[Das jüngste Kind.]


Die Menschen scheinen eigentlich schon lange gewußt zu haben, daß der Jüngste meist ein besonderer Typus ist. Das ergibt sich aus einer Unzahl Märchen, Legenden, biblischen Geschichten, in denen der Jüngste immer in der gleichen Art hervortritt und geschildert wird. Tatsächlich wächst er in einer ganz anderen Situation auf als alle anderen Kinder. Er ist für die Eltern ein besonderes Kind, er erfährt als Jüngster eine besondere Behandlung. Als Jüngster erscheint er gleichzeitig auch als der Kleinste, infolgedessen Bedürftigste zu einer Zeit, wo die anderen Geschwister schon selbständiger, fertig, erwachsen dastehen. Daher wächst er auch meist in einer wärmeren Atmosphäre auf als die andern.

Aus dieser Situation erwächst ihm eine Anzahl von Charakterzügen, die seine Stellungsnahme zum Leben in besonderer Weise beeinflussen, eine besondere Persönlichkeit aus ihm formen. Dazu kommt noch ein Umstand, der scheinbar einen Widerspruch bedeutet. Es ist für kein Kind eine angenehme Situation, immer als der Kleinste zu gelten, dem man nichts zutraut, dem man nichts anvertrauen darf. Das reizt das Kind so sehr, daß es meist danach strebt, zu zeigen, was es alles könne. Sein Machtstreben erfährt eine Verschärfung. So wird der Jüngste meist ein Mensch sein, dem nur die beste Situation genügt, der ein Streben in sich entwickelt, alle andern zu überspringen.

Dieser Typus ist im Leben sehr oft anzutreffen. Es gibt eine Sorte von Jüngsten, die alle andern übertreffen, die viel mehr geleistet haben als ihre Geschwister. Ein böserer Fall ist eine andere Sorte von Jüngsten, die auch dieses Streben gehabt haben, aber nicht die volle Aktivität und das Selbstvertrauen, was ebenfalls von ihren Beziehungen zu den älteren Geschwistern herrühren kann. Waren diese nicht zu übertreffen, dann kann es geschehen, daß der Jüngste vor seinen Aufgaben zurückschreckt, feige und wehleidig wird und immer nach einer Ausrede sucht, um seinen Aufgaben auszuweichen. Er wird nicht weniger ehrgeizig, er bekommt aber jene Art von Ehrgeiz, die den Menschen dazu drängt, auszukneifen und seinen Ehrgeiz auf einem Feld abseits von den Aufgaben des Lebens zu befriedigen und der Gefahr auszuweichen, Proben seines Könnens ablegen zu müssen.

Manchen wird es schon aufgefallen sein, daß sich der Jüngste gewöhnlich so benimmt, als ob er verkürzt worden wäre und ein Minderwertigkeitsgefühl in sich tragen würde. Wir konnten dieses Gefühl bei unseren Untersuchungen immer feststellen und den großen Schwung einer seelischen Entwicklung aus diesem peinigenden und beunruhigenden Gefühl ableiten. In diesem Sinn gleicht der Jüngste völlig einem Kind, das mit schwachen Organen zur Welt gekommen ist. An sich braucht das nicht der Fall zu sein, es kommt nicht darauf an, was objektiv vorhanden ist, ob ein Mensch wirklich minderwertig ist, sondern darauf, was er darüber fühlt. Wir wissen auch, daß es im Kindesleben außerordentlich leicht ist, einen Irrtum zu begehen. Wir stehen da vor einer Fülle von Fragen, Möglichkeiten und Konsequenzen. Wie soll sich der Erzieher verhalten, soll er weitere Reizungen hervorrufen, indem er etwa die Eitelkeit eines solchen Kindes noch weiter aufstachelt? Nur in den Vordergrund schieben, daß dieses Kind immer der Erste sein solle, wäre für ein Menschenleben viel zu wenig und die Erfahrung belehrt uns auch, daß es im Leben nicht darauf ankommt, der Erste zu sein. Besser ist es, hier eher etwas zu übertreiben und zu sagen: wir brauchen keine Ersten. Vor ihnen ist uns eigentlich schon übel. Wenn wir die Geschichte sowie unsere Erfahrungen überblicken, so müssen wir feststellen, daß darauf kein Segen ruht. Ein solches Prinzip macht das Kind einseitig und vor allem zu keinem guten Mitmenschen. Denn die nächste Folge ist meist, daß es nur an sich denkt und daran, ob andere ihm nicht zuvorkommen könnten. Es entwickeln sich Neid- und Haßgefühle, eine Bangigkeit, ob er auch immer der Erste sein werde. Der Jüngste ist durch seine Position schon im vorhinein geneigt, ein Schnelläufer zu werden, alle andern zu überflügeln. Der Wettläufer in ihm wird sich in seinem ganzen Gehaben verraten, meist nur in Kleinigkeiten, die gewöhnlich nicht auffallen, wenn man nicht die ganzen Zusammenhänge dieses Seelenlebens kennt. So, wenn diese Kinder immer an der Spitze einer Gruppe gehen oder es nicht vertragen können, wenn sich jemand vor ihnen aufstellt. Das Wettläufertum ist für den weitaus größten Teil der Jüngsten bezeichnend.

Dieser eine Typus von Jüngsten, der manchmal aus der Art schlägt, ist auch ganz rein ausgeprägt zu finden. Oft sind darunter tatkräftige Menschen, die es so weit gebracht haben, daß sie zuweilen zu Rettern der ganzen Familie geworden sind. Blicken wir zurück und betrachten wir z. B. die biblische Geschichte, etwa die Josefslegende, so finden wir hier all dies in der wundervollsten Weise dargestellt, mit einer Absichtlichkeit und Klarheit, als ob sich die Dichter jener Legende im vollen Besitz dieser Kenntnisse befunden hätten, die wir heute so mühsam erringen. Sicherlich ist im Lauf der Jahrhunderte viel wertvolles Material verloren gegangen und muß nun immer wieder neu gefunden werden.

Daneben gibt es noch einen anderen Typus, der sich aus dem ersteren sekundär herausbildet. Man denke sich, daß dieser Schnelläufer plötzlich auf ein Hindernis stoße, dessen Überwindung er sich nicht zutraut und nun einen Umweg einschlägt. Wenn ein solcher Jüngster den Mut verliert, dann wird er der ärgste Feigling, den man sich denken kann. Man findet ihn dann immer rückwärts, jede Arbeit wird ihm zu viel sein, er wird für alles eine Ausrede haben, sich an nichts heranwagen und so die Zeit vertrödeln. Er wird meist versagen und mit Mühe und Not ein Feld finden, auf dem eigentlich jede Konkurrenz schon im vorhinein ausgeschlossen ist. Für seine Mißerfolge wird er allerhand Ausreden vorbringen, wie daß er zu schwach, daß er vernachlässigt oder verzärtelt worden sei, daß ihn seine Geschwister nicht hätten aufkommen lassen u. dgl. Verschärft können solche Schicksale noch werden, wenn er wirklich ein Gebrechen hat. Dann wird er daraus für sein Ausreißertum erst recht Kapital schlagen.

Gute Mitmenschen sind beide Typen meist nicht. Der erstere fährt allerdings besser in einer Zeit, wo das Konkurrieren noch irgendwelchen Wert genießt. Dieser Typus wird nur auf Kosten der andern im Gleichgewicht bleiben können, während der zweite zeitlebens unter dem drückenden Gefühl seiner Minderwertigkeit und unter seiner Unausgesöhntheit mit dem Leben leidet.


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