a) Melancholie


Haltung und Lebensplan der zur Melancholie Disponierten, Ausbruch der Erkrankung und Kampf gegen die Umgebung. Gewinnung des Nebenkriegsschauplatzes aus Furcht vor herabsetzenden Entscheidungen.

1. Die Melancholie befällt Individuen, deren Lebensmethode vorwiegend mit den Leistungen und Unterstützungen anderer Personen schon seit der frühen Kindheit an rechnet. In ihrem Leben überwiegen leicht erworbene Triumphleistungen von geringerer Aktivität und solche unmännlicher Natur. Sie zeigen sich meist auf den Familienkreis oder auf einen kleinen ständigen Freundeskreis in ihrem Verkehr eingeschränkt, suchen immer Anlehnung an andere und verschmähen es nicht, durch übertriebene Hinweise auf die eigene Unzulänglichkeit die Unterstützung, Anpassung und Fügsamkeit anderer zu erzwingen. Wo sie die Macht besitzen, gebrauchen sie sie schrankenlos, oft in Verbrämung mit ethischen Forderungen. Daß ihr oft schrankenloser Egoismus ihnen in unserer Zeit schrankenloser Plusmacherei zuweilen äußere rasche Erfolge bringt, spricht nicht dagegen. Der Hauptfrage ihres eigenen Lebens aber, dem Fortschreiten der Entwicklung oder auch nur dem Festhalten ihres eigenen Wirkungskreises weichen sie bei auftauchenden Schwierigkeiten aus oder nähern sich ihnen nur zögernd. Der Typus der Manisch-Depressiven dagegen dürfte ganz allgemein dadurch gekennzeichnet sein, daß er jede Aktion enthusiastisch beginnt, um bald nachher gewaltig abzuflauen. Dieser charakteristische Rhythmus, der auch den Bewegungen und Haltungen der gesunden Tage eigen ist, wird im Zeitpunkt der Erkrankung anläßlich einer Niederlage unter Berufung auf die Wahnidee und durch demonstrative und zweckentsprechende Ausgestaltung derselben verstärkt und befestigt. Zwischen diesen beiden Formen steht die periodische Melancholie, deren Ausbruch regelmäßig erfolgt, sobald der wankende Glaube des Patienten an seinen Erfolg einen Ruf des Lebens (Ehe, Beruf, Gesellschaft) abzuwehren zwingt.

2. Die gesamte Lebensführung des »Typus melancholicus« läßt als Voraussetzung und wichtigsten Anhaltspunkt eine fiktive, aber durchdringende Anschauung — eine melancholische Perspektive, dem kindlichen Seelenleben entstammend — erkennen, nach welcher das Leben ein schwieriges, ungeheures Wagnis vorstellt, die überwiegende Mehrzahl der Menschen aber aus feindlichen Individuen und die Welt aus unbequemen Hindernissen besteht. Wir erkennen in dieser dem Gemeinschaftsgefühl und der Kooperation zuwiderlaufenden Haltung ein verstärktes Minderwertigkeitsgefühl und einen jener Kunstgriffe, wie wir sie als Grundlage des nervösen Charakters beschrieben haben; mit ihren eigenartigen, zu Charakterzügen, Affekten, Bereitschaften und Fertigkeiten (Weinen!) umgebildeten Angriffstendenzen fühlen sie sich den Forderungen des Lebens besser gewachsen und suchen sich in »gesunden Tagen« in einem kleinen Kreis zur Geltung zu bringen, wo eine Reihe von Erfolgen im Beginne ihnen verstärkte Sicherheit gibt. Indem sie ihr subjektives Minderwertigkeitsgefühl konkretisieren, erheben sie offen oder unausgesprochen seit ihrer Kindheit den Anspruch auf eine erhöhte »Krüppelfürsorge«, Unterwerfung und Hingabe der anderen.

3. Ihre Selbsteinschätzung ist demnach seit der Kindheit eine deutlich niedrige, was aus ihren unausgesetzten Versuchen, zur höchsten Geltung zu kommen, zu folgern ist; immerhin deuten sie häufig — und diese meist versteckten Hinweise kennzeichnen die seelische Verwandtschaft mit der Paranoia — auf die versäumte Möglichkeit einer außerordentlichen Entwicklung hin, meist auf familiäre Übelstände, oder sie verraten in ihrer melancholischen Wahnidee eine unerschütterliche Voraussetzung von übermenschlichen, ja göttlichen Kräften. Dies und nichts anderes nämlich liegt solchen Klagen zugrunde, in denen der Kranke in einer versteckten Größenidee das schreckliche Schicksal beklagt, das zugleich mit seinem Ende über seine Familie etwa hereinbrechen werde, oder wenn er seine Schuld an dem Untergang der Welt, an der Entfesselung des Weltkrieges, am Tod und Verderben anderer Personen unter Selbstvorwürfen hervorhebt. Nicht selten auch liegt in der forcierten Klage über die eigene Unfähigkeit ein drohender Hinweis auf ganz reale, materielle oder moralische Gefahren für den Familien- und Freundeskreis und zugleich eine nicht stärker zu denkende Hervorhebung der persönlichen Bedeutung des Kranken. Solcher Art sind die Ziele des Melancholikers und zu solchen Zwecken bezichtigen sie sich offen aller Formen der Minderwertigkeit und nehmen demonstrativ die Schuld für alle Fehlschlage und Mißerfolge auf sich. Der Erfolg ihres Verhaltens ist dann zum mindesten der, daß sie weitaus mehr als bisher in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit ihres eingeschränkten Kreises rücken und daß sie die ihnen verpflichteten Personen zu den größten Leistungen, zu den namhaftesten Opfern und zum weitgehendsten Entgegenkommen anspornen. Dagegen hat sich ihr Wille von jeder kleinsten sozialen Verpflichtung und Gebundenheit befreit, was ihrem egozentrischen leitenden Ideal immer am besten entsprach, weil dieses jede Einfügung und Bindung an den anderen und dessen Rechte als einen unerträglichen Zwang und als schweren Verlust des persönlichen Wertes empfinden ließ.

Neben den Selbstvorwürfen und Selbstbeschuldigungen fehlen aber nie die heimlichen Hinweise auf Heredität, auf Erziehungsfehler der Eltern, auf böswillige Rücksichtslosigkeit von Angehörigen oder Vorgesetzten; nur daß sich diese Anschuldigung anderer — abermals ein der Paranoia verwandtes Phänomen — aus der einleitenden Position des Melancholischen ergibt. So z. B. wenn sich der Ausbruch der Melancholie bei einer jüngsten Tochter ergibt, nachdem sich die Mutter entschlossen hat, mit der ältesten Tochter auf längere Zeit zu verreisen, oder wenn die Erkrankung bei einem Geschäftsmann entsteht, der mehrfach durch seine Kompagnons überstimmt, zur Erledigung der gegen seinen Willen gefaßten Entschlüsse gedrängt wird.

Hinweise auf die obigen Mängel, auf Heredität, körperliche Anomalien usw., dienen andererseits auch der Feststellung, daß es sich um eine unabänderliche, unheilbare Erkrankung handelt, was den Kurswert des Leidens beträchtlich erhöht.

So dient die Melancholie, wie jede Neurose und Psychose, dem Bestreben, den gesellschaftlichen Wert des Eigenwillens und der Persönlichkeit, zum mindesten für die eigene Empfindung nahmhaft zu erhöhen. Ihre forcierte Eigenart gestaltet sich unter dem Drucke einer tief gefühlten Unzufriedenheit und eines objektiv unberechtigten Minderwertigkeitsgefühls bei Personen, deren Kindheitstypus eingangs geschildert wurde. Daß sie die uns unglaublich erscheinenden Kosten einer immerhin konsequenten Haltung in schwierigen Positionen ihres Lebens zahlen, lehrt vor allem der Augenschein und ist in der übergroßen Spannung begründet, in der sie zum Leben stehen. Ihr empfindlicher Ehrgeiz, der sie mit heimlichem Zagen nach aufdringlicher Überlegenheit jagen läßt, zwingt sie gleichzeitig zur Desertion oder zur Zaghaftigkeit vor größeren gesellschaftlichen Aufgaben. So gelangen sie durch systematische Selbstbeschränkung auf ein Nebengeleis, in einen streng abgezirkelten Kreis von Personen und Aufgaben, den sie so lange pflegen, bis ihnen eine schwierig scheinende Veränderung droht. Jetzt greift die in der Kindheit aufgebaute, niemals revidierte Schablone, abermals ungeprüft, ein: sich klein zu machen, durch Schwäche und Krankheit zu wirken und allen Aufgaben zu entgehen.

4. Das hervorragendste Kampfmittel des Typus melancholicus behufs Hebung der Position ist seit früher Kindheit: Klage, Tränen und traurige Verstimmung. Er demonstriert in quälendster Weise seine Schwäche und die Notwendigkeit seines jeweiligen Begehrens, um andere zu Dienstleistungen zu zwingen oder zu verleihen.

5. Sie gewinnen ferner auf ihre Art den Anschein und die Überzeugung der Unverantwortlichkeit für ihre Mißerfolge im Leben, weil sie immer ihre unabänderliche Schwäche und den Mangel einer Hilfe von außen hervorheben. Die seelische Verwandtschaft mit dem Typus der Phobiker und Hypochonder ist nicht zu verkennen; nur daß im Falle der Melancholie zum Zwecke des stärkeren Angriffs und aus Gründen des umfassenderen Minderwertigkeitsgefühls die Krankheitseinsicht schwindet und jede Kritik der Wahnidee ausgeschaltet wird: mittels einer starken Antizipation eines unentrinnbaren Unheils und einer entschlossenen Einfühlung in die drohende Gefahr. Der kategorische Imperativ des Melancholischen lautet demnach: »Handle, denke und fühle so, als ob das schreckliche Schicksal, das du an die Wand malst, bereits über dich hereingebrochen oder unabwendbar wäre.« Dabei als Hauptvoraussetzung des melancholischen Wahnes: sein der Gottheit verwandter, prophetischer Blick.

Im weiteren Verfolg dieser Erkenntnis wird auch, gemessen am gemeinsamen Band der pessimistischen Perspektive, der Zusammenhang mit der Neurose und Psychose überhaupt klar. Etwa, um einfache Beispiele zu wählen: Enuresis nocturna: »Handle so, als ob du am Klosett wärst!« Pavor nocturnus: »Benimm dich wie in einer großen Gefahr!« Sogenannte neurasthenische und hysterische Sensationen, Schwächezustände, Lähmungen, Schwindel, Übelkeiten usw.: »Denke dir, du hättest einen Reifen um den Kopf — du hättest etwas im Halse stecken, wärest einer Ohnmacht nahe — du könntest nicht gehen — daß sich alles dreht — du hättest eine üble Speise genossen« usw.

Immer handelt es sich um die Wirkung auf die Umgebung. So auch, wie ich seit langem hervorgehoben habe, bei der »Epilepsie«, bei der vielleicht immer in pantomimischer Weise der Tod, ohnmächtige Wut, Vergiftungs­erscheinungen, ein Sichwehren und Unterliegen zur Darstellung gelangt. Das Material der Darbietung ergibt sich aus den Möglichkeiten des Organismus, die sich oft aus angeborenen Minderwertigkeitserscheinungen herleiten (siehe Studie über Minderwertigkeit der Organe, l. c), und sie fangen an eine Rolle zu spielen, sobald sie die höheren Ziele des Nervösen zu fördern imstande sind und durch sie gefördert werden.2) In jedem Falle aber bedeutet das Symptom oder der Anfall des Patienten, daß er der Gegenwart (durch Antizipation) und der Wirklichkeit (durch Einfühlung in eine Rolle) entrückt ist. Am stärksten äußert sich der Erfolg der Entrückung wohl bei der Epilepsie. Ein häufig vorzufindender Typus solcher Kranken erweist sich als jüngstes Kind (zuweilen gefolgt von einem Spätgeborenen) und zeigt asymmetrische Verschiebung der rechten Gesichtshälfte nach unten, Vergrößerung des rechten Scheitelbeinhöckers und Spuren von Linkshändigkeit. Zornausbrüche bei einem der Eltern habe ich auffallend häufig gefunden.

Die Psychose zeigt, entsprechend der abschließenderen Haltung des Patienten, der im Begriffe ist, jedes loyale Streben aufzugeben, die stärkere Entrückung, die weitergehende Entwertung und Vergewaltigung der Wirklichkeit.

6. So sind es auch in der Psychose wie in der Neurose neue oder schwierig scheinende Situationen, Entscheidungen im Beruf, in der Liebe, Prüfungen aller Art, in denen sich zu Zwecken der Ausreißerei oder des Zögerns wie in einem komplizierten Lampenfieber der verstärkte Hinweis auf die Unabänderlichkeit von Schwächen und auf ein trauriges Schicksal als nötig erweist. Dabei muß der Untersucher sorgfältig vermeiden, seinen eigenen Eindruck von der ganzen Schwierigkeit der Situation in die Rechnung zu stellen. Denn was den Melancholiker bei seinen Befürchtungen leitet, was seine Wahnidee »unkorrigierbar« macht, ist nicht der Mangel an Intelligenz oder Logik, sondern die Unlust, die planmäßige Abneigung, diese Logik anzuwenden. Der Patient denkt, fühlt und handelt »sogar« unlogisch, wenn er nur auf diesem Wege mit dem Mittel des Wahns seinem Ziele näher kommt, wenn er sein Persönlichkeitsgefühl erhöhen kann. Wer an seinem Wahn zu rütteln sucht, erscheint ihm folgerichtig als sein Gegner, und so empfindet er auch die ärztlichen Maßnahmen und Persuasionsversuche als gegen seine Position gerichtet und handelt demgemäß intelligent.

7. Es ist die dem melancholischen Typus eigentümliche Linie, daß er in Fortsetzung alter, ausgebauter Bereitschaften zu einem Krankheitsbild gelangt, das durch den geoffenbarten, verstärkten Hinweis auf die eigene Schwäche den Zwang zu ununterbrochener, aber nutzloser Hilfeleistung und Berücksichtigung auf die Umgebung erstreckt. Die Nutzlosigkeit jeder von außen kommenden Beruhigung bei Ausbruch der Melancholie liegt gleichfalls nicht in einem Mangel ihrer Folgerichtigkeit, sondern ergibt sich aus der unbeugbaren Absicht des Kranken, die Erschütterung seiner Umgebung bis zum stärksten Maß zu steigern, alle Beteiligten einzuklemmen und ihnen jede Aussicht zu nehmen. Eine Heilung erfolgt nach Maßgabe des dem Patienten verbliebenen Lebensmutes in dem Zeitpunkt, in welchem der Patient die Genugtuung seiner Überlegenheit voll genossen hat und ermutigt ist;3) der taktvolle Hinweis auf die wirklichen Zusammenhänge, fern von jeder Überlegenheitspose und von Rechthaberei hat sich in meinen Fällen als günstig erwiesen. Die Voraussage des Abschlusses eines melancholischen Arrangements ist sicherlich nicht leichter als die von der Beendigung der Tränen bei einem Kinde oder tiefgefühlter Wut und Rachsucht. Rettungslose Positionen, besonderer Mangel an Lebensmut in der Vorgeschichte, Provokationen und zur Schau getragene Respektlosigkeit der Umgebung können die Selbstmordabsicht als äußersten Racheakt einer ständig gegen die eigene Person gerichteten Aktivität hevorrufen. Daß auch das Alter die Chancen auf Ermutigung verringert, versteht sich leider von selbst.

Die Furcht vor einem Mißerfolg, die Angst, dem sozialen Wettbewerb oder den Erwartungen der Gesellschaft, der Familie nicht oder nicht mehr gewachsen zu sein, drängt diesen Typus im Falle subjektiv gefühlter Not zu dem Mittel der Antizipation des Verlorenseins. Die aus dieser Einfühlung erwachsende melancholische Perspektive, die aus ihren tendenziösen Ergebnissen im Wachen und im Traume sich immer aufs neue vertieft, gibt in ihren Wirkungen auf den Gesamtorganismus und in ihrer Anspannung den ständigen Anreiz ab für eine verschlechterte Funktion der Organe. In vorsichtiger Weise kann demnach die Funktion der Organe, körperliche Haltung, Gewichtszunahme, Schlaf, Muskelkraft, Herztätigkeit, Darm­erscheinungen usw. prognostisch verwertet werden. Gegen die ätiologische Deutung der Abderhaldenschen Befunde bei den Psychosen streitet der psychologische Zusammenhang; im Zusammenhang mit unseren Anschau­ungen müßten sie sich als freilich weiter wirkende Folgeerscheinungen oder als in der Psychose gesteigerte Symptome von angeborenen Organ­minderwertigkeiten herausstellen. Von den Organminderwertigkeiten haben wir unter anderem bekanntlich hervorgehoben, daß sie in ihrem Endergebnis eine wichtige Grundlage des ätiologisch bedeutungsvollen kindlichen Minderwertigkeitsgefühls bilden können.4)

8. Die Organe geraten also, soweit sie zugänglich sind, unter die Macht des melancholischen Zieles, passen ihre Funktion der Gesamtrolle an und helfen so, das Bild der klinischen Melancholie herzustellen (Herz, Körperhaltung, Appetit, Schlaf, Stuhl- und Harntätigkeit, Gedankenablauf). Sie werden, soweit sie willkürlichen Antrieben und dem vegetativen System gehorchen, in die melancholische Stimmung versetzt. Oder die Funktion bleibt annähernd normal, wird aber vom Kranken als fehlerhaft empfunden und beklagt. Zuweilen wird auch durch ein deutlich unzweckmäßiges Verhalten eine Störung oder ein Reizzustand vom Kranken hervorgerufen (durch Schlafstörung, durch übermäßige Provokation der Stuhl- und Harntätigkeit).

9. In letzterem Falle wie auch bezüglich der Nahrungsaufnahme zeigt der Patient oft eine Reihe von störenden Selbstbeeinflussungen, die ohne genügende Selbstkritik, aber systematisch und planmäßig erfolgen. Diese Erscheinungen sowie des Patienten überspannte Forderungen an das Funktionieren seines Organismus, ferner seine unrichtige Einschätzung einer fiktiven Norm, die er angeblich entbehrt, lassen die Absicht erkennen, eine ernste Krankheitslegitimation allen sichtbar zu erbringen.

10. Die Nahrungsaufnahme wird durch Erweckung ekelerregender Gedanken oder ängstlichen Argwohns (Gift) eingeschränkt, steht überdies wie alle anderen Funktionen unter dem Drucke der tendenziösen melancholischen Einfühlung (»als ob alles nichts tauge, alles zum Schlechten ausgehen müsse«), der Schlaf wird durch erzwungenes Grübeln und durch Gedanken über den ausbleibenden Schlaf sowie durch sichtlich zweckwidrige Mittel gestört. Die Stuhl- und Harnfunktion kann durch konträre Beeinflussung oder durch fortwährende Beanspruchung ins Krankhafte verändert werden, letzterenfalls durch Erzeugung eines Reizzustandes im zugehörigen Organ. Herztätigkeit, Atmung und Haltung der erkrankten Persönlichkeit geraten ebenso wie etwa gelegentlich die Tränendrüsen unter den Druck der melancholischen Fiktion, die zu einer restlosen Einfühlung in eine Situation der Verzweiflung hindrängt.

11. Der nähere Einblick, der einzig und allein durch eine individualpsychologische Zusammenhangsbetrachtung ermöglicht wird, ergibt, daß die melancholische Haltung als ein Zustandsbild und gleichzeitig als ein Kampfmittel bei den oben charakterisierten Personen in einer derartigen Lage (Position) auftreten kann, in denen wir andernfalls eine zornige, vielleicht wütende, rachsüchtige Aufwallung erwarten würden.5) Der frühzeitig erworbene Mangel an sozialer Aktivität bedingt jene eigenartige Angriffshaltung, die einem Selbstmord nicht unähnlich durch Schädigung der eigenen Person zu einer Bedrohung der Umgebung oder zur Rache schreitet.

Im gelegentlichen Raptus melancholicus oder im Selbstmord, der immer einen Racheakt vorstellt, bricht auch der zu erwartende Affekt sichtlich durch.

12. Niemals aber fehlt — als Voraussetzung ihres Handelns — der verborgene Hinweis auf die Bedeutung der eigenen Person, wie sie bereits in der Forderung nach Unterordnung des anderen, in dem Anspruch auf den anderen als auf ein Mittel zutage liegt.6) Da auch der Hinweis auf die fremde Schuld (siehe oben) niemals ausbleibt, so ist durch die melancholische Haltung die fiktive Überlegenheit und Unverantwortlichkeit des Kranken gewährleistet. Durch Verstärkung der letzteren Züge (Hinweis auf die fremde Schuld) gelangen paranoische Nuancen in der Melancholie zum Durchbruch.

13. Da dem Melancholiker der Nebenmensch immer nur Mittel zum Zweck der Erhöhung des eigenen Persönlichkeitsgefühls ist (wozu ihm außerhalb der Krankheit wohl auch die Gebärde der Freundschaft und Fürsorglichkeit zur Verfügung steht), kennt er keine Grenzen in der Erstreckung seines Zwanges über den andern, raubt ihm alle Hoffnung und geht bis zum Selbstmord oder zu Selbstmordgedanken, falls er seine Endabsicht auf Enthebung von fremden Forderungen verloren geben muß, oder wenn er unüberwindlichen Widerstand findet.

14. So ist der Ausbruch der Melancholie recht eigentlich die ideale Situation für diesen Typus, sobald Schwierigkeiten seine Position bedrohen. Die Frage, warum er trotzdem seinen Zustand nicht mit Behagen genießt, wäre müßig: Das Kampfmittel der Melancholie läßt keine gegenteilige Stimmung aufkommen, und da der Patient auf Erfolg arbeitet, ist kein Platz für frohlockende Gefühle vorhanden, die seiner zwingenden Haltung von Depression hinderlich wären.

15. Die Melancholie klingt ab, sobald der Patient in irgendeiner Art das fiktive Gefühl seiner wiedergewonnenen Überlegenheit und die Deckung gegenüber eventuellen Mißerfolgen durch die Krankheitslegitimation erlangt hat.

16. Die Haltung von Menschen, die der Melancholie verfallen können, ist von Kindheit an eine mißtrauische und verurteilend kritische gegenüber der Gesellschaft. Auch in dieser Haltung läßt sich als Voraussetzung ein Gefühl der Minderwertigkeit samt Kompensation, ein vorsichtiges Suchen nach Überlegenheit trotz aller andersartigen eigenen Behauptungen erkennen.

 

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2) Die Spannung, in die der Neurotiker im Gefühl einer Niederlage gerät, ergreift wohl meist den ganzen Körper, wird aber als Symptom am minderwertigen Organ am deutlichsten.

3) Siehe Adler, ›Fortschritte der Individualpsychologie‹. In: Internat. Zeitschr. f. Individualpsych., II. Jahrg., Heft 1 und 3.

4) Die Kretschmersche Einteilung in Pykniker und Astheniker rechnet mit den gleichen Tatsachen, aus denen dem Pykniker die leichteren, dem Astheniker die schwereren Organminderwertigkeiten zuzuschreiben sind. Dem letzteren die schwereren, weil ihm offenbar unsere Kultur weniger leicht annehmbar ist.

5) Ob man überhaupt von einer »Verdrängung« sprechen kann, ist sehr zu bezweifeln.

6) Es ist immer schwer, die ärztliche Diskussion mit einem Melancholiker abzubrechen.


 © textlog.de 2004 • 03.03.2025 23:00:05 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.12.2009 
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