Über individualpsychologische Erziehung


(1918)

 

Es zeigt sich insbesondere vom Standpunkt der nervenärztlichen Behandlung, von welcher ungeheuren Bedeutung ein wohlgegründetes, fundiertes Verständnis der Erziehungsfragen ist, und wie notwendig es bis zu einer gewissen Grenze auch für jeden Arzt ist, die Erziehungsfrage zu beherrschen. Gerade vom Arzt verlangt man mit Recht, daß er ein Menschenkenner sei, und die bedeutsamen Beziehungen zwischen Arzt und Patienten scheitern ja regelmäßig, wenn der Arzt als Menschenkenner und als Erzieher versagt. Dieser Gesichtspunkt und diese Auffassung waren es auch, die Virchow die Worte in den Mund legten: »Die Ärzte müssen dereinst die Erzieher des Menschengeschlechts werden.«

Eine häufige Frage, die in unserer Zeit akut wird und wahrscheinlich in einiger Zeit noch viel stärker hervortreten wird, ist die, wie denn die Kompetenz zwischen Arzt und Erzieher abzugrenzen sei. Es ist sicherlich wichtig, sich über den ganzen Komplex der Fragen zu einigen und ihn zu überblicken; der Übergriffe gibt es ja genug, vielleicht von beiden Seiten. Die Zusammenarbeit mangelt allenthalben.

Fragen wir uns, was die Erziehung bezweckt, so fällt der Hauptpunkt, der hier in Betracht kommt, schon in den Rahmen der ärztlichen Tätigkeit. Die Heranbildung der Kinder zu sittlich handelnden Menschen, Förderung ihrer Eigenschaften zum Nutzen der Allgemeinheit wird wohl vom Arzt als selbstverständliche Voraussetzung seines Handelns empfunden werden. Und man kann von ihm in seiner Tätigkeit verlangen, daß alle seine Schritte, seine Maßnahmen in erster Linie damit übereinstimmen. Die unmittelbare Leitung der Erziehung wird immer Sache der Erzieher bleiben, der Lehrer und Eltern, denen wir aber wohl zumuten müssen, daß sie sich auch mit jenen Fragen und Schwierigkeiten vertraut machen, die nur der Arzt ergründen kann, weil er sie aus dem pathologischen Zusammenhang des Seelenlebens erst hervorholen muß. Ich will besonders betonen, daß die ungeheure Ausdehnung dieses Gebiets unmöglich in kürzerer Zeit durchmessen werden kann, daß ich nur einzelne Fragen streifen kann, deren Diskussion die nächste Zukunft beschäftigen wird, bevor eine einheitliche Auffassung derselben möglich sein wird. Immerhin ist es wichtig, jene Standpunkte kennenzulernen, von denen die Individualpsychologie immer wieder behauptet, sie seien von ungeheurer Bedeutung, und ein Mißverstehen derselben räche sich an den Kindern im Laufe ihrer Entwicklung.

Was den Arzt in allernächste Nähe zu den Erziehungsfragen bringt, ist der Zusammenhang der seelischen Gesundheit mit der körperlichen. Nicht etwa bloß in jener Allgemeinheit, in der wir immer gehört haben, daß ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohne, eine Auffassung, die durchaus nicht stichhaltig ist. Wir haben genug Gelegenheit, körperlich gesunde Kinder und gesunde Erwachsene zu sehen, deren seelisches Verhalten durchaus nicht einwandfrei ist. Aber anders gewinnt dieser Satz eine große Bedeutung. Es ist schwierig, vielleicht ausgeschlossen, daß ein Kind von schwächlicher Konstitution seelisch zu jener Harmonie gelangt, die wir von gesunden Kindern erwarten. Stellen Sie sich ein Kind vor, das mit schwachen Verdauungsorganen zur Welt gekommen ist. Die Behütung wird von den ersten Tagen an eine sehr vorsichtige und ängstliche sein. Solche Kinder werden also in einer ungeheuer warmen Atmosphäre heranwachsen. Sie werden sich immer bevormundet und geleitet sehen, und ihr Lebensweg wird durch eine ungeheure Zahl von Verordnungen und Verboten eingeengt erscheinen. Die Bedeutung des Essens wird riesenhaft anwachsen, so daß sie selbst die Bedeutung der Nahrungsaufnahme und auch die Frage der Ernährung und Verdauung außerordentlich zu schätzen und zu überschätzen beginnen werden. Gerade die magendarmschwachen Kinder stellen ein großes Kontingent zu den schwer erziehbaren Kindern, was schon den alten Ärzten immer bekannt war. Man hat behauptet: solche Kinder müßten nervös werden. Eine derart verpflichtende, zwingende Kausalität besteht keineswegs. Aber der »feindselige« Charakter des Lebens drückt stärker auf die Seelen dieser leidenden Kinder und verleiht ihnen selbst eine feindselige, pessimistische Perspektive auf die Umwelt. Im Gefühle einer Verkürztheit fordern sie stärkere Garantien für ihre Geltung, werden egoistisch und verlieren leicht den Kontakt mit den Mitmenschen, weil ihre Ichfindung allzu gegensätzlich zur Findung der Umwelt ausfällt.

Denn die Verlockung wird für das Kind eine ungeheure, in seiner Beziehung zur Umgebung, in seiner Stellungnahme zur Schule und Welt die Unannehmlichkeiten, die es durch seine Mägen-Darm-Schwäche und die häufigen Verschlimmerungen erfährt, zu kompensieren durch Vorteile, die es sich mit seiner Krankheitslegitimation zu verschaffen sucht. Es wird z. B. einen außerordentlichen Hang zur Verzärtelung erwerben. Es wird sich von frühester Kindheit an gewöhnen, daß andere ihm alle Schwierigkeiten des Lebens aus dem Wege räumen. Es wird viel schwerer zu einer Selbständigkeit gelangen, wird gewohnheitsmäßig in allen riskanteren Situationen des Lebens größeren Anspannungen ausweichen. Sein Mut, sein Selbstvertrauen wird sich maßlos erschüttert zeigen. Diese Haltung bleibt solchen Kindern bis in ihr höchstes Alter, und es ist nicht leicht, ein solches Kind, das vielleicht 10, 15, 20 Jahre lang als Schwächling, als verzärteltes Kind herangewachsen ist, in einen lebensmutigen Menschen voll Initiative, voll Unternehmungsgeist und Selbstvertrauen, wie es unsere Zeit erfordert, zu verwandeln.

Der Schaden für die Allgemeinheit ist sicher viel größer, als wir von diesem Standpunkt übersehen, wenn wir nicht nur die magendarmschwachen Kinder hier in Betracht ziehen, sondern alle Kinder, die mit minderwertigen Organen zur Welt gekommen sind, die mit Minusvarianten von Sinnesorganen ausgestattet sind und deshalb den Zugang zum Leben irgendwie erschwert finden. Man kann oft in biographischen Mitteilungen oder auch in Mitteilungen von Patienten von diesen Schwierigkeiten hören. Die Ärzte werden in einem solchen Fall nicht bloß die seelische Erziehungsfrage zu behandeln haben, sondern auch aus allen Kräften dahin streben müssen, durch irgendein Hilfsmittel, durch Behandlung, durch Korrekturen des Gebrechens dafür zu sorgen, daß rechtzeitig dem Kind der Weg zu einem übertriebenen Schwächegefühl abgeschnitten wird. Wir werden dies um so eifriger tun, wenn wir uns die gerechtfertigte Überzeugung verschafft haben, daß es sich häufig nicht um bleibende Ausfälle handelt oder um eine Schwierigkeit größeren oder geringeren Grades, sondern wenn wir auch der zahlreichen Fälle gedenken, bei denen eine ursprüngliche, später aber aufgehobene Schwächung der Organe ein andauerndes Schwächegefühl vermittelt hat und für das Leben untauglich macht. Diese Verhältnisse komplizieren sich außerordentlich, weil die Kinder selbst nach irgendeiner Korrektur oder Kompensation streben. Den wenigsten gelingt eine glückliche Kompensation eines solchen Fehlers. Sie werden auf irgendeine Weise versuchen, die Unterschiede wettzumachen und etwa mit unkulturellen Mitteln, zuweilen freilich auch mit einer Steigerung ihrer ganzen Initiative und ihrer geistigen Kräfte, das Manko auszugleichen.

Bei allen diesen Fällen werden wir auch Charakterzüge wahrnehmen, die auffallend sind, die zu Störungen führen, z. B. eine große seelische Empfindlichkeit, die immer Konflikte hervorruft. Es handelt sich hier um Erscheinungen des täglichen Lebens, an denen wir nicht vorübergehen können, weil sie Geist und Körper schädigen.

Wir können nicht scharf genug darauf hinweisen, welche Not, welche Überspannung in der kindlichen Seele herrscht. Es gelingt mit leichter Mühe, untauglich gewordene Menschen, ihren geistigen Gesamthabitus daraufhin zu verstehen, daß sie ihre Untauglichkeit aus der Kinderstube mitgebracht haben. Überhaupt bedeutet Krankheit und Krankheitsbegriff für das Kind viel mehr, als wir uns gewöhnlich klarmachen. Wer die Seele des Kindes von diesem Standpunkt aus zu überblicken gewillt ist, der wird finden, daß es sich um ganz bedeutsame Erlebnisse handelt und daß das Kranksein fast in allen Fällen nicht als Erschwerung des Lebens erscheint, sondern als Erleichterung, daß die Krankheit sogar als ein Mittel geschätzt wird, um Zärtlichkeiten und Macht, irgendwelche Vorteile zu Hause und in der Schule zu erreichen.

Es gibt eine Unzahl von Kindern, die immer das Gefühl der Kränklichkeit haben, die sich immer schwach fühlen. Und alle jene Fälle, bei denen eine Fortdauer von Erscheinungen nicht aus dem Krankheitsbefund erklärlich sind, zeugen ebenfalls dafür, daß die Kinder sich des Gefühls der Krankheit bedienen, um auf irgendeine Weise an die Oberfläche zu kommen, um irgendwie ihren Wünschen nach Herrschaft, nach Geltung in der Familie gerecht werden zu können. So beispielsweise bei jenen Fällen, die nach Keuchhusten lange Zeit noch an ähnlich klingendem Husten laborieren, bei denen wir auch regelmäßig finden, daß es ihnen gelingt, durch die Hustenanfälle ihre Umgebung in Schrecken zu versetzen — ein Fall, bei dem der Arzt genötigt ist, pädagogisch einzugreifen.

Dann wieder gibt es Eltern und Erzieher, die den gegenteiligen Standpunkt einnehmen, die die Kinder mit Härte, ja Brutalität behandeln, oder die immer den Anschein einer solchen Härte beim Kinde wachrufen wollen.

Das Leben ist so vielgestaltig, daß es die Fehler der Erzieher oft wieder ausgleicht. Aber man wird einem Menschen, dessen Kindheit unter Lieblosigkeit verlaufen ist, oft bis ins späteste Alter anmerken, daß er liebeleer geblieben ist. Er wird immer mißtrauisch voraussetzen, daß alle mit ihm lieblos verfahren werden. Er wird sich leicht abschließen und den Zusammenhang mit den anderen verlieren. Oft berufen sich auch solche Menschen auf ihre liebeleere Kindheit, als ob sie dadurch gezwungen wären. Verpflichtet ist ein Kind natürlich auch nicht dadurch, daß seine Erzieher mit ihm hart verfahren sind, sein Mißtrauen zu entwickeln, seine Kälte anderen zu zeigen, wie man sie ihm gezeigt hat, oder an seinen Kräften deshalb zu zweifeln. Auf solchem Boden entwickelt sich gerne die Neurose und Psychose. Immer wird man in der Umgebung solcher Kinder einen Schädling finden, der durch Unverständnis oder bösen Willen die Seele des Kindes vergiftet. Kaum ein anderer als der Arzt kann in solchen Fällen eine Änderung des Milieus durchsetzen, sei es durch Ortsveränderung, sei es durch Aufklärung.

Es gibt aber Komplikationen, die man erst bei tieferem Eindringen gewahr wird, die aber einmal verstanden das Bild außerordentlich erhellen.

So besteht ein grundlegender Unterschied in der seelischen Entwicklung eines Erstgeborenen gegenüber dem Zweitgeborenen oder den letzten Kindern. Auch die Eigenart von einzigen Kindern ist leicht festzustellen. Seelisch macht es sich oft sehr geltend, wenn in einer Familie nur Knaben oder nur Mädchen oder ein Knabe unter lauter Mädchen oder ein Mädchen unter lauter Knaben aufwächst. Dies sind die gegebenen Realien und Positionen, aus denen sich die Haltung der Kinder herleitet. Es ist häufig möglich, den Ältesten oder Jüngsten aus seinem Verhalten herauszufinden. Ich habe fast regelmäßig erfahren, daß der Erstgeborene in seiner Haltung ein konservatives Element aufweist. Er rechnet mit der Stärke, paktiert mit der Macht und zeigt eine gewisse Verträglichkeit. Vergleichen Sie die Biographie Fontanes, der ausführt: er gäbe etwas darum, wenn man ihm erklären könnte, woher bei ihm die Erscheinung stamme, daß er mit einer gewissen Neigung sich auf die Seite des Stärkeren stelle. Ich schloß mit Recht, als ich diese Stelle las, daß er ein Erstgeborener sein mußte, der auch seine Überlegenheit über die Geschwister als ein unantastbares Gut empfand.

Der Zweitgeborene findet immer vor sich und neben sich einen anderen, der mehr kann, mehr bedeutet, der meist auch mehr Freiheiten hat und ihm überlegen ist. Ist dieser Zweite entwicklungsfähig, so wird er unbedingt in einer fortwährenden Anspannung leben, um den Ersten zu überflügeln. Er wird förmlich wie unter Dampf arbeiten, rastlos. Und in der Tat findet man unter den rastlosen Nervösen in einer auffallenden Häufigkeit zweitgeborene Kinder, während der erste mehr oder weniger unwillig allen Rivalitäten gegenübersteht.

In der Haltung des Jüngsten ist in einem vielleicht vorherrschenden Typus etwas Infantiles gegeben, Zurückhaltung und Zögern, so als ob er sich nennenswerte Leistungen nicht recht zutrauen würde, die er bei anderen sieht oder voraussetzt. Sie können leicht daraus entnehmen, daß es sich um die Stabilisierung eines ursprünglich gegebenen Zustandes handelt. Er hat es immer mit Leuten zu tun, die mehr können als er, sieht überhaupt nur Leute vor sich, die bedeutender sind als er. Dagegen zieht er in der Regel ohne Gegenleistung die ganze Liebe und Verzärtelung der Umgebung auf sich. Er hat gar nicht nötig, seine Kräfte zu entwickeln, denn er rückt von selbst in den Mittelpunkt seiner Umgebung. Wir verstehen sofort, welchen Schaden dies für seine ganze geistige Entwicklung in sich birgt: Er wird alles von den anderen erwarten. Ein zweiter Typ des Jüngsten aber ist der »Joseftypus«. Rastlos nach vorwärts strebend überflügelt er alle mit seiner Initiative, die [Kunstadt) oft aus der Art schlägt und neue Wege findet. In der Bibel und in den Märchen hat die Menschenkenntnis des Volkes den Jüngsten zumeist mit den stärksten Gaben, mit Siebenmeilenstiefeln ausgestattet.

Wichtig ist das Verhalten von einzelnen Mädchen unter Knaben. Hier gestalten sich so große Spannungsverhältnisse, daß wir voraussetzen müssen, es werde sich zu irgendwelchen abnormen Haltungen Gelegenheit bieten. Ich bin weit davon entfernt, hier von gänzlich abgeschlossenen Ergebnissen zu sprechen. Dem Mädchen wird oft frühzeitig klargemacht, daß es ein toto coelo verschiedenes Wesen ist, daß ihr vieles verschlossen ist, was die Knaben von Natur aus als ihr Recht, als ihr Privileg beanspruchen dürfen. Und es ist nicht leicht, etwa durch Lob, durch Verhätschelung in einem solchen Falle einen Ersatz zu bieten. Denn es handelt sich hier oft um Gefühlswerte, die für Kinder etwas Wesentliches, Unersetzliches sind. Das Mädchen wird oft fortwährend benörgelt werden, auf Schritt und Tritt Anweisungen, Belehrungen erhalten. Bei solchen Kindern ist besonders Empfindlichkeit gegenüber Tadel festzustellen, fortwährend Versuche, sich keine Blöße zu geben, absolut fehlerlos dazustehen, und gleichzeitig Furcht, in ihrer Bedeutungslosigkeit erkannt zu werden. Auch diese Mädchen stellen ein häufiges Kontingent zu späteren nervösen Erkrankungen oder Fehlschlägen.

Nicht anders steht es mit einzelnen Knaben unter Mädchen. Gerade hier scheint der Gegensatz noch größer zu werden. Der Knabe wird zumeist mit besonderen Privilegien bedacht. Die Folge ist die, daß die Mädchen gegen den einzelstehenden Knaben wie in einem Geheimbund operieren. Solche einzelstehende Knaben leiden oft wie unter einer weitgediehenen Verschwörung. Jedes Wort wird von den Schwestern belacht, man nimmt sie nie ernst, man trachtet ihre Vorzüge herabzusetzen, sucht ihre Fehler aufzubauschen, so daß es häufig geschieht, daß der Knabe bald seine ganze Fassung, seinen Glauben an sich selbst verliert und meist schlechte Fortschritte im Leben zeigt. Man pflegt dann von Faulheit und Indolenz zu sprechen. Dies ist aber nur die äußerliche Erscheinungsform, die sich mit ihren Folgen auf einer krankhaften Ausartung des Gemüts, einer Lebensfeigheit aufbaut. Der Hauptgesichtspunkt ist der, daß wir es immer mit Menschen zu tun haben, die den Glauben an sich verloren haben oder ihn leicht verlieren. So wird es solchen Knaben immer geschehen, daß sie gewohnheitsmäßig zurückschrecken, daß sie immer fürchten, ausgelacht zu werden, auch dort, wo kein Anlaß besteht. Sie geben leicht das Rennen auf und werfen sich auf Zeitvertrödelung oder verwahrlosen. Oder sie stürmen vorwärts, als ob sie immer ihre Männlichkeit beweisen wollten. Ebenso schwierig gestaltet sich oft die Entwicklung eines älteren Bruders neben einer jüngeren Schwester.

Ein weiterer ärztlicher Gesichtspunkt betrifft die sexuelle Aufklärung der Kinder. Eine einheitliche Formel dafür zu geben ist bis heute nicht gelungen, schon wegen der Verschiedenartigkeit der Kinderstube, der Individuen, der Kreise, in denen die Kinder aufwachsen. Immerhin ist eines fest im Auge zu behalten. Es ist ein Unrecht, das sich außerordentlich leicht rächt, wenn man Kinder in der Unsicherheit über ihr Geschlecht länger als notwendig aufwachsen läßt. Und das geschieht merkwürdigerweise sehr häufig. Ich habe oft von Patienten gehört, daß sie noch um ihr zehntes Jahr gar nicht sicher waren, welchem Geschlecht sie angehörten. In ihre ganze Entwicklung schlich sich ein Gefühl ein, als ob sie nicht als Knaben oder Mädchen wie die anderen geboren seien und sich auch nicht so entwickeln würden. Dies bedeutet ihnen eine so ungeheure Unsicherheit, daß man sie solchen Kindern bei jeder Bewegung anmerkt. Und ähnlich steht es mit Mädchen. Es gibt solche, die bis ins achte, zehnte, zwölfte, vierzehnte Lebensjahr in der Unsicherheit über ihr Geschlecht aufwachsen, und die in ihrer Phantasie sich immer noch in irgendeiner Weise ausmalen, sie könnten sich später männlich gestalten. Diese Tatsache wird auch durch gewisse Berichte in der Literatur unterstützt.

In solchen Fällen wird eine sichere Entwicklung gestört. Die Kindheit verläuft unter Anstrengungen, der Geschlechtsrolle künstlich nachzuhelfen, sie männlich zu gestalten oder strikten Entscheidungen, die mit einer Niederlage enden könnten, auszuweichen. Eine grundlegende Unsicherheit zeigt sich deutlich oder verrät sich in anmaßenden, übertreibenden Bewegungen. Mädchen nehmen männliche Haltung an, forcieren mit Vorliebe ein Benehmen, das ihnen und der ganzen Umgebung als charakteristisch für Knaben geläufig ist. Sie tollen mit ungeheurer Vorliebe herum, nicht nur in der harmlos kindlichen Form, die wir Kindern gerne konzedieren, sondern zwangsmäßig, unterstrichen, mit einer solchen unabänderlichen Neigung, die schon frühzeitig den Eltern als krankhafte Ausartung erscheint. Knaben zeigen sich gleichfalls von diesem Taumel erfaßt, biegen aber durch Widerstände belehrt meist um und nehmen bald eine unsichere, schwankende Haltung an oder werfen sich auf mädchenhaftes Getue. Die erwachende Erotik nimmt dann bei beiden Geschlechtern unnatürliche, häufig perverse, ihrer sonstigen Haltung gleichlaufende Züge an.

Einiges wäre noch zu sagen über Erscheinungen, die man als Trotz zu bezeichnen gewohnt ist. In dieses Gebiet des Trotzes fallen eine Unzahl von Zeichen, die der Arzt bereits als Krankheit ansieht. So die oft ziemlich weit gediehenen Formen der Nahrungsverweigerung, sogar Formen der Revolte in der Stuhlentleerung oder in der Harnentleerung. Alle die krankhaften Symptome, die wir dann in ausgeprägterer Form etwa als Enuresis beobachten oder auch als unerklärliche, unwandelbare Obstipation, basieren sehr häufig auf einem derartig eingewurzelten Trotz der Kinder, die jeden Anlaß benutzen möchten, um sich einem vermeintlichen Zwang, der auf sie ausgeübt wird, zu entziehen, weil sie jeden Zwang als Beeinträchtigung, als Erniedrigung empfinden.1) Die Verweigerung einer glatten Einfügung in die Forderungen der Kultur empfinden sie als Genugtuung, als gewichtige Zeichen ihrer Bedeutung. Wir deuten sie als Ausdruck ihrer Revolte. Die Probe darauf ist leicht zu machen: Wir werden niemals weitere Züge von Trotz vermissen. Dies gilt auch für harmlose Unarten wie Nasenbohren, Schlamperei, Nägelbeißen. Üble Gewohnheiten sind uns ein deutlicher Hinweis geworden auf eine Entwicklung, die sich im Gegensatz zu den Forderungen der Gemeinschaft herausgebildet hat. Niemals fehlt der Gegenspieler! Das Symptom gestaltet sich fast immer aus ursprünglichen funktionellen Minderleistungen.

Es ist außerordentlich interessant, die ganze Linie zu verfolgen, die sich bildet, wenn wir die verschiedenen Wandlungen der Berufswahl bei Kindern in Betracht ziehen, wie sie etwa bei kleinen Mädchen auf Prinzessin, Tänzerin, dann Lehrerin geht und zuletzt, vielleicht etwas resigniert, bei der Rolle der Hausfrau endet. Man findet oft bei erwachsenen Kindern, daß sich ihre Berufswahl eigentlich nur daran kehrt, in irgendeine Art von Gegensatz zu den Vorschlägen des Vaters etwa zu kommen. Natürlich entwickelt sich dieses Gegenspiel nie offen. Die Logik gerät unter den Druck der feindlichen Endabsicht. Es werden die Vorzüge des einen Berufes besonders betont und die Nachteile, die dem anderen anhaften, besonders stark unterstrichen. Auf diese Weise kann man für und gegen alles argumentieren. Auch dieser Gesichtspunkt bedarf einer starken Berücksichtigung. Bezüglich der Berufsberatung und der Berufswahl ist ja der Arzt auch von einer anderen Seite her außerordentlich engagiert. Er hat die körperliche Eignung in erster Linie zu berücksichtigen. Der seelische Faktor kommt aber ebenso stark in Betracht, in vielen Fällen überwiegt er.

Es ist eine außerordentlich mißliche Sache, jedem mißratenen, mit einer nervösen Krankheit oder Psychose behafteten Menschen nachzulaufen, um ihn zu bessern, zu heilen. Darin liegt eine ungeheure Verschwendung von Energie, und es wäre schon an der Zeit, daß wir uns mehr der Prophylaxe zuwenden. Gesicherte Ausblicke gibt es bereits genug. Durch Erziehung der Eltern sowohl als der Ärzte versuchten wir immer wieder darauf hinzuwirken. Aber ein besseres Resultat bei der ungeheuren Häufung der neurotischen und psychotischen Erscheinungen, insbesondere bei der Verwahrlosung, ist dringend zu wünschen. Da wäre es vor allem am Platz, die geäußerten, aus der Individualpsychologie fließenden Anschauungen, ihre Menschenkenntnis und Erziehungskunst bekannt zu machen und in Anwendung zu bringen, damit jeder nach seinen Kräften und Möglichkeiten mithelfen könnte. Die seelischen Entwicklungsanomalien, die uns anfangs als Unarten erscheinen, geben oft später zu den schwersten Formen der nervösen Erkrankungen und des Verbrechens Anlaß.

Als den geeignetsten Punkt, in die Entwicklung des schwererziehbaren Kindes einzugreifen, haben wir die Schule erkannt. In den Schulberatungsstellen, die wir Individualpsychologen, Ärzte und Lehrer gemeinsam, an vielen Orten errichtet haben, findet jedes schwererziehbare Kind den sichersten Ort, seine Fehler zu erkennen. Durch eine gemeinsame Arbeit von Arzt, Lehrer, Eltern und Kind gelingt es immer, den richtigen Weg zu finden und die Fähigkeit des Kindes zur Kooperation zu stärken.2)

 

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1) Ebenso bedeutsam wird ihr Hang, durch Mängel und Leiden die Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich zu lenken.

2) Siehe auch Zeitschr. f. Individualpsych., VII. Jahrgang: »Die Schulberatungs­stellen in Wien‹. Leipzig 1929.


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