[Über die Homosexualität]
Zweiter Fall:
In der Literatur wird meist, zum Teil aus Gründen, die mit der Jurisprudenz zusammenhängen, nur die männliche Homosexualität berücksichtigt. Genau dieselben Grundlinien sind aber auch in der weiblichen Homosexualität nachzuweisen.
Eine 25jährige Patientin, die ältere von zwei Geschwistern, war vier Jahre alt, als ihr ein Bruder geboren wurde, dem sich nun die ganze Aufmerksamkeit der Familie zuwendete. Sie wurde zur Seite gedrängt. Daraus entstammte eine mächtige Entwicklung ihres Ehrgeizes. Dazu ein außerordentlich düsteres Familienbild: Vater gewalttätig, Mutter leichtsinnig. Das aufgeweckte Mädchen bemerkt, was in der Familie vorgeht, wird von der Ehe angewidert, zieht sich vom Vater zurück, sieht in ihm den gewalttätigen Menschen, sucht dieses Bild auch vom Bruder zu gewinnen, um die Sicherheit zu erlangen, daß alle Männer brutal sind. Sie bindet sich an keinen von beiden und spricht mit keinem. Sie führt ein furchtsames, isoliertes Leben, findet nirgends Anreiz zum Spiel, ist Kolleginnen gegenüber hochfahrig, aber ihr Ehrgeiz gewinnt ihr die Sympathien der Lehrerin. Sie wird zum Studium bestimmt. Mit zehn Jahren ist sie Augenzeugin einer Geburt, die sich bei einem Dienstmädchen in einem Nebenzimmer vollzieht. Ihre Abneigung, ihr Schrecken vor der weiblichen Rolle ist dadurch stark gewachsen. Mit Beginn der Entwicklung zeigt sich eine außerordentliche Verstimmung, und das Mädchen ergibt sich der Trunksucht. Auch hier finden wir wieder den Aufwand von Kraft und Aktivität, um dem normalen Leben eines Mädchens aus einem Milieu wohlhabender Eltern zu entgehen und alle sachgemäßen Forderungen auszuschalten.
Ihre Ausartung in die Homosexualität hat lange Zeit in Anspruch genommen. Sie war schon persönlich einer Homosexuellen ihrer Vaterstadt befreundet, aber es bedurfte noch zweier Jahre, bis sie eines Tages nach einem heftigen Streit mit ihrer Mutter in einem Zug von Rachsucht zu diesem homosexuellen Mädchen ging und seither mit ihr lebte. Von Männern hatte sie sich immer fern gehalten. Aber es gab einen Verwandten, einen jungen Mann von besonders abstoßender Gestalt und häßlichen Gesichtszügen, mit dem sie doch vertrauter wurde, mit dem sie wissenschaftliche, gesellschaftliche Gespräche führte und gelegentlich auch Spaziergänge machte. Er erschien ihr absolut ungefährlich. Gerade ihre besondere Vorsicht wurde ihr aber zum Unglück. Eines Tages vertraute sie ihm ihr homosexuelles Geheimnis an, und nun versuchte der junge Mann eine Erpressung in der Richtung, sie zu einer Ehe mit ihm zu zwingen. Es kam zur Heirat, die nach ungefähr vier Wochen mit einer Scheidung endete. Die Frau erwies sich, wenn ich so sagen darf, als impotent. Die Geschichte wurde offenbar, und ihre Mutter, mit der das Mädchen immer in größter Feindschaft lebte, bat mich, mich der Tochter anzunehmen.
Patientin sprach nur von ihrem Ehrgeiz, von ihrer Neigung, in der Wissenschaft etwas zu leisten, und ihre Abgewandtheit von der Rolle einer Frau war so deutlich, daß es nicht zu übersehen war. In der Gesellschaft suchte sie sich unmöglich zu machen. Welche Arbeit immer sie begann — sie fand auch immer den Weg, um abzubrechen. Diese eigenartige Gangart stammte aus einem frühen kindlichen Irrtum in der Beurteilung der Forderungen des Lebens, die sie in ihrem Pessimismus überschätzte, und aus der Furcht, diesen Forderungen nicht gerecht werden zu können, was ihre niedrige Einschätzung der Frau widerspiegelte. Die Gefahren des heterosexuellen Lebens sieht der Homosexuelle in seinem Pessimismus außerordentlich groß, so daß wir eigentlich selbstverständlich finden, wie er vor allen Unternehmungen zurückschreckt, die ein Aufgehen in seiner Geschlechtsrolle anbahnen könnten, und seine Haltung ist so, als ob er die Zeit hemmen, den Fortschritt, der natürlich wäre, aufhalten wollte. Wir kennen seine Beweggründe. Aber der Homosexuelle kennt sie nicht, wehrt sich auch, sie anzuerkennen. Er nimmt für echt, worin wir einen Irrtum sehen, und er ist darin außerdem gestützt durch die Irrtümer einer scheinbar sachverständigen, wissenschaftlichen oder laienhaften Literatur, die ihm in seinem Urteil über die Unabänderlichkeit recht gibt. Eine derartige Geistesdisposition, in der der Homosexuelle lebt, phantasiert und handelt, macht ihn aber unverantwortlich. Ein Eingreifen der Allgemeinheit ist dadurch absolut nicht verwehrt. Was mir das wichtigste im Heilverfahren zu sein scheint, ist ja doch die Logik des Lebens, die auch bei ihm durchschlägt, die ihn zum mindesten zu einer großen Heimlichkeit veranlaßt, die ihm auch Herzklopfen verursacht, wenn er seiner fixen Idee, seiner Aufwallung nachgeht. Darin bekundet sich die Stimme der Gemeinschaft, die unter allen Umständen der Homosexualität abhold sein muß.
Zum Schluß noch ein Wort bezüglich der Hormonenlehre und der Anschauung Steinachs und seiner Anhänger betreffs der Heilung der Homosexualität durch Steigerung der Keimdrüsensekretion. Der Homosexuelle ist ein schwer entmutigter Nervöser. Ihm fehlen die seelischen Vorbereitungen für ein mitmenschliches Verhältnis zum andersgeschlechtlichen Partner. Wer ihn ermutigt, kann ihn heilen. Nach meiner Erfahrung können einzelne Fälle durch operative Eingriffe ermutigt werden, ohne daß Arzt und Patient diesen Vorgang verstehen. Manche, die sich solchen Eingriffen hingeben, sind bereits am Wege der Ermutigung. Bei anderen bleibt sie aus. Die so lebenswichtigen seelischen Vorbereitungen können nur durch die individualpsychologische Methode nachgeholt werden. Die Schwierigkeit in solchen Fällen beruht wohl darin, daß sie im Training gegenüber dem anderen Geschlecht so weit zurück sind und eigentlich nachholen müßten, was andere seit Kindheit geübt und in sich aufgenommen haben. Wir wollen endlich auch zeigen, wie man die individualpsychologischen Feststellungen über Homosexualität gerichtsärztlich zur Geltung zu bringen hätte.