weil die körperliche Not, Furcht vor Strafe und Schmerzen oft übertriebene Vorsicht beim Essen, Trinken und Schlafen 5) gebieten.

Die Betrachtungen und Nachweise dieser Art, objektive und subjektive Ausstrahlungen der Organminderwertigkeit betreffend, scheinen mir von größter Wichtigkeit zu sein, denn sie zeigen uns die Entstehung neurotischer Symptome, insbesondere neurotischer Charakterzüge unter Benutzung angeborener Organminderwertigkeiten und sind gleichermaßen beweisend für die sekundäre Bedeutung konstitutioneller Organminderwertigkeit wie für die primäre psychogener Faktoren als Quellen der Neurose. Die normale Basis für diese gespannteren Beziehungen zwischen Organischem und Psychischem ist leicht zu erkennen: Sie findet sich in der relativen Organminderwertigkeit des Kindes, auch des gesunden, gegenüber dem Erwachsenen, und sie löst dort, wenn auch in erträglicherem Maße, das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit aus, das bei fühlbarer absoluter, insbesondere dauernder Organminderwertigkeit zu den unerträglichen Gefühlen der Minderwertigkeit führte, wie ich sie bei vielen Neurotikern gefunden habe. Das Kind ist in unserer Kultur unter allen Umständen ein Gernegroß und wird gerade von solchen Erfolgen phantasieren und träumen, die ihm von Natur aus schwierig gemacht sind. Es wird alles sehen wollen, wenn es kurzsichtig ist, alles hören wollen, wenn es Gehörsanomalien hat, wird immer sprechen wollen, wenn Sprachschwierigkeiten oder Stottern vorhanden sind, und es wird immer riechen wollen, wenn angeborene Schleimhautwucherungen, Septumdeviationen oder adenoide Vegetationen das Schnuppern mit der Nase behindern.6) Schwerbewegliche, plumpe Kinder werden zeitlebens den Ehrgeiz haben, die ersten am Platz zu sein, ähnlich wie Zweit- und Spätgeborene. Wer als Kind an Flinkheit zu wünschen übrig ließ, wird stets von der Angst geplagt sein, sich zu verspäten, und wird leicht bei anderen Anlässen zum Hasten und Jagen gedrängt, so daß sich sein ganzes Leben zwangsweise wie unter dem Bilde eines Wettrennens abspielt. Der Wunsch zu fliegen wird am ehesten bei denjenigen Kindern ausgelöst, die schon beim Springen große Schwierigkeiten vorfinden. Diese Gegensätzlichkeit der organisch gegebenen Beeinträchtigungen und der Wünsche, Phantasien und Träume, den psychischen Kompensationsbestrebungen also, ist eine derart durchgreifende, daß man daraus ein psychologisches Grundgesetz ableiten kann vom dialektischen Umschlag aus der Organminderwertigkeit über ein subjektives Gefühl der Minderwertigkeit in psychischer Kompensations- und Überkompensationsbestrebungen. Nur daß hier die Einschränkung wohl im Auge zu behalten ist: nicht um ein Naturgesetz handelt es sich dabei, sondern um eine allgemeine, naheliegende Verführung des menschlichen Geistes.

Das äußere Gebaren und innere psychologische Verhalten des also zur Neurose disponierten Kindes zeigt deutlich die Spuren dieses dialektischen Umschlags, und zwar in außerordentlich früher Kindheit. Sein Verhalten, so verschieden es in jedem einzelnen Falle sein mag, läßt sich dahin verstehen, daß es in allen Beziehungen seines Lebens »auf der Höhe« sein will. Ehrgeiz, Eitelkeit, alles verstehen wollen, überall mitreden wollen, hervorzuragen an körperlicher Kraft, an Schönheit, an Kleidung, der erste in der Familie, in der Schule zu sein, die Aufmerksamkeit durch gute und böse Handlungen auf sich zu lenken charakterisieren die ersten Phasen seiner abnormalen Entwicklung. Leicht schlägt das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit durch und äußert sich in Angst und Schüchternheit, welche beide als neurotische Charakterzüge fixiert werden können. Bei dieser Fixierung wird das Kind durch eine Tendenz geleitet, die dem Ehrgeiz nahe verwandt ist; man darf mich nicht allein lassen, jemand (Vater, Mutter) muß mir helfen, man muß mit mir freundlich, zärtlich sein (zu ergänzen: denn ich bin schwach, minderwertig) wird zum Leitmotiv seiner psychischen Regungen. Eine dauernd gereizte Überempfindlichkeit, Mißtrauen und Wehleidigkeit wachen darüber, daß keine Zurücksetzung oder Beeinträchtigung Platz greifen könne. Oder das Kind wird bis aufs äußerste scharfsichtig, wird vorempfindlich, indem es alle Möglichkeiten einer Zurücksetzung austastet, mit der bestimmten Absicht, sich davor zu sichern, sei es durch aktives Eingreifen, durch positive Leistungen, Geistesgegenwart, Schlagferrigkeit oder durch Anlehnung an einen Stärkeren, durch Wecken des Mitleids und der Sympathie, durch Übertreibung etwaiger Leiden, durch Hervorrufen oder Simulation von Krankheiten, von Ohnmächten und Todeswünschen, die sich bis zu Selbstmordimpulsen verdichten können, immer in der Absicht, das Mitleid wachzurufen oder Rache zu üben wegen einer Beeinträchtigung.7)

Denn auch Haß- und Rachegefühle lodern auf, Jähzorn und sadistische Gelüste, Hang zu verbotenen Handlungen und fortwährende Störungen der Erziehungspläne auch durch Indolenz, Faulheit und Trotz zeigen das disponierte Kind in seiner Auflehnung gegen vermeintliche oder wirkliche Unterdrückung. Solche Kinder machen aus dem Essen, Waschen, Ankleiden, Zähneputzen, Schlafengehen und Lernen eine Affäre, lehnen sich gegen die Ermahnungen zur Defäkation und zum Urinlassen auf oder arrangieren Zufälle, Erbrechen, wenn man sie zum Essen zwingt oder zum Gang in die Schule drängt, Beschmutzungen auch mit Stuhl und Urin, Enuresis, damit man sich auch bei Nacht mit ihnen beschäftige, sie nicht allein schlafen lasse, allerlei Schlafstörungen, um Liebesbeweise zu provozieren, ins Bett der Eltern genommen zu werden, kurz, um durch ihren Trotz oder durch das Mitleid der Umgebung zur Geltung zu kommen.

Meist liegen diese Tatsachen klar zutage und zeigen eine völlige Übereinstimmung, ob man sie nun aus dem Leben und aus den Charakterzügen des disponierten Kindes oder aus der Anamnese des Neurotikers oder durch Aufhellung der Dynamik seiner Symptome gewinnt. Zuweilen hat man es aber scheinbar mit »Musterkindern« zu tun, die einen erstaunlichen Gehorsam zeigen. Gelegentlich verraten sie sich aber doch auch durch einen unverständlichen Wutausbruch, oder es leitet ihre Überempfindlichkeit, stete Gekränktheit, reichlich fließende Tränen oder Schmerzen ohne objektiven Befund (Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Fußschmerzen, Migräne, übertriebene Klagen wegen Hitze, Kälte, Müdigkeit) auf die richtige Spur. Und man versteht dann leicht, daß hier der Gehorsam, die Bescheidenheit, die ständige Bereitschaft zur Unterwerfung nur zweckentsprechende Mittel sind, um sich Geltung zu verschaffen und Belohnungen, Liebesbeweise zu erhalten, ganz so, wie ich es in der Dynamik des Masochismus beim Neurotiker zeigen konnte.8)

Eine Reihe von Erscheinungen beim disponierten Kinde muß ich noch erwähnen, die sich enge an die vorher geschilderten anschließen. Sie verraten alle den Zug, durch trotziges Festhalten von ungehörigen oder störenden Betätigungen den Erziehern Ärgernis zu bereiten und die, wenn auch unwillige, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hierher gehören Neigungen, die etwas Spielhaftes an sich haben, wie: sich taub, blind, lahm, stumm, ungeschickt, vergeßlich, verrückt zu stellen, zu stottern, zu grimmassieren, zu fallen, sich zu beschmutzen. Auch normal veranlagte Kinder zeigen solche Anwandlungen. Es gehört aber der krankhafte Ehrgeiz, der Trotz und Geltungsdrang des Disponierten dazu, um diese Spielereien und »Faxen« länger festzuhalten und auszunützen. Ebenso können solche Kinder in boshafter und quälerischer Absicht, zuweilen freilich auch um einer tyrannischen Bedrückung zu entgehen, einmal erlebte oder beobachtete Krankheitssymptome oder Unarten (Heiserkeit, Husten, Nägelbeißen, Nasenbohren, Daumenlutschen, Luftschlucken, Berührungen der Genitalien, des Afters usw.) festhalten und oft lange Zeit ausüben. Ja auch die Schüchternheit und Angst können aus diesen Zwecken fixiert und zu Nutzeffekten (um nicht allein gelassen zu werden, um allein zu bleiben, um bedient zu werden) verwendet werden. Dabei spielt regelmäßig die Inanspruchnahme eines entsprechenden minderwertigen Organs eine Rolle, wie ich es in der Studie (l. c) gezeigt habe.

Von allen diesen Eigenheiten des disponierten Kindes führen Übergänge zu den Symptomen der Hysterie, der Zwangsneurose, der Unfallneurose und -hysterie, der Neurasthenie, des Tic convulsif, der Angstneurose, zur Phobie und zu den scheinbar monosymptomatischen funktionellen Neurosen (Stottern, Obstipation, psychischer Impotenz usw.), die alle ich nach meinen Erfahrungen insgesamt als einheitliche Psychoneurose betrachten muß. Was in der Kindheit von diesen Erscheinungen, ohne volles Verständnis, auf Grund einer reflektorischen Einstellung angenommen wird, um die Linie des geringsten Widerstandes für den aufgespeicherten Aggressionstrieb zu gewinnen, wird vorbildlich, freilich meist überbaut und reichlich ausgestaltet im Symptom des Neurotikers. Wie weit dabei die erhöhte Suggestibilität (Charcot, Strümpell), der hypnoide Zustand (Breuer), der halluzinatorische Charakter der neurotischen Psyche (Adler), also die Einfühlung, in Frage kommt, soll an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden. Sicher ist, daß der einzelne Anfall sowohl als auch die kontinuierlichen neurotischen Symptome sowie der bleibende neurotische Charakter in gleicher Weise unter dem Einfluß der untersuchten infantilen Einstellung zustande kommen, einer Einstellung, die durch kindliche Wunschphantasien, Irrtümer und falsche Wertungen ins Abnorme geraten ist.

Die Wunschphantasien des Kindes haben aber keineswegs nur platonischen Wert, sondern sind der Ausdruck eines psychischen Antriebs, der die Einstellung und damit die Handlungen des Kindes unumschränkt diktiert. Die Intensität des Antriebs ist graduell verschieden, wächst aber bei den disponierten Kindern — ihr verstärktes Minderwertigkeitsgefühl kompensierend — ins Unermeßliche. Die Untersuchung fördert zunächst Erinnerungen an Geschehnisse (»infantiles Erlebnis, Traumen«) zutage, bei denen das Kind eine bestimmte Stellung eingenommen hat. Ich habe bereits im ›Aggressionstrieb‹ (l. c) darauf hingewiesen, daß »die Bedeutung des infantilen Erlebnisses in der Richtung zu reduzieren sei, daß in ihm der starke Trieb und seine Grenzen (als Wunsch und dessen Hemmung) zur Anschauung kommen«, ferner, »daß der Zusammenstoß mit der Außenwelt, sei es in Form (dort: infolge) unlustbetonter Erfahrungen, sei es infolge der Ausbreitung des Verlangens auf kulturell verwehrte Güter, beim minderwertigen Organ mit unbedingter Gewißheit erfolgt und die Triebverwandlung erzwingt«. Die stärkere Triebausbreitung der disponierten Kinder geht dialektisch aus dem Gefühl der Minderwertigkeit hervor, die Tendenz zur Überwindung von Schwächen, die Sehnsucht nach Triumph liegt in den Träumen und Wunschphantasien deutlich zutage, und die Einstellung auf eine Heldenrolle ist der Versuch einer Kompensation.

In dieser tieferen neurotischen Schichtung deckt die Analyse auch sexuelle Wünsche und Regungen auf, die in seltenen Fällen inzestuöser Natur sind, nebenher aber auch Versuche und Sexualbetätigungen gegenüber familienfremden Personen. Man wird solche Beobachtungen, die vor Freuds phantastischen Analysen der Kinderpsychologie unbekannt waren, der Annahme von der unschuldsvollen Reinheit des Kindes auch in brüsker Weise ein Ende machen, dennoch verstehen, wenn man sich der oft tollen Triebausbreitung erinnert, des kompensatorischen Gegengewichts gegenüber dem Gefühl der Minderwertigkeit beim disponierten Kinde. Auch in anderer Richtung als der sexuellen macht sich diese Aufpeitschung des Trieblebens geltend. Man erfährt von gesteigertem Freßtrieb, Schautrieb, Schmutztrieb, von sadistischen und verbrecherischen Neigungen, von Herrschsucht, Trotz, Jähzorn oder von eifrigem Bücherlesen und außerordentlichen Bestrebungen, sich irgendwie auszuzeichnen. Alle diese Tendenzen werden erst ganz klar, wenn es gelingt, den Sinn der frühzeitig geweckten Herrschsucht und ihrer Manifestationen zu erfassen und zu verstehen, daß in der kindlichen Revolte eine Zähmung des Trieblebens unmöglich ist.

Dieser Sinn lautet: Ich will ein Mann sein. Und er setzt sich bei Knaben wie bei Mädchen, vor allem bei disponierten Kindern, in so greller Weise durch, daß man von vorneherein zur Vermutung gedrängt wird, diese Tendenz sei im Gegensatz zu einer mit Unlustaffekt bedachten Empfindung, nicht männlich zu sein, hervorgebrochen. Und in der Tat zeigt sich die neurotische Psyche im Banne dieser Dynamik, die ich als psychischen Hermaphroditismus mit folgendem männlichen Protest beschrieben habe.9) Mit der Fixierung des Gefühls der Minderwertigkeit bei disponierten Kindern, das zur kompensatorischen Aufpeitschung des Trieblebens Anlaß gibt, ist so der Anfang gegeben zu jener eigenartigen Entwicklung der Psyche, die im übertriebenen männlichen Protest endet. Diese psychischen Vorgänge gegen den Anstoß zu einer abnormen Einstellung des Neurotikers zur Welt und prägen ihm — noch in verstärktem Maße — Charakterzüge auf wie die vorher geschilderten, die sich weder aus dem Sexualtrieb noch aus den Ichtrieben allein ableiten lassen, sondern insgesamt als die Größenideen des Neurotikers ins Auge fallen, zumeist den Sexualtrieb modifizieren und hemmen und sich oft dem Selbsterhaltungstrieb entgegenstemmen.

Dieser Gruppe von Charakterzügen gesellen sich andere bei, die den Zusammenstoß der schrankenlosen Triebausbreitung mit kulturell verwehrten Triebbefriedigungen als Schuldgefühle, Feigheit, Unentschlossenheit, Zagheit, oder auch Furcht vor Blamage und vor Strafe begleiten. Ich habe sie ausführlich in der Arbeit ›Über neurotische Disposition (l. c) beschrieben. Recht häufig findet man masochistische Regungen, übertriebenen Hang zum Gehorsam, zur Unterwerfung und zur Selbstbestrafung und kann aus diesen Charakterzügen auf die psychische Dynamik sowie auf die Vorgeschichte schließen. Das stärkste Hemmnis für die Triebausbreitung ist offenbar die Erreichung der Grenze des Gemeinschaftsgefühles. Diese Konstellation wirkt als Memento und übernimmt fürderhin die Aufgabe, die Organtriebe mit Hemmungen zu belasten. Der Neurotiker fühlt sich dann als Verbrecher, wird äußerst gewissenhaft und gerechtigkeitsliebend, seine Einstellung geschieht aber unter der Fiktion, daß er eigentlich böse, mit unbändiger Sexualität bedacht, von schrankenloser Genußsucht erfüllt und jeder Missetat, jeder Ausschreitung fähig, daher zu besonderer Vorsicht verpflichtet sei. In der Tat wird er durch sein einseitiges Streben nach persönlicher Macht zum Feind der Gemeinschaft.

Das Arrangement dieser Fiktion ist ersichtlich übertrieben und dient der Hauptaufgabe des Neurotikers, sich vor Niederlagen zu sichern.10) Die Sicherungstendenzen des Neurotikers helfen eine dritte Gruppe von Charakterzügen aufbauen, die sämtlich dem Leitmotiv »Vorsicht« angepaßt sind. Mißtrauen, Zweifelsucht springen wohl am deutlichsten hervor. Aber ebenso regelmäßig finden sich übertriebener Hang zur Reinlichkeit und Ordnung, Sparsamkeit und fortwährendes Prüfen von Menschen und Dingen, so daß die Neurotiker meist nichts fertig bringen.

Alle diese Charakterzüge hemmen den Unternehmungsgeist und die Entwicklung zum Mitmenschen und schließen sich eng an die Zagheit an infolge von Schuldgefühlen. Alles wird vorausbedacht, alle Folgen werden in Erwägung gezogen, immer ist der Neurotiker in gespannter Erwartung von Möglichkeiten, und stets wird seine Ruhe von Vermutungen und Berechnungen des Kommenden gestört. Eine großartiges Sicherungssystem durchzieht sein Denken und Handeln, zeigt sich regelmäßig in seinen Phantasien und Träumen und wird recht häufig zu Verstärkungen gezwungen: durch das Aufstellen eines Mementos, durch das unbewußte Arrangement von Niederlagen, von Vergeßlichkeit, Müdigkeit, Faulheit und schmerzhaften Sensationen aller Art. Eine ungeheure Rolle spielt in diesem Sicherungssystem die neurotische Angst, die in den verschiedenartigsten Ausprägungen, als Phobie, Angsttraum, in der Hysterie und Neurasthenie direkt oder indirekt (»beispielsweise«) als Hemmung sich vor die Aggression stellt. Das Training aller dieser Sicherungstendenzen führt zuweilen eine erhebliche Steigerung des Ahnungsvermögens und des Scharfblicks herbei, zumindest aber den Schein einer solchen Steigerung, worauf die Annahme eigener telepathischer Fähigkeiten, einer Art von Prädestination und suggestiver Kraft bei manchen Neurotikern beruht. Es scheint, daß jeder Nervöse abergläubisch ist. In diesem Punkte berühren sich Charakterzüge dieser Gruppe mit solchen der ersten, die aus Größenideen stammen, wie man andererseits die kompensatorische Ausprägung der Größenideen als Sicherung gegen das Gefühl der Minderwertigkeit anzusehen gezwungen ist. — Ich habe noch eine Anzahl anderer Sicherungen kennengelernt, von denen ich hervorheben will Masturbation als Sicherung gegen den Sexualverkehr und seine Folgen, desgleichen psychische Impotenz, Ejaculatio praecox, Perversion, sexuelle Anästhesie und Vaginismus, immer bei Personen zu finden, die einer Hingabe an die andern, an die Gemeinschaft, nicht fähig sind, weil sie alle beherrschen wollen. In gleicher Weise erlangen Kinderfehler, funktionelle Erkrankungen und Schmerzen eine Verwertung und Fixierung, wenn sie geeignet sind, den Neurotiker in seinem Zweifel zu bestärken und ihn von Betätigungen kultureller Art abzuhalten. Recht häufig bringt die Frage einer Eheschließung oder die Berufsergreifung den Stein ins Rollen. Dann tritt infolge mangelhafter Vorbereitung zur Kooperation die Sicherungstendenz bei den Disponierten in krankhafter Weise hervor und arrangiert Warnungstafeln oft auf entlegenen Gebieten, so daß der Sinn und Zusammenhang zu fehlen scheint. Der Neurotiker aber handelt folgerichtig. Er fängt an, die Gesellschaft zu meiden, legt sich allerlei Schranken auf, hindert sich durch die eintretende Spannung (durch Kopfschmerz z. B.) am Lernen und Arbeiten, malt sich die Zukunft in den düstersten Farben, beginnt deshalb auch zu sparen und läßt sich von einer geheimen Stimme warnen, die ihm zuraunt: Wie kann ein Mensch wie du, mit solchen Fehlern und Mängeln, mit solchen trüben Aussichten sich zu einer folgenschweren Tat entschließen! Insbesondere was als Neurasthenie herumläuft, ist voll von solchen Arrangements und Sicherungstendenzen, die aber bei keiner Neurosefehlen und uns den Kranken auf der Rückzugslinie zeigen.

Eine 4. Gruppe von verräterischen Zeichen einer neurotischen Einstellung kommt dadurch zustande, daß wie bei Gruppe I die Tendenz, ein Mann zu sein, in Handlungen, Phantasien, Träumen, oft in nebensächlichen Details hervorbricht, aber im sexuellen Jargon redet. Ich habe in meinen Arbeiten ›Über neurotische Disposition‹ und über ›psychischen Hermaphroditismus‹ (l. c) ausführlicher darüber berichtet. Es ist das Schicksal der Neurotiker, daß sie aus einer Situation der Unsicherheit erwachsen sind und deshalb nach Sicherungen streben. Die gleiche Unsicherheit deckt die Analyse bezüglich des Urteils über die eigene Geschlechtsrolle des disponierten Kindes auf. Viele meiner männlichen Neurotiker hatten in der Kindheit und oft über die Pubertät hinaus weibliche Gesichtszüge oder sekundäre Merkmale der Weiblichkeit, auf die sie nachträglich ihr Gefühl der Minderwertigkeit zurückführten. Oder sie zeigten Anomalien der äußeren Genitalien, Kryptorchismus, Phimose, Verwachsungen, Hypoplasien und andere Wachstumsanomalien, auf die sie sich berufen zu können glaubten. Photographien und Bilder aus den früheren Kinderjahren haben mir die Ursachen der Unsicherheit der Geschlechtsrolle näher gebracht. Auch das über Jahre ausgedehnte Tragen von Mädchenkleidern, Spitzen, Halsbändern, Locken und langen Haaren können das gleiche Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels bei Knaben hervorrufen. In gleichem Sinne verstärkend wirken die Beschneidung und Kastrationsdrohungen, sowie die Drohung vom Abfallen und Verfaulen des Penis, wie sie bei kindlichen Masturbanten von den Erziehern angewendet werden. Denn des Kindes stärkste Tendenz ist und bleibt: ein Mann zu werden, und dieses Ziel kann sich ihm in den männlichen Sexualorganen des Erwachsenen symbolisieren. Nun findet sich die gleiche Sehnsucht bei den Mädchen, bei denen vielleicht regelmäßig ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber den Knaben zu einer kompensatorischen männlichen Einstellung drängt. Nach und nach zerfällt den disponierten Kindern die ganze Welt der Begriffe, ja alle Beziehungen der Gesellschaft in männliche und weibliche. Und stets drängt der Wunsch danach, die männliche, die Heldenrolle zu spielen, sei es auch, wie bei den Mädchen, oft mit den sonderbarsten Mitteln. Jede Form von Aktivität und Aggression, Kraft, Reichtum, Triumph, Sadismus, Ungehorsam und Verbrechen werden fälschlich als männlich gewertet, ganz so wie in der Gedankenwelt der meisten Erwachsenen. Als weiblich gilt das Dulden, Warten, Leiden, Schwäche und masochistische Regungen, die nie als Endziel aufgefaßt werden dürfen, wenn sie sich in der Neurose durchsetzen, sondern die stets nur — als Pseudomasochismus — den Weg zum männlichen Triumph, zur Geltungssucht der Gruppe I ebnen sollen. Die begleitenden Charakterzüge dieser Gruppe sind solche des männlichen Protestes, zwangsmäßige Übertreibungen des sexuellen Fühlens und Wollens, exhibitionistische und sadistische Regungen, sexuelle Frühreife und Zwangsonanie, Nymphomanie, Abenteurerlust, starke sexuelle Begehrlichkeit, Narzissismus und Koketterie. Gleichzeitig auftretende weibliche Phantasien (Schwangerschaftsund Geburtsphantasien, masochistische Regungen und Minderwertigkeitsgefühle) dienen als Memento zur Verstärkung des männlichen Protestes oder zur Sicherung gegen die Folgen desselben, oft nach der Wiedervergeltungsformel: »Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!«11) — Der Begriff des Zwanges wird außerordentlich erweitert und auch der bloße Schein desselben unter stetem Kämpfen energisch abgewehrt, so daß ganz normale Beziehungen wie Liebe, Ehe, aber auch jede andere Einfügung als unmännlich, d. h. weiblich empfunden und verworfen werden.

So bietet der Neurotiker eine bedeutende Anzahl von Charakterzügen, die untereinander zusammenhängen, sich planvoll fördern oder hemmen und einen Schluß auf seine abnorme Einstellung zulassen, sich in letzter Linie auf Übertreibungen und falsche Wertungen männlicher und weiblicher Züge zurückführen lassen. Wenn wir der obigen Aufstellung einen Vorwurf machen können, so ist es der, daß sie allzu schematisch ist, die überreichlichen Verbindungen der einzelnen Charakterzüge lange nicht erschöpfen kann und nur einen Teil, den wesentlichen, aus der Charakterologie des Neurotikers gibt. Immerhin habe ich mich überzeugt, daß von dieser Seite her die Prüfung auf den Bestand einer psychogenen Erkrankung zweckmäßig ist und gelingt. Und wenn ich mich nunmehr dem aufgeworfenen Problem zuwende, ist die Trigeminusneuralgie eine psychogene Erkrankung? so kann ich dies auf Grund gleichlautender Resultate bejahen. Der psychische Aufbau und die psychische Dynamik der Trigeminusneuralgie ist in den von mir eingehend untersuchten Fällen so einheitlich und ergibt die geschilderten Charakterzüge so deutlich, daß auch ein Hinweis auf die geringe Kasuistik sich von selbst erledigt. Und was gleichfalls für unsere Frage von großer Bedeutung ist: nicht bloß die Erkrankung an Trigeminusneuralgie folgt den oben geschilderten Grundlinien der Neurose, sondern jeder einzelne Anfall stellt sich anstatt eines psychischen Geschehens ein. Ich will versuchen, diese Beziehungen der neurotischen Psyche und des neurotischen Charakters zur Erkrankung und zum Anfall auseinanderzusetzen.

Der Patient O. St., ein 26jähriger Staatsbeamter, kam zu mir mit der Mitteilung, daß man ihm wegen einer Trigeminusneuralgie eine Resektion vorgeschlagen habe. Die Erkrankung dauerte bereits 1½ Jahre, war eines Nachts auf der rechten Seite aufgetreten und zeigte sich seither in täglich mehrmaligen, heftigen Anfällen. Seit einem Jahr sei er gezwungen, etwa jeden 3.-4. Tag, bei besonders heftigen Schmerzen eine Morphiumeinspritzung zu machen. Dabei sei jedesmal Erleichterung eingetreten. Er habe verschiedene Behandlungen durchgemacht, medikamentöse mit Akonitin, Wärme- und elektrische Prozeduren, alle ohne Erfolg. Auch zwei Alkoholinjektionen habe er erhalten, die den Schmerz namhaft steigerten. Ein längerer Aufenthalt im Süden habe ihm einige Erleichterung gebracht, doch habe er auch dort täglich Anfälle gehabt. Derzeit sei er durch die unaufhörlichen Anfälle ganz entmutigt und sei, um seine Karriere nicht opfern zu müssen, zur Operation entschlossen. Nur weil ihm der gewissenhafte Chirurg sichere Heilung nicht in Aussicht stellen konnte, wolle er mich auch um meinen Rat fragen.

Ich hatte zu dieser Zeit bereits umfangreiche Erfahrungen über die psychische Genese neuralgischer Anfälle und der Trigeminusneuralgie gesammelt und konnte dabei auch Beobachtungen aus älterem Material nachträglich verwerten. Die einheitliche Formel, zu der ich durch Analyse und durch den Vergleich der einzelnen Anfälle gekommen war, lautete: die Trigeminusneuralgie sowie die einzelnen Anfälle treten regelmäßig auf, wenn sich im Unbewußten der Affekt der ohnmächtigen Wut an ein Gefühl der Zurückgesetztheit anknüpft.12) Mit dieser Konstatierung hatte ich die Möglichkeit, die abnormale psychische Einstellung der Patienten mit Trigeminusneuralgie verstehen zu lernen und die davon abhängigen Krankheitserscheinungen als Äquivalente von Affektvorgängen zu erkennen.13) Der maßgebende Eindruck ergibt sich aus der bald gewonnenen Tatsache, daß der Patient die Herabsetzung erwartet, auf sie lauert, daß er den Begriff der Herabsetzung ganz ungeheuer erweitert und daß er — bei mancher Neurose mehr, bei mancher weniger — zuweilen Herabsetzungen sucht und solche arrangiert — um daraus die Überzeugung abzuleiten, er müsse sich sichern, denn man würdige ihn nicht, er sei ein Pechvogel usw. Diese Einstellung ist die allgemein neurotische und durchaus nicht für Trigeminusneuralgie charakteristisch. Reduziert man sie und führt man sie auf die kindliche pathogene Situation zurück, so erkennt man deutlich den psychischen Habitus des disponierten Kindes: ein Gefühl der Minderwertigkeit, kompensiert durch den mit Ehrgeiz und Herrschsucht überladenen männlichen Protest. Die Analyse förderte die Elemente dieser Situation zutage:

I. Kryptorchismus — die Entdeckung desselben bei sich selbst — das Gefühl der Minderwertigkeit und die Unsicherheit, ob er mit diesem Defekt ein ganzer Mann werden könne. Dazu Erinnerungen aus dem 6.-8. Lebensjahr an sexuelle Attacken auf Mädchen in der Absicht, Aufklärungen über den Geschlechtsunterschied zu gewinnen. Affektvolle Erinnerung an Kinderspiele, in denen Patient ein Held, zumindest aber ein General oder der Vater des Hauses war, was in diesem Falle zusammenfiel.

II. Scheinbare oder wirkliche Bevorzugung des um 5 Jahre jüngeren Bruders, der im Schlafzimmer der Eltern schlafen durfte. Dazu Erinnerungen des Patienten an Versuche, auch ins Schlafzimmer der Eltern zu gelangen. Um dies zu erreichen, boten sich dem Patienten in seiner Kindheit mehrere Mittel. Erstens Angst, Angst vor dem Alleinsein, die er gelegentlich so deutlich zu äußern vermochte (Pavor nocturnus), daß ihn die Mutter zu sich nahm. Zweitens Gehörshalluzinationen, die auch Angst auslösen konnten (Angst als Sicherung), Geräusche, die er auf Einbrecher bezog, immer aus der Richtung des Schlafzimmers kommend, so daß er nachsehen ging. — An dieser Stelle fügt sich auch das Generalspiel, den Vater spielen, gut ein als männlicher Protest gegen seine Unsicherheit in seiner Geschlechtsrolle. (Eine Photographie aus dem 5. Jahre zeigt ihn in Mädchenkleidern mit Armband und Korallenschmuck um den Hals.) Der Sinn dies kindlichen Gebarens, der häufigste Ausweg aus der pathogenen kindlichen Situation, spricht nun mit großer Deutlichkeit: »Ich fühle mich unsicher, ich bin nicht auf der Höhe, habe keine genügende Geltung (siehe die Bevorzugung des Bruders), man muß mir helfen, ich will wie der Vater werden, ich will wie ein Mann sein.« Als Gegensatz zu einer — wie man sieht — falschen Wertung ist notwendig zu denken: »Ich will kein Weib sein!« — Denn der Gedanke: »ich will ein Mann sein«, ist für das Kind nur haltbar und gestützt durch den Gegengedanken: »ich könnte auch ein Weib sein« oder »ich will kein Weib sein«.14) — Ein drittes Mittel, um die Bevorzugung des Bruders wettzumachen, den Vater zu imitieren, um Gleichberechtigung zu erlangen, und um seine Geschlechtsrolle vertreten zu lernen und sich dadurch seine Männlichkeit zu sichern, bot sich im Kranksein, insbesondere bei Schmerzen. Die Analyse förderte, wie so häufig, Erinnerungen an wirkliche Schmerzen zutage, an Übertreibungen und Simulation von solchen. Unser Interesse wendet sich der Art der Schmerzen zu: Es handelte sich fast regelmäßig um Zahnschmerzen. An diesem Punkte der Analyse hat man zum ersten Male das Gefühl, dem Verständnis näher gerückt zu sein, warum in diesem Falle die Neurosenwahl auf Trigeminusneuralgie fiel. Patient war ein kräftiger, gesunder Junge, der kaum andere Schmerzen kannte als Zahnschmerzen. Wir werden zur Annahme gedrängt, daß es im Leben des Patienten eine Phase gegeben hat, in der er eine Identifizierung vornahm: Schmerz — Gefühl der Minderwertigkeit — vermehrte Geltung in der Umgebung.

Nun liegt die Dynamik seiner pathogenen kindlichen Situation bloß: Die Möglichkeit, eine minderwertige, schmerzvolle, weibliche Rolle spielen zu müssen, hat dialektisch zu Übertreibungen seines männlichen Protestes geführt. Als solche sind noch anzureihen: Trotz und Starrsinn, an die sich seine Mutter noch mit Schaudern erinnert. Von den mannigfachen Beziehungen, die dem kindlichen Trotz Gelegenheit zur Betätigung geben, habe ich bereits das Essen, Waschen, Zähneputzen und Schlafengehen erwähnt. Es ist nun im höchsten Grade auffallend, daß alle Patienten mit Trigeminusneuralgie, deren ich mich entsinne, in Einklang mit den Schilderungen der Autoren die meisten Anfälle beim Essen, Waschen, Zähneputzen und Schlafengehen erlitten. Ebenso Anfälle bei Kälte. Mein Patient hatte sich bald nach Ausbruch seiner Erkrankung aufs Land zu seiner Mutter zurückgezogen und so die alte Sehnsucht seiner Kindheit gestillt. Die Mutter übertrieb ihre Sorgsamkeit und Liebe für den kranken Sohn, überwachte ängstlich seine Speisen und sorgte stets für warmes Waschwasser. Wenn er während der Kur in Wien speisen mußte, bekam er heftige Schmerzen, an den Tagen, wo er zu Hause aß, blieben sie aus. Als er so weit war, daß er wieder ins Amt gehen konnte, mußte er in Wien Wohnung nehmen. Als er sich am ersten Tage in seiner neuen Wohnung mit kaltem Wasser wusch, kam noch einmal ein Anfall.

Eine andere Reihe von Anfällen hing mit seiner Geltungssucht in der Gesellschaft zusammen. Dabei konnten Anfälle auftreten auf wirkliche, auf vermeintliche oder auf befürchtete Herabsetzungen hin. Er mußte immer die erste Rolle spielen, vertrug es nicht, wenn er gelegentlich aus der Unterhaltung ausgeschaltet war, oder wenn er Gespräche zwischen anderen Personen anhören mußte. Diese Intoleranz findet sich bei allen Neurotikern. Man erkennt leicht das Schema aus der kindlichen pathogenen Situation: Vater, Mutter und jüngerer Bruder, daneben er als minderwertige Person. Das Symptom der Gesellschafts- und Platzangst bei andern Neurotikern, wo die Sicherung vor Niederlagen durch die Angst bewerkstelligt wird, gelegentlich auch durch Erbrechen, Migräne usw., und wo in gleicher Weise Furcht vor Herabsetzung den Patienten leitet, ist in unserem Falle durch die Anfälle ersetzt, und man kann auch in anderen Fällen von Trigeminusneuralgien finden, wie sich die Kranken von jeder Gesellschaft abzuschließen versuchen, unter Berufung auf die Schmerzen. Keiner leugnet, daß er auch abgesehen von den Schmerzen Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Leben hat. In meinen anderen Fällen waren der Erkrankung an Trigeminusneuralgie andere Symptome vorausgegangen, wie Migräne, Übelkeiten, allgemeine, scheinbar rheumatische Schmerzen,15) Ischias, Erröten und Blutwallungen gegen das Gesicht.16)

In diesen die Anfälle auslösenden Dreieckssituationen spielen bei unserem Patienten sexuelle Bedingungen hervorragend mit. Sein sexuelles Verhalten ist vollkommen normal und befriedigend. Doch ist es ein auffallender Zug bei ihm, der für eine ganze Reihe von Neurotikern typisch ist, daß für ihn die Liebesleidenschaft nur dann stark wird, sobald ein Rivale vorhanden ist, d. h. sobald die Liebe sich an den männlichen Zug des Raubens und Raufens anschließen kann. Dieser Charakterzug zieht sich durch sein ganzes Liebesleben und spiegelt sichtlich die Dreiecksstellung aus der kindlichen pathogenen Situation wider, zeigt auch zugleich, daß seine Erotik durch seine Prestigepolitik vollständig vergiftet war. Als er im Süden weilte, lernte er ein Mädchen kennen, um das er sich bewarb, bis er wahrnahm, daß ihre Mitgift gering sei. Dies genügte, um ihn entsagen zu lassen; doch wurde seine Liebe in dem Momente wieder aufgepeitscht, als ein anderer als Bewerber auftrat. In dem Maße nun, als seine Liebe wuchs, stellten sich wieder heftigere Schmerzen ein. So, wenn er die beiden allein sah, wenn das Mädchen dem anderen zulächelte usw. — Auch während der Kur konnten wir einzelne Anfälle auf dieses Verhältnis beziehen, z. B. wenn er Schmerzen bekam, als er in den Briefen des Mädchens las, sie habe sich in einer Gesellschaft gut unterhalten. Eine Zahl von Anfällen hing mit der Zeit der Briefübernahme zusammen, wo Gedanken auftauchten, warum das Mädchen so lange nicht geschrieben habe, daß sie sich gewiß mit anderen unterhalte usw. — Auch Tagträume und Phantasien traten auf, das Mädchen erst heiraten zu lassen und es dann zum Ehebruch zu verleiten. Dieser Charakterzug war allerdings kurz vor seiner Erkrankung durch einen bemerkenswerten Vorfall verstärkt worden. Während einer kleinen Reise hatte ein Kollege eine Geliebte des Patienten verführt. Er brütete Mord und Totschlag. In diese von Affekt erfüllte Phase fiel ein anderes Ereignis. Er hatte zu bemerken geglaubt, daß ihm die Frau eines Vorgesetzten Avancen mache. Aber auch der Gatte scheint dies bemerkt zu haben und begann ihn im Amte zu drangsalieren. Um seine Karriere nicht zu verderben, fügte er sich unter fortwährenden heimlichen Revolten. In der Nacht, bevor sein Vorgesetzter von einem Urlaub zurückkehren sollte, brach der erste Anfall seiner Trigeminusneuralgie mit solcher Heftigkeit los, daß er tobte und schrie und sich erst nach einer Morphiuminjektion ein wenig beruhigen konnte. Er betrat am nächsten Tage das Amt nicht wieder und nahm einen Krankheitsurlaub, um sich behandeln zu lassen. Bei allen Ärzten, auch bei mir, betonte er .den Wunsch, wieder bald ins Amt zurückkehren zu können. Man versprach ihm, alles Mögliche aufzubieten. Insbesondere die Alkoholinjektion sollte ihn sofort arbeitsfähig machen. Wir sahen, mit welchem Erfolge. Wir wissen aber auch, warum sie verschlechternd wirkte: Sein wahres, unbewußtes Streben ging dahin, nicht arbeitsfähig zu werden, nicht ins Amt zurückkehren zu müssen.17) Nur ein Gedanke ließ sich nicht verdrängen, der Gedanke, als Mann, als Sieger aus seiner Situation hervorzugehen, und er dachte diesen Gedanken im unverfälschten Sinne der kindlichen pathogenen Situation: »Ich will zur Mutter!« — Bei ihr erst besserte sich sein Zustand ein wenig, er erholte sich, nicht ohne vorher durch gehäufte Anfälle insbesondere beim Essen die Lebensgefährlichkeit seiner Erkrankung, den drohenden Hungertod zu demonstrieren und so seine Mutter durch Angst und Schrecken noch gefügiger zu machen.

Die Analyse eines Traumes aus der Kur zeigt die wichtigsten Bedingungen seiner unbewußten falschen Einstellung und seiner Neurose. Er träumte:

»Ich befinde mich nackt bei einer Geliebten im Zimmer. Sie beißt mich in den Schenkel. Ich schreie auf und erwache mit einem heftigen Anfall meiner Neuralgie.«

Die Vorgeschichte dieses Traumes ereignete sich am Vorabend und war folgende: Patient hatte aus Graz eine Ansichtskarte erhalten, auf der sich neben anderen Unterschriften der Name seines Bruders und des im Traume erwähnten Mädchens befanden. Beim Abendessen schmeckte ihm nichts, und er hatte einen leichten Anfall. Zum Traum erzählte er: Das Mädchen sei einige Zeit seine Geliebte gewesen. Doch sei er ihrer bald überdrüssig geworden und habe sich von ihr gänzlich losgesagt. Vor kurzer Zeit sei sein Bruder mit ihr bekannt geworden. Er habe ihn gewarnt — wie die gemeinsamen Unterschriften zeigten, ohne Erfolg. Dies verdrieße ihn um so mehr, als er auf den Bruder sonst großen Einfluß habe, und, seit der Vater gestorben war, sozusagen dessen Stelle vertrete.

»Nackt.« Er habe eine Abneigung, sich vor Mädchen zu entblößen. Dies hänge ganz bestimmt mit seinem Kryptorchismus zusammen.

»Sie habe ihn in den Schenkel gebissen«.18) Dazu bloß der Einfall: das Mädchen habe allerlei perverse Einfälle gehabt, ihn auch gebissen. Die teilweise suggestive Frage: ob er schon einmal gehört habe, daß jemand in den Schenkel gebissen worden sei, beantwortet er mit dem Hinweis auf die Storchfabel.

»Ich schreie auf.« Dies täte er bei heftigen Anfällen. Dann komme seine Mutter sofort aus dem Nebenzimmer, um ihn zu trösten, eventuell um ihm eine Morphiuminjektion zu geben.

Wir meinen, die Traumdeutung sei durchsichtig genug, und dies enthebt uns weitläufiger synthetischer Erörterungen. Er beantwortet ein Gefühl der Zurücksetzung mit einem Gedankengang, der ihm einen Anfall einträgt, ihn aber sein symbolisches Ziel erreichen läßt: bei der Mutter zu herrschen. Die in dem Traum erzeugten Gefühle und Emotionen verstärken seine Tendenz, sich von den Frauen fernzuhalten und zur Mutter zu flüchten. Mit anderen Worten, er verwandelt sich in einen herrschenden Mann. Dabei muß auch sein unmännliches Stigma fallen, der Kryptorchismus, und nun darf er sich nackt zeigen. Er ist ein Mann, braucht sich vor niemandem zu beugen, ist jedes Dienstes enthoben, aber nur auf dem Umwege über die Schmerzen. Und er sichert sich dieses Gefühl der männlichen Überlegenheit — ganz wie in der kindlichen pathogenen Situation — durch Schmerzen und Isolierung.19)

So deutlich wie in diesem Falle findet man in anderen Träumen den Übergang aus dem Gefühl der unterliegenden Weiblichkeit zum männlichen Protest nicht immer. Insbesondere verleitet der Schein leicht zur Annahme primärer homosexueller Regungen. Die männliche Rolle des Neurotikers beiderlei Geschlechts, im Leben und im Traume, erklärt sich durch den männlichen Protest. Handelt es sich um Rivalen des gleichen Geschlechts, so wird der Sieg oft durch einen Sexualakt symbolisiert, indem der Neurotiker, im Traum oder in der Phantasie, irgendwie eine männliche Rolle spielt. — Das Problem des aktiven Homosexuellen ist nach meiner Erfahrung in gleicher Weise aufzufassen; nur wird dabei der Sexualtrieb direkt (und nicht symbolisch) in den Dienst der Herrschsucht, des männlichen Protestes, gestellt. Aber auch der Homosexuelle kommt aus einer Phase der Unsicherheit seiner Geschlechtsrolle zur Inversion. — Der passive Homosexuelle arrangiert vielmehr seinen Umfall ins Weibliche, um sich hinterher scharf zu machen, sich Geltung zu verschaffen durch Eifersüchteleien, Eroberungen oder — Erpressungen,20) vor allem aber, um den irrtümlich angenommenen Mangel an Männlichkeit in normaler Erotik nicht zu entschleiern.21) — Andererseits ist das Grundproblem, in der Neurose und im Traum, der Ausgangspunkt des psychischen Hermaphroditismus mit folgendem männlichen Protest dadurch verwischt, daß man es meist mit Bruchstücken aus dieser psychischen Dynamik zu tun hat, zu der man sich die Ergänzungen erst suchen muß.

Die Behandlung ging unter einem günstigen Stern vor sich. Andere Kuren waren erfolglos geblieben, unterdes ging aber viel Zeit vorbei, und die Karriere des Patienten wurde immer mehr bedroht. Dazu kamen günstige Aussichten des Patienten, in ein anderes Amt versetzt zu werden, was seinem Gefühl der Beeinträchtigung gegenüber dem verhaßten Vorgesetzten gewiß Erleichterung verschaffte. Die Behandlung schloß mit einem vorläufigen Erfolge ab, der nun schon einige Monate währt. Der gewesene Patient übt seine Tätigkeit in einem neuen Bureau aus und wohnt getrennt von der Mutter. Seine Freunde und Bekannten drücken öfters ihr Erstaunen darüber aus, daß seine frühere Heftigkeit, Hast und aufbrausende Natur sich so ganz gewandelt habe, daß er ruhiger und gefügiger geworden sei und die Beziehungen im Amte nicht mehr als Zwang empfinde. Für uns hat dies die besondere Bedeutung: daß seine frühere falsche, herrschsüchtige Einstellung eine Korrektur erfahren hat, die nicht nur die früheren Anfälle, sondern auch andere Formen der Neurose auszuschließen vermag. Seine Prestigepolitik ist teilweise abgebaut, sein Gemeinschaftsgefühl hat sich besser entfaltet.

Andere Fälle betrafen Patientinnen jenseits des Klimakteriums. Sie erkrankten heftig in einer Situation der Herabsetzung, waren aber ebenfalls seit der Kindheit disponiert. Organminderwertigkeit, das Gefühl der Minderwertigkeit und der männliche Protest ergaben sich in allen Fällen analog der ersten Krankengeschichte. Ihr ganzes Leben war unter dem Wunsch verflossen: ich will ein Mann sein, und die Zurückführung auf eine Unsicherheit in der Geschlechtsrolle in der Kindheit war leicht ersichtlich. Im ganzen waren aber die Zusammenhänge verwickelter und die Anlässe zu den Anfällen häufiger, weil es sich um weibliche Personen einer höheren Altersstufe handelte. Die Aussicht auf Verwirklichung irgendeines männlichen Protestes schien gering, sich zu fügen war keiner der Patientinnen leicht. Immerhin bewirkte die Kur eine starke Herabsetzung der Anfälle nach Zahl und Stärke, hob den Lebensmut in auffälliger Weise, und ich erwartete bestimmt, auch in solchen Fällen durchzudringen.

Dies das Material, das ich zum Beweise des psychogenen Ursprungs der Trigeminusneuralgie derzeit vorlegen kann, und ich empfehle die Prüfung jedes Falles nach diesen Gesichtspunkten der Charakterologie. Ich weiß so gut wie andere, daß gelegentlich ein Fall vorkommt, dessen Ätiologie in pathologisch-anatomischen Veränderungen liegt. Aber sein Verlauf ist anders als der uns geläufiger Fälle, insbesondere dürfte die Auflösung des Anfalles in ein psychisches Geschehen nicht gelingen. Auch der Mangel der angegebenen Charakterzüge würde bald auf die richtige Spur leiten. Selbst in solchen Fällen könnte die Auslösung des Anfalls wie bei der Epilepsie durch den Affekt ohnmächtiger Wut erfolgen.

Die zweite, mit der psychogenen Theorie der Neurosen rivalisierende Annahme — die toxische Grundlage der Neurosen — kann ich mit dem gleichen Hinweis erledigen: die psychische Auflösbarkeit der Symptome widerstreitet ihr vollkommen. Wo sich Toxine welcher Art immer bei Neurosen oder Psychosen vorfinden, können sie nur wirksam werden durch die Verschärfung des aus der Kindheit stammenden Minderwertigkeitsgefühls 22) und folgende Aufpeitschung des männlichen Protestes oder als Folgen der Affekte. Sie können also nur die Neurose bei Disponierten wecken, indem sie das Gefühl der Herabsetzung wachrufen, in gleicher Weise wie es der Unfall tut, sofern er zur Unfallneurose Anlaß gibt, oder sie können weiter wachsen und Symptome erzeugen.

 Eine organische Disposition dürfte in der Richtung einer Sympathikotonie, einer bei gewissen seelischen Erregungen verstärkt einsetzenden Erregbarkeit der Gefäßnerven zu suchen sein. Dann ergäbe sich der Schmerz ähnlich wie die Anfälle von Zwangserröten, Migräne, habituellem Kopfschmerz und hysterischer wie epileptischer Bewußtlosigkeit im Verlaufe von pathologischen Folgen, die von akuten Gefäßveränderungen eingeleitet werden. Eine weitere Rolle spielt die Einfühlung in den sichernden Anfall. Ausgangspunkt bleibt aber immer die neurotische Störung des seelischen Gleichgewichts. Die Beteiligung des vegetativen Systems, Sympathikus und Parasympathikus, kann durch Affekte fraglos erzwungen werden. Oder es spielt dabei eine Minderwertigkeit dieses Apparates, partiell oder allgemein, eine weitere Rolle. In diesem Falle sowie auch bei beweisbarer Mitbeteiligung endokriner Drüsen an dem Affektvorgang wird es immer darauf ankommen, die Affekterregbarkeit herabzusetzen. Dies kann nur durch Änderung des Lebensstils geschehen, durch Steigerung der Fähigkeit zur Kooperation.

 

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1) Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen, l. c.

2) Adler, ›Über neurotische Disposition‹. In: Heilen und Bilden, l. c.

3) Kretschmer hat aus dieser Reihe zwei Typen herausgegriffen und in vorbildlicher Weise charakterisiert.

4) Adler, ›Zur Ätiologie, Diagnostik und Therapie der Nephrolithiasis‹. In: Wien. klin. Wochenschr. XX. Jahrg. Nr. 49 und ›Myelodysplasie oder Organminderwertigkeit?‹. Zappert, ›Enuresis und Myelodysplasie‹. In: Wien. klin. Wochenschr. 1920, Nr. 22.

5) Jean Pauls Schmelzle schildert in ausgezeichneter Weise diese Furcht vor der Nacht, weist die später zu besprechenden »Sicherungstendenzen« auf und läßt leicht die Minderwertigkeit des Harn- und Darmapparates erraten.

6) Bei allen diesen Organminderwertigkeiten können durch »qualifizierte Minderwertigkeit« abgeänderte oder feinere Funktionsleistungen, wertvolle Steigerungen der Sinnesempfindungen oder erhöhte Empfindlichkeit, Kitzelgefühle in der Fühlsphäre zu finden sein — als abgeänderte Technik des minderwertigen Organs. Der Fuß ist eine verkümmerte Hand, doch sind seine Mehrleistungen auf der Erde evident. — Kitzelgefühle in der Nase, im Rachen und in den Luftwegen, Verengerungen daselbst, Provokation von Sekretabsonderung durch verschärfte nasale Inspiration (Riechenwollen) spielen beim nervösen Asthma und bei Nieskrampf, wahrscheinlich auch beim Heuasthma, eine Hauptrolle. Eine schöne Schilderung nervöser, nasaler Reizzustände und des sich daran knüpfenden Minderwertigkeitsgefühls finden wir in Vischers Roman Auch Einer. Die Aufbauschung und kunstvolle Steigerung dieses »Fehlers« zur Sicherung gegen die Ehe und gegen die Anknüpfung von gesellschaftlichen und Liebesbeziehungen sind so korrekt geschildert, daß die Annahme berechtigt ist, der geistreiche Philosoph habe diese Vorgänge der Wirklichkeit abgelauscht und deshalb auf ihre grundlegende Bedeutung für die Stellungnahme zum Leben hingewiesen.

7) Siehe Adler, ›Drei Beiträge zum Problem des Schülerselbstmords‹. In: Heilen und Bilden, l. c.

8) Adler, ›Der psychische Hermaphroditismus‹. In: Heilen und Bilden, l. c.

9) Adler, ›Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Zur Dynamik und Therapie der Neurosen‹. In: Heilen und Bilden, l. c.

10) In dieser Hinsicht gleicht der Neurotiker jener Nestroyschen Theaterfigur: »Wann ich amol anfang'! — Ich fang' aber nicht an!« Er furchtet sich vor seinem eigenen Tatendrang. Siehe auch ›Über neurotische Disposition‹, l. c.

11) In einem Falle von Asthma nervosum bei einem Manne, der nun duroh die Behandlung seit längerer Zeit von Anfällen frei ist, traten bewußte Schwangerschaftsphantasien auf, sobald Patient an ein Unternehmen gehen wollte. Diese Schwangerschaftsphantasien, mit Oppressionsgefühlen in der Brust verbunden, liefen in Größenideen aus: Er wurde Millionär, der Wohltäter, der Retter des Landes usw. Dabei hastiges Atmen wie bei einem Wettlauf. Die dynamische Bedeutung der Schwangerschaftsphantasie war der Hinweis auf das Dulden und Leiden des Weibes, ein Selbstvorwurf und zugleich Aufstachelung: »Du bist ein Weib! Es geschieht dir recht, wenn du duldest!« Daraufhin der männliche Protest. — Eine verstärkende Hilfskonstruktion bediente sich der Schwangerschaftsphantasie und des asthmatischen Leidens in der Art einer vorausgesandten Buße. Nun durfte er ein Mann sein und gegen seine Umgebung feindlich auftreten. »Ich darf mir mehr erlauben als ein anderer, weil ich krank bin.« Für letzteres wird nachträglich der Wahrheitsbeweis, ein »Alibi« erbracht. Minderwertigkeiten der Haut und der Luftwege (»Exsudative Diathese«) gaben den Ausschlag bei der Wahl des neurotischen Symptoms.

12) Siehe die Formulierung im ›Aggressionstrieb‹. In: Heilen und Bilden, l. c. — Man kann auch formulieren: in Situationen, in denen Mutigere einen Wutaffekt hätten.

13) Über die Oberflächlichkeit mancher Kritiker, die meine Anschauungen als »intellektualistische« auffassen, ist wohl kein Wort zu verlieren.

14) Unter den neueren Psychologen ist Julius Pikler von ganz andern Gesichtspunkten ausgehend zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der »Gegensätzlichkeit im Denken« gekommen. Siehe auch Adler, Über den nervösen Charakter, l. c.

15) Vgl. Henschens Theorie vom rheumatischen Ursprung der Trigeminusneuralgie.

16) Die Fälle von Trigeminusneuralgie im Alter, insbesondere bei weiblichen Personen, sind besonders kompliziert, insbesondere durch wirkliche und vermeintliche Zurücksetzungen, an denen das Alter die Schuld trägt. Daß unsere Gesellschaft die alternde Frau unmenschlich behandelt, ist eines der traurigsten Kapitel unserer Kultur. Bei meinen Patientinnen lösten Teilnahmslosigkeit, Furcht vor Spott, vor Bevorzugung anderer Personen, der Spiegel, die Kleiderwahl (ob man sie nicht auslachen könnte), und Geldausgaben, die ihre Ingerenz verringern, sie arm machen könnten, Anfälle aus. Ebenso Liebesbeziehungen und eheliche Verbindung ihrer Söhne, der Gedanke, mit anderen weiblichen Personen sich in der Liebe eines Sohnes teilen zu müssen.

17) Man beachte an dieser Stelle die Übereinstimmung mit der Dynamik der Unfallsneurose und -hysterie, die ja gleichfalls nur bei Disponierten auftritt.

18) Dem erfahrenen Psychologen wird diese Stelle keine Schwierigkeiten machen. Wir haben es mit einem Patienten zu tun, dessen Krankheit danach angetan ist, ihn den Schmerz fürchten zw lassen. Andere Erkundungen ergaben seine frühe Kenntnis des Schmerzes beim Gebären. Und dieser Schmerz wurde ihm in der Kindheit wohl plausibel gemacht durch die Wendung: der Storch hat die Mutter ins Bein gebissen. »Sie habe ihn in den Schenkel gebissen« heißt hier so viel als: sie habe ihn zum Weib degradiert, durch das Verhältnis mit dem Bruder zurückgesetzt, entmannt. Man denke an den Kryptorchismus.

19) D. h. mit scheinbar »weiblichen« Mitteln. Ich habe auf diesen Mechanismus schon hingewiesen, der natürlich leicht verleiten kann, die Neurose im ganzen als »weibliche Darbietung« auffassen zu wollen. Eine Betrachtung der neurotischen Dynamik läßt diesen Irrtum nicht aufkommen. »Weibliche« Endziele sind ebenso wie »masochistische« unhaltbar und werden in der Neurose nur vorgeschoben, sind »weibliche« Mittel zum »männlichen« Protest.

20) Ganz so wie der früher erwähnte Masochist, der durch Unterwerfung um Liebe, d. h. in seinem Sinne um Geltung wirbt, die Sexualerregung der Frau hervorrufen will. Von hier zweigt eine Reihe von Perversionen ab, bei denen es sich darum handelt, durch auffällige Überschätzung der umworbenen Person deren Liebesleidenschaft zu erregen und damit über sie zu siegen.

21) »In Flucht geschlagen glaubt er zu jagen.« Siehe Adler, Das Problem der Homosexualität, l. c.

22) Erweckung eines Krankheitsgefühls und Aufdeckung von Insuffizienzen.


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