4. Gemeinschaftsgefühl.


Wir verstehen nun, daß jene Spielregeln, Erziehung, Aberglaube, Totem und Tabu, Gesetzgebung, die notwendig waren, um den Bestand des Menschengeschlechtes zu sichern, wieder in erster Linie der Gemeinschaftsidee gerecht werden mußten. Wir haben es bei den religiösen Einrichtungen gesehen, wir finden die Forderungen der Gemeinschaft in den wichtigsten Funktionen des seelischen Organes und finden sie wieder in den Forderungen des Lebens des Einzelnen wie in jenen der Allgemeinheit. Was wir Gerechtigkeit nennen, was wir als die Lichtseite des menschlichen Charakters betrachten, ist im wesentlichen nichts anderes als Erfüllung von Forderungen, die aus dem gemeinsamen Leben der Menschen erflossen sind. Sie sind es, die das seelische Organ geformt haben. So kommt es, daß Verläßlichkeit, Treue, Offenheit, Wahrheitsliebe u. dgl. eigentlich Forderungen sind, die durch ein allgemein gültiges Prinzip der Gemeinschaft aufgestellt und gehalten werden. Was wir einen guten oder schlechten Charakter nennen, kann nur vom Standpunkt der Gemeinschaft aus beurteilt werden. Charakter, wie jede Leistung wissenschaftlicher Natur, politischen Ursprungs oder künstlerischer Art werden sich immer nur dadurch als groß und wertvoll erweisen, daß sie für die Allgemeinheit von Wert sind. Ein Idealbild, nach dem wir den Einzelnen messen, kommt nur unter Berücksichtigung seines Wertes, seines Nutzens für die Allgemeinheit zustande. Womit wir den Einzelnen vergleichen, ist das Idealbild eines Gemeinschaftsmenschen, eines Menschen, der die vor ihm liegenden Aufgaben in einer allgemeingültigen Art bewältigt, eines Menschen, der das Gemeinschaftsgefühl so weit in sich entwickelt hat, daß er — nach einem Ausspruch von Furtmüller — »die Spielregeln der menschlichen Gesellschaft befolgt«. Es wird sich im Verlaufe unserer Ausführungen erweisen, daß kein vollsinniger Mensch ohne Pflege und hinreichende Betätigung des Gemeinschaftsgefühls aufwachsen kann.


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