[Beispiele für Eitelkeit und Ehrgeiz:
Besorgnis, Eigensinn, Rückzug in den Kreis der Familie.]
In welcher Weise die Eitelkeit oft am Werk ist, mag folgender Fall zeigen. Eine junge Frau, die jüngste von mehreren Geschwistern, war von früher Kindheit an verzärtelt worden. Besonders ihre Mutter war ihr immer sehr zu Diensten und erfüllte jeden ihrer Wünsche. Dadurch stieg das Verlangen dieser Kleinsten, die auch körperlich sehr schwach war, ins Unermeßliche. Sie entdeckte eines Tages, daß ihre Macht über ihre Umgebung besonders dann wuchs, wenn sie gelegentlich erkrankte. Und bald erschien ihr Krankheit als ein bemerkenswertes Gut. Sie verlor die Abneigung, die gesunde Menschen sonst gegen Krankheit haben, und es war ihr gar nicht mehr unangenehm, sich von Zeit zu Zeit schlecht zu fühlen. Bald gewann sie darin eine solche Übung, daß es ihr gelang, jederzeit krank zu sein, besonders, wenn sie etwas durchsetzen wollte. Da sie aber immer etwas durchsetzen wollte, war sie eigentlich für die andern immer krank. Diese Formen von Krankheitsgefühl bei Kindern und Erwachsenen, die dadurch ihre Macht wachsen fühlen, auf diese Weise zur Spitze der Familie emporsteigen, um eine unumschränkte Herrschaft über die andern zu führen, sind sehr häufig. Wenn es sich dabei noch um zarte, schwache Menschen handelt, dann gewinnt diese Möglichkeit ungeheuer an Raum, und naturgemäß lernen gerade solche Menschen diesen Weg kennen, die die Sorge der andern um ihre Gesundheit schon ausgekostet haben. Dabei kann man auch ein wenig nachhelfen, man fängt z. B. an, schlecht zu essen, womit man mehreres erreichen kann: man sieht schlecht aus und die andern müssen sich in ihrer Kochkunst üben. Dabei entwickelt sich die Sehnsucht, immer jemand zur Hand zu haben. Solche Menschen vertragen nicht, daß man sie allein läßt. Solchen Zustand kann man leicht erreichen, wenn man sich als krank oder sonst als irgendwie bedroht erklärt und das geht wieder nicht anders, als daß man sich in eine gefahrvolle Situation, etwa durch Einfühlung in eine Krankheit oder eine andere Schwierigkeit hineinversetzt. Wie sehr der Mensch dieser Einfühlung fähig ist, zeigt der Traum, wo der Mensch Eindrücke hat, als ob eine bestimmte Situation wirklich bestünde.
Solchen Menschen gelingt es nun, dieses Krankheitsgefühl heraufzubeschwören, und zwar in einer Art, daß von Lüge, Verstellung oder Einbildung keine Rede sein kann. Wir wissen bereits, daß die Einfühlung in eine Situation eine Wirkung haben kann, die dem wirklichen Vorhandensein dieser Situation entspricht. Diese Menschen können z. B. wirklich erbrechen, wirklich Angst haben, so, als ob eine Übelkeit bzw. eine Gefahr bestünde. Gewöhnlich verraten sie auch, wie sie das machen. So erklärte diese Frau, sie hätte manchmal so eine Angst, »als ob sie im nächsten Moment der Schlag treffen würde«. Es gibt Menschen, die sich das so genau vorstellen können, daß sie wirklich das Gleichgewicht verlieren und man nicht von Einbildung oder Simulation sprechen kann. Gelingt es einem Menschen auf diese Weise den andern Anzeichen einer Krankheit oder wenigstens nervöse Symptome wahrnehmbar zu machen, dann müssen diese bei ihm bleiben, achtgeben und sich seiner annehmen. Das erfordert nämlich ihr Gemeinschaftsgefühl. Und damit ist die Machtstellung eines solchen Kranken begründet.
Unter solchen Umständen muß der Widerspruch mit dem Gesetz der Gemeinschaft, das eine weitgehende Rücksicht auf den Mitmenschen erfordert, zutagetreten. Bei diesen Menschen werden wir in der Regel finden, daß sie nicht leicht imstande sind, Wohl und Wehe des Mitmenschen ins Auge zu fassen und ihn unverletzt zu lassen, geschweige ihn zu fördern. Vielleicht werden sie dies wohl mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kräfte, ihrer gesamten Kultur und Erziehung leisten können oder, wie es meist der Fall ist, wenigstens den Anschein erwecken, als ob sie um einen Mitmenschen ganz besonders besorgt wären. Ihrem Verhalten wird aber doch nichts anderes zugrundeliegen als Selbstliebe und Eitelkeit. So war es auch in unserem Fall. Die Besorgnis unserer Patientin um ihre Angehörigen überstieg scheinbar alle Grenzen. Ihre Mutter brauchte ihr nur einmal das Frühstück um eine halbe Stunde später hereinzubringen, und sie wurde von größter Besorgnis erfaßt. Dann ruhte sie nicht eher, als bis ihr Mann aufgestanden war und nachgesehen hatte, ob der Mutter nicht etwas zugestoßen sei. Diese hat sich im Lauf der Zeit wohl schon daran gewöhnt, immer recht pünktlich zu erscheinen. Nicht viel anders erging es dem Gatten, der als Geschäftsmann auf Kunden und Geschäftsfreunde gewisse Rücksichten zu nehmen hatte, aber jedesmal, wenn er später als vereinbart nach Hause kommt, seine Frau niedergebrochen fand, manchmal vor Angst in Schweiß gebadet, kurz, eine Jammergestalt, die nun erzählte, wie sie schon die schrecklichsten Qualen ausgestanden habe. Auch er konnte somit in solcher Situation nichts anderes tun, als pünktlich zu sein.
Viele werden vielleicht einwenden, diese Frau habe doch nichts davon, wenn sie so handle, das seien doch keine so großen Triumphe. Bedenkt man aber, daß das nur ein kleiner Teil des Ganzen ist, ein »Merk's!« für alle Beziehungen des Lebens, daß auf diese Weise eine Dressur des andern eingeleitet und vollzogen wird, daß ferner diese Frau von einer unbändigen Herrschsucht beseelt ist und in deren Befriedigung auch die ihrer Eitelkeit findet, und wenn man ferner überlegt, wieviel Kosten so ein Mensch auf sich nimmt, um seinen Willen durchzusetzen, dann kann man schon begreifen: für diese Frau ist eine solche Haltung bereits zu einer Notwendigkeit geworden. Sie könnte nicht ruhig leben, wenn ihre Worte nicht unbedingt und pünktlich befolgt würden. Und da ein Zusammenleben nicht nur darin besteht, daß der andere pünktlich kommt, so gibt es noch tausenderlei andere Beziehungen, die durch dieses imperative Verhalten der Frau geregelt werden, die ihre Befehle noch mit ihren Angstzuständen unterstützt. Sie ist so besorgt, daß man ihr unbedingt den Willen tun muß. Also wir sehen: Besorgnis als Mittel zur Befriedigung der Eitelkeit.
Diese Haltung kann oft so weit gehen, daß einem Menschen die Durchsetzung des eigenen Willens wichtiger ist als die Sache selbst. Das zeigt der Fall eines sechsjährigen Mädchens, die von einem so unbändigen Eigensinn war, daß sie immer darauf bedacht war, durchzusetzen, was ihr gerade in den Sinn kam, ganz von dem Streben durchdrungen, ihre Kraft zu zeigen und den andern niederzuzwingen, was immer auch dabei herauskomme. Die Mutter, die gern mit ihr auf gutem Fuß stehen wollte, wenn sie nur das »Wie« gewußt hätte, machte einmal den Versuch, sie mit ihrem Lieblingsgericht zu überraschen und brachte ihr dasselbe mit den Worten: »Weil ich weiß, daß dir das so gut schmeckt, habe ich es dir gebracht.« Da warf das Mädchen die Leckerei auf den Boden, stampfte mit den Füßen darauf und rief: »Aber ich will es ja gar nicht, weil du es mitbringst, sondern ich will es, weil ich es will.« Ein anderes Mal, als die Mutter fragte, was sie zur Pause haben wolle, Kaffee oder Milch, blieb dieses Kind in der Tür stehen und murmelte ganz vernehmlich: »Sagt sie Milch, dann trink ich Kaffee, sagt sie Kaffee, so trinke ich Milch.«
Das war ein Kind, das deutlich sprach. Vergessen wir aber nicht, daß viele Kinder so sind, ohne es zu sagen, daß vielleicht in jedem Kind etwas von diesem Zug steckt, so daß es mit außerordentlicher Energie bestrebt ist, seinen Willen durchzusetzen, auch wenn es keinen Nutzen davon hat oder gar nur Schaden erleidet. Meist werden das solche Kinder sein, denen in irgendeiner Weise das Privileg des eigenen Willens nahegelegt wurde. An Anlässen dazu wird es heute nicht mangeln. Die Folge ist, daß wir unter den Erwachsenen viel häufiger Menschen finden, die ihren Willen durchsetzen wollen, als solche, die bestrebt sind, ihre Mitmenschen zu fördern. Manche gehen in ihrer Eitelkeit so weit, daß sie nicht imstande sind, das zu tun, was ihnen etwa ein anderer empfohlen hat, selbst wenn es das Selbstverständlichste von der Welt wäre oder gar ihr eigenes Glück bedeuten würde, es sind Menschen, die bei jedem Gespräch immer auf den Augenblick warten, wo sie mit der Opposition einsetzen können. Bei manchen Menschen wird ihr eigener Wille durch die Eitelkeit so aufgestachelt, daß sie auch dann »nein« sagen, wenn sie »ja« wollen.
Die fortwährende Durchsetzung des eigenen Willens ist etwas, das eigentlich nur im Rahmen der Familie, manchmal sogar nicht einmal da, gelingt. Zu solchen Typen gehören oft Menschen, die im Verkehr mit Fremden das Bild der äußersten Liebenswürdigkeit und Nachgiebigkeit bieten. Allerdings ist dieser Verkehr nicht von Dauer und wird bald abgebrochen, wohl auch nicht recht gesucht. Da aber das Leben nun einmal so ist, daß es die Menschen zusammenbringt, kann man manchmal so einen Menschen sehen, der alle Herzen gewinnt, aber alle wieder im Stich läßt, sobald er sie gewonnen hat. Diese Menschen haben fast immer das Bestreben, sich auf den Kreis der Familie zu beschränken. So war es auch bei unserer Patientin. Infolge ihres liebenswürdigen Wesens, mit dem sie außerhalb ihrer Familie auftrat, war sie überall beliebt. Immer aber, wenn sie einmal ausgegangen war, kehrte sie bald wieder nach Hause zurück. Das Bestreben, immer wieder zur Familie zurückzukehren, zeigte sich bei ihr auf verschiedene Weise. Ging sie einmal in Gesellschaft, dann bekam sie dort Kopfschmerzen und mußte nach Hause gehen. Denn in der Gesellschaft hatte sie das Gefühl ihrer absoluten Überlegenheit nicht in dem Grade, wie in der Familie. Wenn also diese Frau ihr Lebensproblem, das Problem ihrer Eitelkeit, nur innerhalb der Familie lösen konnte, dann mußte immer etwas geschehen, was sie in diese Familie zurücktrieb, etwas, das sie außerhalb derselben störte. Es kam so weit, daß sie schließlich jedesmal Angst und Aufregungszustände bekam, wenn sie unter fremde Menschen kam. Sie konnte nicht mehr ins Theater, bald überhaupt nicht mehr auf die Straße gehen. Hier war ihr das Gefühl verloren, daß die anderen ihrem Willen unterworfen seien. Die Situation, die sie suchte, war außerhalb der Familie, insbesondere auf der Straße, nicht zu finden. Daraus erklärt sich ihre Abneigung, auszugehen, außer in Begleitung von Personen ihres »Hofstaates«. Das war ihr auch eigentlich die ideale Situation, die sie liebte: Leute um sich zu haben, die sich fortwährend mit ihr beschäftigten. Wie die Untersuchung ergab, hatte sie diese Schablone aus ihrer frühen Kindheit mitgebracht. Sie war die jüngste, war schwächlich und kränklich und mußte daher viel wärmer gehalten werden als die andern. Mit starkem Griff hatte sie diese Situation der Verzärtelung erfaßt und hätte sie zeitlebens festgehalten, wenn sie in dieser Gangart nicht durch die Bedingungen des Lebens, mit denen sie auf diese Weise in Widerspruch geraten war, gestört hätte. Ihre Unruhe und ihre Angsterscheinungen, die so heftig waren, daß andere nicht widersprechen durften, verrieten, daß sie mit der Lösung ihres Eitelkeitsproblems auf einen falschen Weg geraten war. Die Lösung war schlecht, weil in ihr nicht der Wille war, sich den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu unterwerfen. Schließlich wurden die peinigenden Erscheinungen so arg, daß sie den Arzt aufsuchte.
Langsam mußte nun ihr ganzer Lebensplan enthüllt werden, den sie sich im Lauf der Jahre aufgebaut hatte. Es waren große Widerstände zu überwinden, die sich daraus ergaben, daß sie, obwohl sie zum Arzt kam, doch nicht in ihrem Innersten zu einer Änderung bereit war. Sie hätte gern gesehen, wenn sie in der Familie weiter geherrscht hätte und auf der Straße nicht von Angstzuständen verfolgt worden wäre. Das eine war aber ohne das andere, ohne Gegenleistung, nicht zu haben. Es konnte ihr gezeigt werden, daß sie die Gefangene ihres eigenen unbewußten Lebensplanes sei, daß sie die Vorteile desselben genießen wollte, aber seine Nachteile fürchtete.
An diesem Beispiel zeigt sich besonders kraß, daß jeder höhere Grad von Eitelkeit für das ganze Leben eine Last bildet, den Fortschritt des Menschen hemmt und schließlich den Zusammenbruch herbeiführt. Der Blick für diese Zusammenhänge ist getrübt, solange er nur auf die Vorteile gerichtet ist. Daher sind so viele Leute so überzeugt davon, daß der Ehrgeiz, genauer: die Eitelkeit, nur eine wertvolle Eigenschaft sei, weil sie nicht merken, daß dieser Zug den Menschen stets unzufrieden macht und ihm seine Ruhe und seinen Schlaf raubt.