[Beispiele für Eitelkeit und Ehrgeiz:
Lampenfieber, Liebenswürdigkeit, Gottheitsideal, Zauberei, Geld, Verwahrlosung u.a.]


Es sei noch ein anderer Fall herangezogen. Ein Mann von 25 Jahren sollte gerade seine letzten Prüfungen machen. Er trat aber zurück, weil es ihn plötzlich überkam, als hätte er das Interesse für alles verloren. Von Stimmungen peinlichster Art verfolgt, übte er eine abfällige Kritik über sich selbst und hatte fortwährend den Gedanken, er sei unfähig geworden. Bei der Erinnerung an seine Kindheit gelangte er zu heftigen Vorwürfen gegen seine Eltern, deren Unverständnis ihn in seiner Entwicklung behindert hätte. In dieser Stimmung hatte er zuweilen auch Gedanken, daß die Menschen eigentlich wertlos und ohne Interesse für ihn seien. Solche Gedanken trieben ihn schließlich dazu, sich zu isolieren.

Als geheime Triebkraft erwies sich auch hier wieder die Eitelkeit, die ihm Vorwände und Ausreden eingab, um sich nicht auf die Probe stellen zu müssen. Denn gerade vor seinen Prüfungen überkamen ihn diese Gedanken, stellte sich dieses Lampenfieber, diese hochgradige Unlust ein, die ihn unfähig machte. Das alles hatte aber für ihn ausschlaggebende Bedeutung. Denn wenn er jetzt nichts leistete, war sein Persönlichkeitsgefühl gerettet. Er hatte ein Sprungtuch bei sich und konnte nicht der Kritik verfallen. Er konnte sich damit trösten, daß er krank, durch ein dunkles Schicksal unfähig geworden sei. In dieser Haltung, die nicht zuläßt, daß sich ein Mensch exponiert, erkennen wir eine andere Form der Eitelkeit. Sie läßt ihn gerade in dem Moment, wo er einer Entscheidung über seine Tüchtigkeit nahe ist, eine Wendung machen. Er denkt an den Glanz, den er durch eine Niederlage verlieren könnte und beginnt an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Das ist das Geheimnis aller derer, die sich zu einer Entscheidung nicht aufraffen können.

Zu dieser Art Menschen gehört auch unser Patient. Aus seinem Bericht ergab sich, daß er eigentlich immer so war. Jedesmal, wenn eine Entscheidung heranrückte, wurde er wankelmütig. Für uns, die wir uns auf das Studium der Bewegungslinie, der Gangart eines Menschen verlegen, bedeutet das nichts anderes als bremsen, stillstehen.

Er war der älteste und einzige Knabe unter vier Geschwistern und der einzige, der für das Studium bestimmt worden war, sozusagen der Lichtpunkt der Familie, auf den man große Erwartungen gesetzt hatte. Sein Vater hatte es nie unterlassen, seinen Ehrgeiz recht namhaft zu reizen und ihm immer vorauszusagen, was aus ihm einmal alles werden solle, so daß er bald nur das eine Ziel im Auge hatte: mehr zu sein als alle andern. Und jetzt stand er da, von Unsicherheit erfaßt, ob er das alles auch werde leisten können. Da zwang ihn seine Eitelkeit zum Rückzug.

So zeigt sich, wie in der Entwicklung des ehrgeizigen, eitlen Prinzips von selbst die Würfel fallen, der weitere Weg ungangbar wird. Die Eitelkeit gerät in einen unlösbaren Widerspruch zum Gemeinschaftsgefühl, aus dem kein Ausweg herausführt. Trotzdem sehen wir, wie eitle Naturen von Kindheit an immer wieder das Gemeinschaftsgefühl durchbrechen und ihren eigenen Weg zu gehen versuchen. Sie gleichen einem Menschen, der sich nach eigener Phantasie den Plan einer Stadt zurechtgelegt hat und nun damit in dieser Stadt herumgeht und alles dort sucht, wo er es auf diesem eigensinnigen Plan eingezeichnet hat. Natürlich findet er nie, was er sucht und beschuldigt dafür die Wirklichkeit. Ungefähr so ist das Los des eitlen, eigensinnigen Menschen. In allen seinen Beziehungen zum Mitmenschen versucht er, sein Prinzip entweder gewaltsam oder mit List und Hinterlist durchzusetzen. Immer lauert er auf die Gelegenheit, andere ins Unrecht zu setzen und ihnen Fehler nachzuweisen. Er ist glücklich, wenn es ihm einmal gelingt zu zeigen — wenigstens sich selbst zu zeigen — daß er klüger oder besser sei als die anderen, während diese darauf nicht achten und doch den Kampf aufnehmen, der nun eine Weile anhält, bald mit dem Sieg, bald mit der Niederlage des Eitlen endet, immer aber für ihn mit dem Bewußtsein seiner Überlegenheit und seines Rechtes.

Das sind billige Kunststücke. Kann sich doch auf diese Weise jeder einbilden was ihm beliebt. So kann es, wie in unserem Fall, dazu kommen, daß ein Mensch, plötzlich in die Notwendigkeit versetzt, zu studieren, sich der Klugheit eines Buches zu unterwerfen oder gar einer Prüfung, bei der sich der wahre Bestand seiner Tüchtigkeit herausstellen müßte, sich seiner ganzen Mangelhaftigkeit bewußt wird. Mit der falschen Perspektive, unter der er die Dinge sieht, überschätzt er nun die Situation und faßt sie so auf, als ob jetzt sein ganzes Lebensglück, seine ganze Bedeutung auf dem Spiel stehe. Er gerät mit Notwendigkeit in eine Spannung, die kein Mensch zu ertragen imstande ist.

Auch jede andere Begegnung wird ihm zu einem großen, besonderen Ereignis. Jede Ansprache, jedes Wort wird von ihm vom Standpunkt des eigenen Sieges oder der eigenen Niederlage gedreht oder bewertet. Es ist ein ununterbrochener Kampf, der natürlich denjenigen, der Eitelkeit, Ehrgeiz und Hoffart zu seiner Lebensschablone gemacht hat, fortwährend in neue Schwierigkeiten drängt und ihm die wahren Freuden des Lebens raubt. Denn diese sind nur zu haben, wenn die Bedingungen dieses Lebens bejaht werden. Wenn aber jemand sie zur Seite stößt, versperrt er sich alle Wege zu Freude und Glückseligkeit und wird finden, daß ihm alles, was für andere Zufriedenheit und Lebensglück bedeutet, versagt ist. Im besten Fall kann er sich in Gefühle der Erhabenheit, der Überlegenheit über die andern hineinträumen, sie aber nirgends in irgendeiner Weise verwirklicht finden. Selbst wenn er sie einmal hätte, würden sich genug Leute finden, denen es ein Vergnügen wäre, ihm seine Geltung streitig zu machen. Dagegen gibt es kein Mittel. Zur Anerkennung einer Überlegenheit kann niemand gezwungen werden. Ihm bleibt nur sein eigenes, dünkelhaftes, völlig unsicheres Urteil über sich selbst. Auf diese Art in Anspruch genommen, ist es schwer, reale Erfolge zu erzielen oder Mitmenschen zu fördern. Kein Mensch gewinnt dabei, alle sind immer der Angriffspunkt und fortwährend der Zerstörung ausgesetzt. Es ist, wie wenn diese Menschen einer Fleißaufgabe obliegen würden, immer groß und überlegen zu erscheinen.

Etwas anderes ist es, wenn sich der Wert eines Menschen dadurch rechtfertigt, daß er die anderen fördert. Dann kommt ihm Wert ganz von selbst zugeflogen, und selbst wenn dieser bestritten wird, hat das gar keine Kraft. Der Mensch selbst kann dabei ganz ruhig bleiben, weil er eben nicht alles auf seine Eitelkeit gesetzt hat. Entscheidend ist der auf die eigene Person gerichtete Blick, das fortwährende Suchen nach Erhöhung der eigenen Persönlichkeit. Die Rolle des Eitlen ist immer die eines Erwartenden und Nehmenden. Stellt man ihm scharf jenen Typus gegenüber, der ein entwickeltes Gemeinschaftsgefühl zeigt, der umhergeht wie mit der stummen Frage: Was kann ich geben?, dann wird man sofort den ungeheuren Wertunterschied erkennen.

So gelangt man zu einem Standpunkt, den die Völker schon vor Jahrtausenden mit unheimlicher Sicherheit geahnt haben, und der sich in dem weisen Bibelwort äußert: Geben ist seliger, denn nehmen. Wenn wir uns heute den Sinn dieser Worte überlegen, die der Ausdruck einer ungeheuer alten Menschheitserfahrung ist, so erkennen wir, daß es die Stimmung ist, die hier gemeint ist, die Stimmung des Gebens, Förderns, Helfens, die von selbst eine Ausgeglichenheit, eine Harmonie des Seelenlebens mit sich bringt, wie ein Geschenk der Götter, das sich beim Gebenden von selbst einstellt, während derjenige, der mehr auf das Nehmen eingestellt ist, meist zerfahren, unzufrieden und fortwährend mit dem Gedanken beschäftigt ist, was er eigentlich noch erreichen und sich aneignen müßte, um ganz glücklich zu sein. Da sein Blick nie auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der andern gerichtet ist, fremdes Unglück ihm als eigenes Glück erscheint, hat bei ihm der Gedanke eines Versöhnungsfriedens, keinen Raum. Er verlangt unerbittlich Beugung des andern unter die Gesetze, die sein Eigensinn geschaffen hat, er verlangt einen anderen Himmel als den, den es gibt, ein anderes Denken und Fühlen. Kurz, seine Unzufriedenheit und Unbescheidenheit ist ebenso ungeheuerlich, wie alles, was wir an ihm finden.

Anderen, rein äußerlichen und primitiveren Erscheinungsformen der Eitelkeit begegnen wir bei Menschen, die sich mit einer gewissen Wichtigkeit oder übertrieben kleiden, sich wie die Zieraffen schmücken und sich dadurch in auffälliger Weise dem andern in Erscheinung setzen wollen, ähnlich wie in früheren Tagen Menschen zu glänzen versucht haben oder wie es primitive Völker noch heute versuchen, indem es z. B. irgendeinem primitiven Menschen zum Stolz seines Lebens gereicht, eine recht lange Feder im Haar zu tragen. Es gibt eine Unzahl Menschen, welche die höchste Befriedigung darin empfinden, immer schön und nach der neuesten Mode gekleidet zu gehen. Bildnisse und verschiedene Schmuckstücke, die Menschen dieser Art tragen, weisen ebenso auf ihre Eitelkeit hin, wie zuweilen stramme Wahlsprüche, kriegerische Embleme oder Waffen, die in Wirklichkeit gehandhabt, den Feind wohl erschrecken würden. Manchmal sind es Figuren erotischen Ursprungs, besonders bei Männern, und andere Zeichnungen, wie Tätowierungen u. dgl., die uns frivol anmuten.

Bei einem solchen Anblick haben wir immer das Empfinden einer Streberei, eines Imponierenwollens, sei es auch nur mit Schamlosigkeit. Denn manchen Menschen verleiht es die Empfindung einer Art von Größe und Überlegenheit, wenn sie sich schamlos benehmen. Andere bekommen diese Empfindung wieder dann, wenn sie sich hart, gefühllos, geben, Unnachgiebigkeit oder Verschlossenheit an den Tag legen. Auch das kann manchmal nur Schein sein, während es in Wirklichkeit nur Menschen sind, die eigentlich der Rührung viel näher stehen als der Roheit und dem rauhen Rittertum. Besonders bei Knaben findet man oft eine Art Unempfindlichkeit, eine feindselige Haltung gegen Regungen des Gemeinschaftsgefühls. Bei dieser Art von Eitelkeit getriebener Menschen, die gern eine Rolle spielen, bei der andere leiden, wäre ein Appell an ihr Gefühl das schlechteste, was man tun kann. Denn das wird sie meist nur weiter reizen, ihre Haltung zu versteifen. Gewöhnlichsieht man in einem solchen Fall, wie sich jemand, z. B. die Eltern, bittend nahen, wobei sie ihren Schmerz enthüllen, während ihnen ein Mensch gegenübersteht, der aus der Enthüllung fremden Schmerzes geradezu ein Gefühl seiner Überlegenheit bezieht.

Es wurde bereits erwähnt, daß sich die Eitelkeit gern maskiert. Eitle Menschen sind, um andere beherrschen zu können, meist genötigt, dieselben einzufangen, um sie an sich zu fesseln. Wir dürfen uns daher durch Liebenswürdigkeit, freundliches Wesen und Entgegenkommen eines Menschen noch nicht gleich gefangennehmen und uns nicht darüber täuschen lassen, daß es sich hier trotzdem um einen Kämpfer handelt, einen Angreifer, der über die andern hinaus will und ihre Beherrschung anstrebt. Denn die erste Phase eines solchen Kampfes muß wohl die sein, den Gegner sicherzuwiegen und ihn so weit zu bringen, daß dieser seine Vorsicht aufgibt. In dieser ersten Phase, der des freundlichen Entgegenkommens, ist man leicht versucht, zu glauben, das sei ein Mensch mit viel Gemeinschaftsgefühl. Der zweite Akt aber, der nun folgt, zeigt uns den Irrtum. Das sind dann die Menschen, von denen man so gern sagt, daß sie einen enttäuscht haben, daß sie zwei Seelen besitzen. Es ist aber nur eine Seele, die einen liebenswürdigen Anfang und eine kämpferische Fortsetzung hat. Diese einschmeichelnde Anfangsattitüde kann so weit gehen, daß daraus eine Art Seelenfängerei wird. Diese Menschen tragen oft Züge äußerster Hingebung zur Schau, die allein ihnen schon nahezu Triumph sind. Sie können das reinste Menschentum im Munde führen und durch Handlungen scheinbar beweisen. Meist tun sie das aber in so demonstrativer Weise, daß der Kenner vorsichtig wird. Ein italienischer Kriminalpsychologe hat einmal gesagt: »Wenn die ideale Haltung eines Menschen ein gewisses Maß überschreitet, wenn seine Güte und Menschlichkeit Formen annimmt, die schon auffällig sind, dann ist Mißtrauen vollständig am Platz.« Man wird natürlich auch mit dieser Auffassung behutsam vorgehen, sich aber nicht der Erkenntnis verschließen können, daß dieser Gesichtspunkt theoretisch und praktisch begründet ist. Auch Goethe kommt diesem Gedanken in einem seiner Venezianischen Epigramme nahe, wo er sagt:

Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz

im dreißigsten Jahre,

Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrog'ne

zum Schelm.

Im allgemeinen wird dieser Typus meist leicht erkannt. Man liebt das Einschmeichelnde nicht, es wird widerwärtig, und man nimmt sich vor diesen Menschen bald in acht. Ehrgeizigen Menschen wäre dieses Mittel daher eher zu widerraten. Es ist besser, man geht diesen Weg nicht und bleibt bei einer schlichteren Gangart.

Wir kennen bereits aus dem allgemeinen Teil die Situationen, aus denen sich seelische Fehlschläge entwickeln können. Die erzieherischen Schwierigkeiten bestehen darin, daß man es in solchen Fällen mit Kindern zu tun hat, die in einer Kampfstellung zur Umgebung stehen. Während höchstens der Erzieher seine in der Logik des Lebens begründeten Verpflichtungen kennt, haben wir keine Möglichkeit, diese Logik auch für das Kind verpflichtend zu machen. Der einzige Weg wäre, die Kampfsituation möglichst zu vermeiden, was man am besten wohl dann erreichen wird, wenn man das Kind nicht als Objekt, sondern als Subjekt, als völlig gleichberechtigten Mitmenschen, als Kameraden betrachtet und behandelt. Dann wird es weniger leicht vorkommen, daß Kinder durch ein Gefühl der Bedrücktheit und Zurückgesetztheit in die Kampfstellung geraten, aus der sich dann in unserer Kultur dieser falsche Ehrgeiz automatisch entwickelt, der allen unseren Gedanken, Handlungen und Charakterzügen in verschiedenen Graden und Mengen beigemengt ist und regelmäßig zu einer Erschwerung des Lebens Anlaß gibt und der manchmal zu den schwersten Verwicklungen, Niederlagen und zum Zusammenbruch der Persönlichkeit führt.

Sehr charakteristisch ist es, daß jene Quelle, aus der wir alle eigentlich zuerst Menschenkenntnis schöpfen, das Märchen, über eine Fülle von Beispielen verfügt, die uns die Eitelkeit und deren Gefährlichkeit zeigen. Besonders ein Märchen soll hier Erwähnung finden, das in drastischer Weise die zügellose Entfaltung der Eitelkeit und den automatischen Zusammenbruch, der damit verbunden ist, vor Augen führt. Es ist das Märchen »Der Essigkrug« von Andersen. Ein Fischer schenkt einem Fisch die Freiheit wieder, der ihm zum Dank gestattet, einen Wunsch auszusprechen. Der Wunsch geht in Erfüllung. Aber die unzufriedene, ehrgeizige Frau des Fischers, die lieber Gräfin, dann Königin und schließlich Gott selbst werden wollte, schickt den Mann immer wieder zurück zu dem Fisch, der endlich, ob des letzten Wunsches erzürnt, den Fischer für immer entläßt.

In der Fortbildung des Ehrgeizes gibt es keine äußerste Grenze. Es ist interessant zu beobachten, wie sowohl im Märchen, wie in der Wirklichkeit, sowie im überhitzten Seelenleben des eitlen Menschen, die Steigerung des Strebens nach Macht in eine Art Gottheitsideal münden kann. Man braucht oft nicht lange zu forschen und man findet, daß sich solch ein Mensch — wie in den schwersten Fällen dieser Art — entweder direkt so benimmt, als ob er ein Gott oder an Gottes Stelle wäre, oder daß er derartige Wünsche und Ziele hat, bei deren Erfüllung er geradezu ein Gott wäre. Diese Erscheinung, das Gottähnlichkeitsstreben, ist der äußerste Punkt der bei ihm auch sonst vorhandenen Neigung, über die Grenzen seiner Persönlichkeit hinauszugreifen. Gerade in unseren Tagen wird dies außerordentlich oft offenbar. Alle Bestrebungen und Interessen, die sich um Spiritismus und Telepathie gruppieren, deuten auf Menschen, die nicht erwarten können, über die ihnen gegebenen Grenzen hinauszukommen, die sich Kräfte beimessen, welche Menschen nicht besitzen, die manchmal geradezu die Zeit aufheben wollen, indem sie sich über Zeit und Raum hinweg z.B. mit Geistern von Verstorbenen in Verbindung zu setzen suchen. Wenn wir tiefer schürfen, finden wir, daß ein Großteil der Menschen die Neigung hat, sich wenigstens in Gottes Nähe ein Plätzchen zu sichern. Es gibt noch eine Menge Schulen, deren Erziehungsideal es ist, die Menschen zur Gottähnlichkeit zu bringen. Früher war das überhaupt der Inbegriff aller Religionserziehung. Wir können nur mit Schaudern feststellen, was daraus geworden ist, und verstehen, daß wir uns schon um ein tragfähigeres Ideal umsehen müssen. Es ist aber begreiflich, daß diese Neigung so stark im Menschen wurzelt. Abgesehen von psychologischen Gründen spielt hier auch der Umstand eine große Rolle, daß ein großer Teil der Menschheit nahezu seine ersten Erkenntnisse über das Wesen des Menschen aus jenen Worten der Bibel schöpft, die erklären, daß der Mensch nach dem »Ebenbild Gottes« geschaffen sei, was bedeutsame, oft folgenschwere Eindrücke in der kindlichen Seele hinterläßt. Die Bibel ist natürlich ein herrliches Werk, das man, sobald man zum Verständnis herangereift ist, immer mit Bewunderung lesen wird. Will man aber damit auch bei Kindern beginnen, so muß man ihnen dabei wenigstens einen Kommentar geben, damit sie lernen, sich zu bescheiden, sich nicht allerlei Zauberkräfte zuzumuten und zu verlangen, daß ihnen alles untenan werde, angeblich, weil sie nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wären.

Nahe verwandt und sehr häufig anzutreffen ist das Ideal vom Schlaraffenland, wo alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die Kinder rechnen wohl fast nie mit der Wirklichkeit solcher Märchenbilder. Wenn man aber an das ungeheure Interesse der Kinder für Zauberei denkt, dann steht es außer Zweifel, daß sie zumindest verlockt werden, in dieser Richtung nachzugrübeln und sich da zu vertiefen. Die Idee des Zauberns und der zauberhaften Einflußnahme auf den andern ist bei den Menschen sehr stark vertreten und verläßt sie oft bis in das höchste Alter nicht. In einem Punkt ist vielleicht noch kein Mensch von ähnlichen Gedanken frei. Das sind die Erwägungen und Empfindungen über einen zauberhaften Einfluß, den das weibliche Geschlecht auf den Mann ausübt. Man kann noch genug Menschen finden, die sich so gebärden, als ob sie Zauberkräften ihres Geschlechtspartners ausgesetzt wären. Bei diesem Gedanken kommt uns die Erinnerung an eine Zeit, wo dieser Glaube noch viel mehr verbreitet war, wo ein Weib aus den banalsten Anlässen in die Gefahr kommen konnte, als Zauberin oder Hexe angesehen zu werden, was wie ein Alpdruck auf ganz Europa lastete und teilweise seine Geschicke bestimmte. Denn wenn man bedenkt, daß eine Million Frauen diesem Wahn zum Opfer gefallen ist, dann kann man nicht einfach nur von belanglosen Verirrungen sprechen, sondern sie höchstens mit den Inquisitionsprozessen oder mit dem Weltkrieg vergleichen. Auf den Spuren des Gottähnlichkeitsstrebens begegnet man auch der Erscheinung, daß jemand die Befriedigung religiöser Bedürfnisse in mißbräuchlicher Weise dadurch sucht, daß er darin nur Erfüllung seiner Eitelkeit sucht. Man bedenke, wie bedeutsam es z. B. besonders für einen seelisch zusammengebrochenen Menschen sein kann, wenn er sich über alle andern hinweg mit seinem Gott verbindet und mit ihm Zwiesprache hält, wie er sich in der Lage fühlt, durch fromme Handlungen und Gebete den Willen desselben in Bahnen zu lenken, die er selbst benötigt, wie er mit ihm auf Du und Du verkehren kann und sich auf diese Weise ganz in Gottes Nähe gerückt fühlt. Manchmal liegen solche Erscheinungen weitab von dem, was man echte Religiosität nennen könnte, so daß sie schon einen krankhaften Eindruck machen. So, wenn einer z. B. erzählt, daß er nicht einschlafen könne, wenn er vorher nicht irgendwelche Gebete gesprochen habe; denn wenn er das nicht täte, könnte es geschehen, daß irgendeinem Menschen in der Ferne ein Unglück widerfahre. Man versteht das Ganze als Schaumschlägerei erst, wenn man eine solche Mitteilung negativ faßt und sie so versteht: Wenn ich diese Formel spreche, dann kann ihm nichts geschehen. Das sind Wege, auf denen einer leicht zur Empfindung eigener Zaubergröße gelangen kann. Denn diesem Menschen ist es in der Tat gelungen, ein Unglück für den andern bis zur angegebenen Stunde zu verhindern! Auch in den Tagesphantasien solcher Menschen kann man finden, daß sie weit über alles menschliche Maß hinausschweifen. Es enthüllen sich uns da leere Griffe, Tätigkeiten, die am wirklichen Wesen der Dinge nichts zu ändern vermögen, nur in der Einbildung etwas ausmachen und ihren Träger verhindern, sich mit der Wirklichkeit zu befreunden.

In unserer Kultur spielt nun eine Sache eine Rolle, die man allerdings manchmal als zaubergewaltig empfinden könnte. Das ist das Geld. Viele meinen, daß man mit Geld alles machen kann, und da ist es nicht zu verwundern, wenn sich Ehrgeiz und Eitelkeit in irgendeiner Weise auch mit Geld und Eigentum beschäftigen. So ist jenes restlose Streben nach Besitz zu verstehen, daß man fast meinen könnte, es sei pathologisch oder rassenmäßig begründet. Es ist aber auch diese Erscheinung nichts als Eitelkeit, die bewirkt, daß einer immer mehr zusammenraffen will, um auch von dieser Zauberkraft etwas in der Hand zu haben und sich dadurch erhaben zu fühlen. Einer dieser sehr reichen Menschen, der, obwohl er eigentlich schon genug haben sollte, immer mehr dem Geld nachjagte, gestand nach anfänglicher Verwirrung schließlich: »Ja, wissen Sie, das ist eben die Macht, die einen immer wieder von neuem anzieht.« Dieser Mann hat es gewußt, aber viele dürften es nicht wissen. Der Besitz von Macht ist heute so sehr mit Geld und Eigentum verknüpft, das Streben nach Reichtum und Besitz erscheint vielen so natürlich, daß man es gar nicht mehr merkt, wie so viele, die dem Geld nachjagen, von nichts anderem als von ihrer Eitelkeit getrieben werden.

Zum Schluß sei noch ein Fall berichtet, der uns alle Einzelheiten noch einmal zeigen kann und uns gleichzeitig dem Verständnis einer anderen Erscheinung, bei der die Eitelkeit eine große Rolle spielt, näher bringt, das ist der Zustand der Verwahrlosung. Es handelt sich dabei um ein Geschwisterpaar, von dem der jüngere Bruder als unfähig galt, während die ältere Schwester im Ruf äußerster Tüchtigkeit stand. Als der Bruder die Konkurrenz mit ihr nicht mehr bestehen konnte, gab er das Rennen auf. Er war von Anfang an immer zurückgesetzt worden, und obwohl man jetzt versuchte, ihm die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, so lag doch auf ihm noch immer eine große Last, die für ihn die scheinbare Erkenntnis bedeutete, unfähig zu sein. Man hatte ihm nämlich von Kindheit an beigebracht, daß seine Schwester die Schwierigkeiten des Lebens immer werde leichter überwinden können, während er selbst nur für die geringeren Dinge der Welt bestimmt sei. So hatte man ihm durch eine günstigere Position der Schwester eine Unzulänglichkeit vorgetäuscht, die in keiner Weise zutraf. Mit dieser großen Last kam er in die Schule, machte dort den Lauf eines pessimistisch gerichteten Kindes durch, das ein Bekenntnis seiner Unfähigkeit um jeden Preis zu vermeiden sucht. Mit zunehmendem Alter wuchs auch die Sehnsucht, nicht mehr den dummen Jungen abgeben zu müssen, sondern wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Er brachte es schon mit 14 Jahren dahin, daß er öfters an der Gesellschaft von Erwachsenen teilnahm. Das tiefe Minderwertigkeitsgefühl war für ihn ein ewiger Stachel, der ihn fortwährend dazu trieb, nachzusinnen, wie er schon jetzt den großen Herrn spielen könnte. Da führte ihn eines Tages sein Weg in den Kreis der Prostitution, wo er seitdem verblieb. Da nun damit Geldausgaben verbunden waren, seine Großmannssucht aber nicht duldete, vom Vater Geld zu verlangen, kam er dazu, die Gelegenheit auszukundschaften, ihm das Geld zu entwenden. Diese Diebstähle schmerzten ihn durchaus nicht, er kam sich dabei, wie er erzählte, wie ein großer Mann vor, der die Verfügung über die Kasse des Vaters erhalten hat. Das ging so fort, bis er einmal in der Schule von einer schweren Niederlage bedroht war. Durchzufallen wäre für ihn ein Beweis seiner Unfähigkeit gewesen, den er auf keinen Fall zulassen durfte. Da traten bei ihm folgende Erscheinungen auf. Er bekam plötzlich Gewissensbisse, die ihn schließlich so sehr bedrängten, daß sie ihn völlig am Studium hinderten. Dadurch hatte sich für ihn die Situation gebessert. Denn falls er jetzt durchfallen sollte, hatte er für sich und vor den anderen die Entschuldigung, er sei durch seine Gewissensbisse derart gefoltert worden, daß jeder andere in einer solchen Lage auch durchgefallen wäre. Beim Studium hinderte ihn noch eine hochgradige Zerstreutheit, die ihn zwang, fortwährend an andere Dinge zu denken. So verrann die Tageszeit, es wurde Nacht, und er ging ermüdet schlafen mit dem Bewußtsein, er habe studieren wollen, in Wirklichkeit aber war er einer, der sich um seine Aufgaben gar nicht gekümmert hatte. Auch was weiter folgte, half ihm, seine Rolle durchzuführen. Er mußte zeitig aufstehen, so daß er den ganzen Tag über schläfrig und müde war und schließlich überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr aufbringen konnte. Von so einem Menschen könne man, wie er dachte, doch nicht verlangen, er solle mit der tüchtigeren Schwester konkurrieren. Nicht seine Unfähigkeit war daran schuld, sondern die fatalen Begleitumstände, seine Reue, seine Gewissensbisse, die ihm keine Ruhe ließen. So war er eigentlich für alles gerüstet und gegen alle Seiten geschützt, es konnte ihm nichts geschehen. Fiel er durch, so hatte er mildernde Umstände, und niemand durfte behaupten, daß er unfähig sei. Kam er aber durch, so war das nur ein Beweis für die Tüchtigkeit, die man ihm nicht zuerkennen wollte.

Zu solchen Sprüngen verleitet den Menschen die Eitelkeit. Man sieht an diesem Fall, wie der Mensch so weit gelangen kann, daß er in die Gefahr kommt, der Verwahrlosung anheimzufallen, nur um der Aufdeckung einer vermeintlichen, gar nicht bestehenden Unfähigkeit auszuweichen. Derartige Verwicklungen und Abwege tragen Ehrgeiz und Eitelkeit in das Leben des Menschen hinein, rauben ihm seine Unbefangenheit und bringen ihn um die wahren menschlichen Genüsse, um Lebensfreude und Glückseligkeit. Sieht man näher zu, dann steckt nichts anderes dahinter als ein banaler Irrtum.


 © textlog.de 2004 • 21.11.2024 20:34:00 •
Seite zuletzt aktualisiert: 20.12.2009 
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