Zur Funktion der Zwangsvorstellung als eines Mittels zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls


(1913)

 

Erster Teil

 

Summarisch kann ich behaupten, daß jeder Zwangsneurose die Funktion innewohnt, den betroffenen Zwangsneurotiker jedem äußeren Zwang dadurch zu entziehen, daß er nur seinem eigenen Zwang gehorcht, mit anderen Worten, der Zwangsneurotiker wehrt sich so sehr gegen Kooperation, gegen jeden fremden Willen und gegen jede fremde Beeinflussung, daß er im Kampf gegen sie soweit gelangt, seinen eigenen Willen als heilig und unwiderstehlich hinzustellen. Dadurch allein schon verrät er, daß er in allem vorwiegend nur an sich, nicht an die andern denkt, was auch aus seinem sonstigen Leben trotz allen Trugs erschlossen werden kann. Ein äußerst lehrreicher Fall ist z. B. folgender: Eine 40jährige Dame klagt darüber, daß sie nichts im Hause leisten kann, weil sie für die einfachsten Dinge das Verständnis verloren habe. Sie stehe deshalb unter dem Zwange, alles was sie tun solle, sich erst zu wiederholen. Dann könne sie es ausführen. Hätte sie z. B. einen Stuhl zum Tisch zu stellen, so müsse sie erst sagen: »Ich soll den Stuhl zum Tisch stellen!« Dann gelinge ihr diese Arbeit. — Die Patientin muß erst einen fremden Willen, die Verpflichtung zur (weiblichen!) Hausarbeit, zur Kooperation, zu ihrem eigenen machen, um etwas leisten zu können. Wer sich der schönen Arbeit Furtmüllers, Ethik und Psychoanalyse (München 1912) erinnert, kennt diesen Mechanismus als einen tragenden der Ethik. In der Zwangsneurose steht er als Grundpfeiler, der dem Patienten ermöglicht, seine quasi Gottähnlichkeit sich zu beweisen, indem jeder andere Einfluß nullifiziert erscheint. Kurz erwähne ich noch, wie der Waschzwang ermöglicht, alle Umgebung als unrein zu demonstrieren, wie der Masturbationszwang den Einfluß des sexuellen Partners unterbindet, wie der Betzwang in eigentümlicher Weise alle himmlische Macht dem Beter zur Verfügung zu stellen scheint. »Wenn ich das nicht tue, wenn ich dieses sage oder verrichte, wenn ich nicht jenes Gebet, jene Worte spreche, wird diese oder jene Person sterben.« Der Sinn wird sofort klar, wenn wir die positive Fassung der Formel hinstellen, etwa: wenn ich dies tue oder unterlasse, wenn ich meinen eigenen Willen wirken lasse, wird die Person nicht sterben. Nun hat der Patient einen Scheinbeweis, als ob er Herr über Leben und Tod, also gottähnlich wäre.

Zu unserem Thema läßt sich noch nachtragen, daß auch die Zweifelsucht und die neurotische Angst brauchbare Mittel der Neurose vorstellen, die dem Patienten gestatten, seine Lebenslinie innezuhalten und jeden fremden Einfluß (auf Beruf, Haltung) und jede fremde Erwartung zu durchkreuzen. Immer wird man finden, daß Zwang, Zweifel und Angst in der Neurose Sicherungen vorstellen, die dem Patienten ermöglichen sollen, oben, männlich, überlegen zu erscheinen, wie ich bereits in meinen früheren Arbeiten auseinandergesetzt habe.

 

 

Zweiter Teil

 

Eine 35jährige Patientin, die an Mangel an Energie und Zwangsgrübeln leidet, immer an ihrer praktischen Fähigkeit zweifelt, stellt sich am ersten Tage als begeisterte Verehrerin der Kunst vor. Den tiefsten Eindruck hätten auf sie gemacht: 1. ein Selbstporträt des alternden Rembrandt, 2. Fresken von der Auferstehung des Signorelli, 3. die drei Lebensalter (auch Konzert genannt) des Giorgione.

Man sieht das Interesse der Patientin auf das Alter und auf die Zukunft gerichtet und muß voraussetzen, einen Menschen vor sich zu sehen, der glaubt, daß er sich nur mit Mühe im Gleichgewicht hält, dem es scheint und der befürchtet, daß ihn der Verlust der Jugend in schwere Verwirrungen stürzen könnte. Ein Mensch also, der aus einer unsicheren Situation in ein ungefähres Gleichgewicht zu gelangen sucht, wozu ihm seine Kunstgriffe, eben die neurotischen Symptome, nötig erscheinen. Man müßte auch aus einer solchen Schilderung erraten, daß es sich um eine schöne Frau handelt.

Die soll nun Jugend, Schönheit, Macht und Einfluß einbüßen! Es bleiben nur zwei Wege: entweder Umkehr und Aufsuchen einer neuen Lebenslinie, deshalb störendere Empfindung der aus der alten Position stammenden Krankheit; dieser Weg führt sie selbst zum Nervenarzt! Oder: Verstärkung der Symptome und ihre Hervorhebung, um Macht zu gewinnen. Solche Patienten werden meist von ihrer Umgebung zum Arzt geschickt.

Eine mit Pedanterie, Angst und Zwang festgehaltene Position der Überlegenheit zeigt uns immer wieder das alte Unsicherheitsgefühl der nervösen Patienten. Und wir werden auf die Vermutung kommen, daß auch diese Dame, die auf den ersten Vorhalt, sie sei mit ihrer weiblichen RoOe unzufrieden, es leugnet, im männlichen Protest zu ihrer Neurose gekommen ist.

Am nächsten Tage erklärt sie, die Gesellschaft in Wien sei für sie sehr ermüdend. In der Provinz könne man sich besser ausruhen. Im Zusammenhang läßt sich leicht ersehen, daß diese Müdigkeit ein tendenziöses Arrangement vorstellt, das den Zweck hat, eine eventuelle Übersiedlung nach Wien als untunlich darzustellen.

Verbinden wir die Erläuterungen dieser beiden Tage durch eine Linie, so erhalten wir folgendes Bild: Eine überaus ehrgeizige Frau, die immer die erste Rolle spielen will, begnügt sich nicht mit dem ihr gegebenen reichen Fonds ihrer Fähigkeiten, sondern zittert davor, mit den Jahren in der Hauptstadt in großen Gesellschaften die Konkurrenz nicht mehr bestehen zu können. Sie sieht emsig in die Zukunft, um ihrer Entthronung vorzubeugen, und sie formt aus den brauchbaren Eindrücken und aus den allerwärts gegebenen Schwierigkeiten des Lebens eine äußerst affektbetonte Anschauung, sie sei für das praktische Leben, d. h. nämlich das Leben einer alternden Hausfrau, nicht geeignet.

So muß es also gelingen, durch die Neurose und durch neurotische Symptome, in diesem Falle durch Zwangsvorstellungen, durch das Gefühl der Hilflosigkeit, durch Müdigkeit einer unbewußt vorausgesetzten »Wahrheit« auszuweichen: daß das Alter eine Frau degradiert, sie, die schon früher eine Hilfsperson des Mannes, ein Luxusgeschöpf war, stärker degradiert als in ihrer Jugend. Statt weitschweifiger Erörterungen biete ich vorläufig als Beweis an, daß diese Frau, je näher sie sich der weiblichen Rolle fühlt, um so deutlicher das »Mitspielen« aufgibt. Sie ist frigid und sie zieht sich während der Menses auf vier Tage zurück.

Am zweiten Tage erzählt sie folgenden Traum: »Auf Ihrem Tische liegt Wildes Dorian Grey. In dem Buche liegt ein großes Stück weißer, kunstvoll bestickter Seide. Ich frage mich, wie diese Seide in das Buch kommt.«

Der erste Teil des Traumes enthält eine Bestätigung der von mir aufgedeckten verschärfenden Ursache des gegenwärtigen Zustandes. Das Bildnis Dorian Greys beginnt zu altern. Weiße Seide, seidene bestickte Vorhänge und ähnliches sind der Patientin besonders wert. Ein Buch auf meinem Tische: ein von mir geschriebenes Buch. Ihre Kostbarkeiten, ihre verwahrten Besitztümer in meinem Buch! Darob Verwunderung. Der Gedanke regt sich, ob ich nicht von ihrer Altersfurcht schreiben werde.

Ihre alte Attitüde der Verschlossenheit schiebt sich als brauchbares Mittel ein, um die Distanz zum Arzt zu vergrößern.

Kampf gegen die weibliche Rolle, dementsprechend die ÜberWertung des ehemals angestrebten männlich gewerteten (Künstler-)Berufs, die Entwertung der Hausfrauenrolle; die natürlichen Ereignisse: Heirat, Liebe, Alter, Entscheidungen aller Art, die dem Ideal der Überlegenheit drohen, bringen den Zwang zur Verschärfung der Neurose. Diese setzt sich aus individuell brauchbar erkannten psychischen und körperlichen Kunstgriffen zusammen, durch deren Zusammenwirken die Fiktion der Einzigkeit, der Macht, des freien Willens aufrechterhalten werden kann. Die Ausschaltung äußerer Forderungen ist gegeben durch den Machtzuwachs infolge der Krankheitslegitimation.

Auffallende Schönheit eines Menschen gestaltet ihm ein besonderes Lebensproblem. Nicht viele verstehen es zu lösen. Die meisten geraten in eine ununterbrochene Stimmung, unerhörte Triumphe zu erwarten, alles ohne Anstrengung erreichen zu können, und geraten natürlich in Widersprüche zu den realen Tatsachen. Besonders alternde, weibliche Schönheiten, sofern sie es nicht verstanden haben, eine Lebensbeziehung zu finden, die nicht ausschließlich auf der Macht ihrer Schönheit basiert. Denn sonst entpuppt sich bei drohendem Verlust der Schönheit die alte Machtgier in neurotischen und durchaus abträglichen Formen.

Ähnlich geartete Männer können durch diesen aus einem Irrtum entsprungenen Zug, alles von anderen zu erwarten, leicht in den Verdacht kommen, weibliche oder geminderte männliche Anlagen zu besitzen.

Unter den Kriminellen findet man oft hübsche, durchaus gesunde Menschen. Ebenso unter den Schwererziehbaren, den Perversen. Sie stammen aus der übergroßen Zahl der wegen ihrer Schönheit verzärtelten Kinder. Vielleicht ebensooft findet man unter den Fehlschlägen auffallend häßliche Menschen, ein Umstand, der manche Autoren verleitet, an angeborene seelische Defekte zu glauben. Es ist leicht zu sehen, daß auch letztere an der Überschätzung der körperlichen Schönheit in unserer Kultur scheiterten und einen Minderwertigkeitskomplex erwarben, ebenso wie auffallend schöne Kinder es erleben können, wenn ihre Erwartungen fehlschlagen. So beeinflußt ein generelles, soziales Problem das Schicksal des einzelnen.


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