6. Der Minderwertigkeitskomplex


Ich habe vor langer Zeit hervorgehoben, daß Mensch sein heißt: sich minderwertig fühlen. Vielleicht kann sich nicht jeder dessen entsinnen. Mag sein auch, daß sich manche durch diesen Ausdruck abgestoßen fühlen und lieber einen anderen Namen wählen würden. Ich habe nichts dagegen, um so weniger, als ich sehe, daß verschiedene Autoren es bereits getan haben. Superkluge kalkulierten, um mich ins Unrecht zu setzen, daß das Kind, um zu einem Gefühl der Minderwertigkeit zu kommen, eine Vollwertigkeit bereits empfunden haben müßte. Das Gefühl der Unzulänglichkeit ist ein positives Leiden und währt mindestens so lange, als eine Aufgabe, ein Bedürfnis, eine Spannung nicht gelöst ist. Es ist offenbar ein von Natur aus gegebenes und ermöglichtes Gefühl, einer schmerzlichen Spannung vergleichbar, die nach Lösung verlangt. Diese Lösung muß durchaus nicht lustvoll sein, wie etwa Freud annimmt, kann aber von Lustgefühlen begleitet sein, was der Auffassung Nietzsches entsprechen würde. Unter Umständen kann die Lösung dieser Spannung auch mit dauerndem oder vorübergehendem Leid, mit Schmerz verbunden sein, wie etwa die Trennung von einem untreuen Freund oder eine schmerzhafte Operation. Auch ein Ende mit Schrecken, allgemein einem Schrecken ohne Ende vorgezogen, kann nur durch Rabulistik als Lust gewertet werden.

So wie der Säugling in seinen Bewegungen das Gefühl seiner Unzulänglichkeit verrät, das unausgesetzte Streben nach Vervollkommnung und nach Lösung der Lebensanforderungen, so ist die geschichtliche Bewegung der Menschheit als die Geschichte des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Lösungsversuche anzusehen. Einmal in Bewegung gesetzt, war die lebende Materie stets darauf aus, von einer Minussituation in eine Plussituation zu gelangen. Diese Bewegung, die ich bereits im Jahre 1907 in der bereits zitierten »Studie über Minderwertigkeit der Organe« geschildert habe, ist es, die wir im Begriffe der Evolution erfassen. Diese Bewegung, die durchaus nicht als zum Tode führend angesehen werden darf, ist vielmehr darauf gerichtet, zur Bewältigung der äußeren Welt zu gelangen, keineswegs zu einem Ausgleich, nicht zu einem Ruhezustand. Wenn Freud behauptet, daß der Tod die Menschen anzieht, so daß sie ihn im Traum oder auch sonstwie herbeisehnen, so wäre dies sogar in seiner Auffassung eine voreilige Antizipation. Dagegen kann nicht daran gezweifelt werden, daß es Menschen gibt, die den Tod einem Ringen mit den äußeren Umständen vorziehen, weil sie in ihrer Eitelkeit allzusehr die Niederlage fürchten. Es sind die Menschen, die sich stets nach Verwöhnung sehnen, nach persönlichen Erleichterungen, die durch andere bewerkstelligt sein sollen.

Der menschliche Körper ist nachweisbar nach dem Prinzip der Sicherung aufgebaut. Meltzer hat in »The Harvard Lectures« im Jahre 1906 und 1907, also ungefähr um dieselbe Zeit, wie ich in der oben zitierten Studie, nur gründlicher und umfassender, auf dieses Prinzip der Sicherung hingewiesen. Für ein geschädigtes Organ tritt ein anderes ein, ein geschädigtes Organ erzeugt aus sich heraus eine ergänzende Kraft. Alle Organe können mehr leisten, als sie bei normaler Beanspruchung leisten müßten, ein Organ genügt oft mehrfachen, lebenswichtigen Funktionen usw. Das Leben, dem das Gesetz der Selbsterhaltung vorgeschrieben ist, hat auch die Kraft und Fähigkeit dazu aus seiner biologischen Entwicklung gewonnen. Die Abspaltung in Kinder und in jüngere Generationen ist nur ein Teil dieser Lebenssicherung.

Aber auch die stets steigende Kultur, die uns umgibt, weist auf diese Sicherungstendenz hin und zeigt den Menschen in einer dauernden Stimmungslage des Minderwertigkeitsgefühls, das stets unser Tun anspornt, um zu größerer Sicherheit zu gelangen. Lust oder Unlust, die dieses Streben begleiten, sind nur Hilfen und Prämien auf diesem Wege. Eine Anpassung aber an die gegebene Realität wäre nichts anderes als Ausnützung der strebenden Leistungen anderer, wie es das Weltbild des verwöhnten Kindes verlangt. Das dauernde Streben nach Sicherheit drängt zur Überwindung der gegenwärtigen Realität zugunsten einer besseren. Ohne diesen Strom der vorwärts drängenden Kultur wäre das menschliche Leben unmöglich. Der Mensch müßte dem Ansturm der Naturkräfte unterliegen, wenn er sie nicht zu seinen Gunsten verwendet hätte. Ihm fehlt alles, was stärkere Lebewesen zum Sieger über ihn gemacht hätte. Die Einflüsse des Klimas zwingen ihn, sich vor Kälte mit Stoffen zu schützen, die er besser geschützten Tieren abnimmt. Sein Organismus verlangt künstliche Behausung, künstliche Zubereitung der Speisen. Sein Leben ist nur gesichert bei Arbeitsteilung und bei genügender Vermehrung. Seine Organe und sein Geist arbeiten stets auf Überwindung, auf Sicherung. Dazu kommt seine größere Kenntnis der Gefahren des Lebens, sein Wissen vom Tode. Wer kann ernstlich daran zweifeln, daß dem von der Natur so stiefmütterlich bedachten menschlichen Individuum als Segen ein starkes Minderwertigkeitsgefühl mitgegeben ist, das nach einer Plussituation drängt, nach Sicherung, nach Überwindung? Und diese ungeheure, zwangsweise Auflehnung gegen ein haftendes Minderwertigkeits­gefühl als Grundlage der Menschheitsentwicklung wird in jedem Säugling und Kleinkind aufs neue erweckt und wiederholt.

Das Kind, wenn nicht allzusehr geschädigt wie etwa das idiotische Kind, steht bereits unter dem Zwang dieser Entwicklung nach aufwärts, der seinen Körper und seine Seele zum Wachstum antreibt. Auch ihm ist von Natur aus das Streben nach Überwindung vorgezeichnet. Seine Kleinheit, seine Schwäche, der Mangel an selbstgeschaffenen Befriedigungen, die kleineren und größeren Vernachlässigungen sind individuelle Stachel für seine Kraftentwicklung. Es schafft sich neue, vielleicht nie dagewesene Lebensformen aus dem Druck seines dürftigen Daseins. Seine Spiele, immer auf ein Ziel der Zukunft gerichtet, sind Zeichen seiner selbstschöpferischen Kraft, die man keineswegs mit bedingten Reflexen erklären kann. Es baut ständig ins Leere der Zukunft hinein, getrieben vom Zwang der Überwindungsnotwendigkeit. Vom Muß des Lebens in Bann getan, zieht es seine stets wachsende Sehnsucht zum Endziel einer Überlegenheit über die irdische Stätte, die ihm angewiesen ist, mit allen ihren unausweichlichen Forderungen. Und dieses Ziel, das es hinanzieht, gewinnt Farbe und Ton in der kleinen Umgebung, in der das Kind nach Überwindung strebt.

Ich kann hier nur kurz einer theoretischen Überlegung Raum geben, die ich als grundlegend im Jahre 1912 in meinem Buche »Über den nervösen Charakter« veröffentlicht habe. Gibt es ein solches Ziel der Überwindung, wie es durch die Evolution sichergestellt ist, dann wird für dieses Ziel der erreichte Grad der im Kinde konkret gewordenen Evolution Baumaterial für seine weitere Entwicklung. Mit anderen Worten: seine Heredität, sei sie körperlich oder seelisch, in Möglichkeiten ausgedrückt, zählt nur soweit, als sie für das Endziel verwendbar ist und verwendet wird. Was man später in der Entwicklung des Individuums findet, ist aus dem Gebrauch des hereditären Materials entstanden und dankt seine Vollendung der schöpferischen Kraft des Kindes. Auf Verlockungen dieses Materials habe ich selbst am schärfsten hingewiesen. Ich muß aber eine kausale Bedeutung dieses Materials leugnen, weil die vielgestaltige und sich stets verändernde Außenwelt eine schöpferische elastische Verwendung dieses Materials erfordert. Die Richtung auf Überwindung bleibt stets erhalten, wenngleich das Ziel der Überwindung, sobald es im Strom der Welt konkrete Gestalt angenommen hat, jedem Individuum eine andere Richtung vorschreibt.

Minderwertige Organe, Verwöhnung oder Vernachlässigung verleiten die Kinder häufig, konkrete Ziele der Überwindung aufzurichten, die mit der Wohlfahrt des einzelnen sowie mit der Höherentwicklung der Menschheit in Widerspruch stehen. Aber es gibt genug andere Fälle und Ausgänge, die uns berechtigen, nicht von Kausalität, sondern von statistischer Wahrscheinlichkeit, von einer aus Irrtum entstandenen Verleitung zu sprechen, wobei noch zu überlegen ist, daß jede Bosheit anders aussieht, daß jeder, der einer bestimmten Weltanschauung anhängt, eine andere Perspektive darin zeigt, daß jeder literarische Schmutzfink seine Eigenheiten hat, daß jeder Neurotiker sich vom andern unterscheidet, wie auch jeder Delinquent vom andern. Und gerade in dieser Andersartigkeit jedes Individuums erweist sich die Eigenschöpfung des Kindes, sein Gebrauch und die Benützung angeborener Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Das Gleiche gilt auch für die Umweltsfaktoren und für die erzieherischen Maßnahmen. Das Kind nimmt sie auf und verwendet sie zur Konkretisierung seines Lebensstils, schafft sich ein Ziel, dem es unentwegt anhängt, demgemäß es apperzipiert, denkt, fühlt und handelt. Hat man einmal die Bewegung des Individuums ins Auge gefaßt, dann kann einen keine Macht der Welt davon entheben, ein Ziel anzunehmen, dem die Bewegung zuströmt. Es gibt keine Bewegung ohne Ziel. Dieses Ziel kann nie erreicht werden. Die Ursache liegt im primitiven Verstehen des Menschen, daß er niemals der Herr der Welt sein kann, so daß er diesen Gedanken, wenn er einmal auftaucht, in die Sphäre des Wunders oder der Allmacht Gottes versetzen muß.1)

Das Minderwertigkeitsgefühl beherrscht das Seelenleben und läßt sich leicht aus dem Gefühl der Unvollkommenheit, der Unvollendung und aus dem ununterbrochenen Streben der Menschen und der Menschheit verstehen.

Jede der tausend Aufgaben des Tages, des Lebens setzt das Individuum in Angriffsbereitschaft. Jede Bewegung schreitet von Unvollendung zur Vollendung. Ich habe im Jahre 1909 im »Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«2) versucht, diese Tatsache näher zu beleuchten und kam zu dem Schluß, daß die Art dieser im Zwange der Evolution entstandenen Angriffsbereitschaft aus dem Lebensstil erwächst, ein Teil des Ganzen ist. Sie als radikal böse aufzufassen, sie aus einem angeborenen sadistischen Trieb zu erklären, dazu fehlt jeder Vorwand. Wenn man schon den trostlosen Versuch macht, ein Seelenleben auf Trieben ohne Richtung und Ziel aufzubauen, so dürfte man zumindest nicht den Zwang der Evolution vergessen, auch nicht den im Menschen evolutionär gegebenen Hang zur Gemeinschaft. Daß kritiklose Menschen aus allen Schichten diese unverstandene Erfassung des Seelenlebens verwöhnter und deshalb schwer enttäuschter Menschen, die nie genug haben, für eine grundlegende Lehre des Seelenlebens halten, kann bei der übergroßen Zahl verwöhnter und enttäuschter Menschen nicht wundernehmen.

Die Einordnung des Kindes in seinen ersten Umgebungskreis ist demnach sein erster schöpferischer Akt, zu dem es unter Gebrauch seiner Fähigkeiten durch sein Minderwertigkeits­gefühl getrieben wird. Diese Einordnung, in jedem Falle verschieden, ist Bewegung, die schließlich als Form, gefrorene Bewegung von uns erfaßt wird, Lebensform, die ein Ziel der Sicherheit und Überwindung zu versprechen scheint. Die Grenzen, in denen sich diese Entwicklung abspielt, sind die allgemein menschlichen, durch den Stand der generellen und individuellen Evolution gegebenen. Aber nicht jede Lebensform nützt diesen Stand richtig aus und stellt sich deshalb mit dem Sinn der Evolution in Widerspruch. In den früheren Kapiteln habe ich gezeigt, daß die volle Entwicklung des menschlichen Körpers und Geistes am besten gewährleistet ist, wenn sich das Individuum in den Rahmen der idealen Gemeinschaft, die zu erstreben ist, einfügt als Strebender und Wirkender. Zwischen denen, die, bewußt oder ohne es zu wissen, diesem Standpunkt gerecht werden, und den vielen anderen, die ihm nicht Rechnung tragen, klafft ein unüberbrückbarer Spalt. Der Widerspruch, in dem sie stehen, erfüllt die Menschenwelt mit kleinlichen Zänkereien und mit gewaltigen Kämpfen. Die Strebenden bauen auf und tragen zur Wohlfahrt der Menschheit bei. Aber auch die Widerstrebenden sind nicht durchaus wertlos. Durch ihre Fehler und Irrtümer, die kleinere und größere Kreise schädigen, zwingen sie die anderen, stärkere Anstrengungen zu machen. So gleichen sie dem Geist, »der stets das Böse will und doch das Gute schafft«. Sie erwecken den kritischen Geist der anderen und verhelfen ihnen zu besserer Einsicht. Sie tragen zum schaffenden Minderwertigkeits­gefühl bei.

Die Richtung zur Entwicklung des einzelnen und der Gemeinschaft ist demnach durch den Grad des Gemeinschaftsgefühls vorgeschrieben. Dadurch ist ein fester Standpunkt gewonnen zur Beurteilung von richtig und unrichtig. Es zeigt sich ein Weg, der sowohl für Erziehung und Heilung, als auch für die Beurteilung von Abwegigkeiten eine überraschende Sicherheit bietet. Das Maß, das damit zur Anwendung kommt, ist um vieles schärfer, als es je ein Experiment vorzeigen könnte. Hier macht das Leben die Testprüfungen; jede kleinste Ausdrucksbewegung kann man auf die Richtung und Distanz zur Gemeinschaft prüfen. Ein Vergleich etwa mit den landläufigen Maßen der Psychiatrie, die an den schädigenden Symptomen oder an den Schädigungen der Gemeinschaft mißt, wohl auch im Banne der aufwärts strebenden Gemeinschaft ihre Methoden zu verfeinern trachtet, zeigt die individual­psychologische Methode durchaus im Vorteil. Im Vorteil auch deshalb, weil sie nicht verurteilt, sondern zu bessern trachtet, weil sie die Schuld vom einzelnen nimmt und sie den Mängeln unserer Kultur zuweist, an deren Mangelhaftigkeit alle anderen mitschuldig sind, und auffordert, an deren Behebung mitzuarbeiten. Daß wir heute noch an die Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls, an das Gemeinschaftsgefühl selbst denken müssen, um es zu erobern, liegt an dem geringen bisher erreichten Grade unserer Evolution. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß künftige Geschlechter es ihrem Leben so weit inkorporiert haben werden wie wir das Atmen, den aufrechten Gang oder des Sehen der sich auf der Retina fortwährend bewegenden Lichteindrücke als ruhende Bilder.

Auch diejenigen, die das Gemeinschaftsfördernde im Seelenleben des Menschen, sein »Liebe-Deinen-Nächsten« nicht verstehen, alle, die nur bestrebt sind, den »inneren Lumpenhund« im Menschen zu entdecken, der sich nur listig vor dem Erkannt — und Gestraftwerden duckt, sind wichtiger Dünger für die aufwärts strebende Menschheit und zeigen in bizarrer Vergrößerung nur ihren Rückstand. Ihr Minderwertigkeitsgefühl sucht den persönlich gemeinten Ausgleich in der Überzeugung vom Unwert aller anderen. Gefährlich scheint mir der Mißbrauch der Idee des Gemeinschafts­gefühls in der Form, die gelegentliche bisherige Ungeklärtheit des Weges zum Gemeinschaftsgefühl dazu zu benützen, gemeinschafts­schädliche Anschauungs- und Lebensformen gutzuheißen und zu forcieren unter dem Titel der Rettung der gegenwärtigen oder sogar einer zukünftigen Gemeinschaft. So finden gelegentlich die Todesstrafe, der Krieg oder selbst die Aufopferung Widerstrebender ihre maulgewandten Fürsprecher, die sich immer auch — welch ein Zeichen der Allgewalt des Gemeinschaftsgefühls! — mit dem Mantel des Gemeinschaftsgefühls drapieren. Alle diese veralteten Anschauungen sind vielmehr deutliche Anzeichen dafür, daß diese Fürsprache aus der mangelnden Zuversicht stammt, einen besseren, einen neuen Weg zu finden, demnach aus einem nicht zu verkennenden Minderwertigkeits­gefühl. Daß auch der Mord nichts ändert an der Allgewalt fortgeschrittener Ideen, noch an dem Zusammenbruch absterbender, sollte die Menschheits­geschichte jeden gelehrt haben. Es gibt aber, soweit wir sehen können, nur einen einzigen Fall, der eine Tötung rechtfertigen könnte, der Fall der Selbstverteidigung bei eigener Lebensgefahr, oder bei der anderer. Niemand größerer als Shakespeare hat dieses Problem, ohne verstanden zu sein, in Hamlet klar vor die Augen der Menschheit gebracht. Shakespeare, der so wie die Dichter der Griechen in allen seinen Tragödien dem Mörder, dem Verbrecher die Erinnyen an den Hals hetzt, in einer Zeit, in der, ärger als heute blutige Taten, das Gemeinschaftsgefühl derer erschauern machte, die näher zum Ideal der Gemeinschaft strebten, ihm auch näher waren und gesiegt haben. Alle Verirrungen des Verbrechers zeigen uns die äußersten Grenzen an, bis zu welchen das Gemeinschaftsgefühl des Fallenden reichte. Dem vorwärts strebenden Anteil der Menschheit obliegt daher die strenge Pflicht, nicht nur aufzuklären und richtig zu erziehen, sondern auch nicht voreilig die Prüfungen für den im Gemeinschaftsgefühl Ungeschulten zu schwer zu gestalten, ihn etwa so zu betrachten, als ob er leisten könnte, was nur bei entwickeltem Gemeinschaftsgefühl zu leisten wäre, niemals aber beim Mangel desselben, weil der Unvorbereitete beim Zusammenstoß mit dem ein starkes Gemeinschaftsgefühl erfordernden Problem eine Schockwirkung erlebt, die unter Ausgestaltung eines Minderwertigkeits­komplexes zu Fehlschlägen aller Art Anlaß gibt. Die Struktur des Verbrechers zeigt deutlich den Lebensstil eines mit Aktivität begabten, der Gemeinschaft wenig geneigten Menschen, der von Kindheit an die Meinung vom Leben entwickelt hat, berechtigt zu sein, den Beitrag anderer für sich auszunützen. Daß dieser Typus sich vorwiegend bei verwöhnten Kindern, seltener bei vernachlässigten Personen findet, dürfte nicht lange mehr ein Geheimnis bleiben. Das Verbrechen als Selbstbestrafung anzusehen, es auf Urformen kindlicher sexueller Perversion zurückzuführen, gelegentlich auch auf den sogenannten Ödipuskomplex, ist leicht zu widerlegen, wenn man versteht, daß der für Metaphern im realen Leben schwärmende Mensch sich allzu leicht in den Maschen von Gleichnissen und Ähnlichkeiten verfängt. Hamlet: »Sieht diese Wolke nicht aus wie ein Kamel?« Polonius: »Ganz wie ein Kamel.«

Kinderfehler wie Stuhlverhaltung, Bettnässen, auffallende Zuneigung zur Mutter, ohne von ihr recht loszukommen usw., sind deutliche Zeichen eines verwöhnten Kindes, dessen Lebensraum nicht über die Mutter hinausreicht, auch nicht in allen Funktionen, deren richtige Pflege die Aufgabe der Mutter ist. Mischt sich in diese Kinderfehler ein Kitzelgefühl ein wie beim Daumenlutschen und bei der Stuhlverhaltung, was sicher bei Kindern mit weniger abgestumpftem Kitzelgefühl der Fall sein kann, oder in das parasitäre Leben der verwöhnt en Kinder, bei ihrer Bindung an die Mutter, ein aufkeimendes sexuelles Gefühl, so sind das Beigaben und Folgen, von denen in erster Linie verwöhnte Kinder bedroht sind. Das Festhalten aber an diesen Kinderfehlern wie auch an der kindlichen Masturbation verschiebt, meist nicht ohne daß dabei eine »Sicherung« des Bandes zwischen Mutter und Kind durch deren größere Aufmerksamkeit verstärkt wird (keine Abwehr etwa, wie Freud meinen Begriff der Sicherung fälschlich interpretiert hat), das Interesse des Kindes vom Wege der Kooperation, die aus verschiedenen Gründen vor allem wegen der Verwöhnung nicht erlernt wurde, auf den Weg des Suchens nach einer Erleichterung und Enthebung vom Mitleben. Der Mangel des Gemeinschaftsgefühls und das verstärkte Minderwertigkeits­gefühl, beide innig verknüpft, zeigt sich schon in dieser Phase des kindlichen Lebens deutlich, zumeist mit allen Charakterzügen als Ausdrucksformen eines Lebens in vermeintlich feindlicher Umgebung; Überempfindlichkeit, Ungeduld, Affektverstärkung, Lebensfeigheit, Vorsicht und Gier, letztere unter dem Anspruch auftretend, als ob alles dem Kinde gehören sollte.

Schwierige Fragen im Leben, Gefahren, Nöte, Enttäuschungen, Sorgen, Verluste, besonders solche geliebter Personen, sozialer Druck aller Art, sind wohl immer im Bilde des Minderwertigkeitsgefühls zu sehen, meist in allgemein bekannten Affekten und Stimmungslagen, die wir als Angst, Kummer, Verzweiflung, Scham, Scheu, Verlegenheit, Ekel usw. kennen. Sie äußern sich im Gesichtsausdruck und in der Körperhaltung. Es ist, als ob der Tonus der Muskulatur dabei verloren ginge. Oder es tritt eine Bewegungsform zutage, die zumeist als Entfernung vom erregenden Objekt zu beobachten ist oder als Entfernung von den andauernden Fragen des Lebens. Die Denksphäre, ganz im Einklang mit dem Ziel des Entweichens, wirft dabei Rückzugsgedanken auf. Die Gefühls Sphäre, soweit wir davon Kenntnis gewinnen können, spiegelt zur Verstärkung des Rückzugs in ihrer Erregung und Erregungsform die Tatsache der Unsicherheit, der Minderwertigkeit. Das menschliche Minderwertigkeitsgefühl, das sonst im Vorwärtsstreben aufgeht, zeigt sich in den Stürmen des Lebens schon deutlicher, bei schweren Prüfungen deutlich genug. In jedem Falle verschieden im Ausdruck, stellt es, wenn man alle seine Erscheinungen dabei zusammenfaßt, den Lebensstil des einzelnen dar, der in allen Lebenslagen einheitlich zum Durchbruch kommt.

Man darf aber nicht verfehlen, auch im Versuch der Überwindung obiger Regungen, im Sichaufraffen, im Zorn, auch schon im Ekel und in der Verachtung, eine durch das Ziel der Überlegenheit erzwungene Leistung eines aktiveren Lebensstils, angespornt durch das Minderwertigkeitsgefühl, zu sehen. Während die erstere Lebensform im Festhalten an der Rückzugslinie vom gefährdenden Problem zu den Formen der Neurose, der Psychose, zu den masochistischen Haltungen führen kann, wird man, abgesehen von neurotischen Mischformen, bei der letzteren Form viel eher, entsprechend dem Lebensstil, solche von größerer Aktivität (die nicht mit Mut verwechselt werden darf, der sich nur auf der gemeinschaftsfördernden Seite des Lebens findet), Selbstmordneigung, Trunksucht, Verbrechen oder eine aktive Perversion sehen. Daß es sich dabei um Neugestaltungen des gleichen Lebensstils handelt, und nicht um jenen fiktiven Prozeß, den Freud »Regression« nennt, liegt auf der Hand. Die Ähnlichkeit dieser Lebensformen mit früheren oder auch Einzelheiten derselben darf nicht als Identität angesehen werden, und die Tatsache, daß jedes Lebewesen den Fonds seiner geistigen und körperlichen Reichweite und sonst nichts zur Verfügung hat, nicht als Rückfall in ein infantiles oder urmenschliches Stadium. Das Leben fordert die Lösung der Aufgaben der Gemeinschaft, und so deutet jedes Verhalten immer in die Zukunft, auch wenn es aus der Vergangenheit die Mittel zum Ausbau seines Verhaltens nimmt.

Immer ist es der Mangel an Gemeinschaftsgefühl, mag man ihm welchen Namen immer geben, wie Mitmenschlichkeit, Kooperation, Humanität oder gar Ideal-Ich, dem eine ungenügende Vorbereitung für alle Lebensprobleme entspringt. Diese mangelhafte Vorbereitung ist es, die angesichts des Problems oder mitten darin zu den tausendfachen Ausdrucksformen körperlicher und seelischer Minderwertigkeit und Unsicherheit Anlaß gibt. Dieser Mangel ruft ja auch schon früher Minderwertigkeitsgefühle aller Art hervor, die sich nur nicht so deutlich zeigen, wohl aber im Charakter, in der Bewegung, in der Haltung, in der durch das Minderwertigkeitsgefühl induzierten Denkweise und in der Abwegigkeit des Vormarsches Ausdruck finden. Alle diese Ausdrucksformen des durch den Mangel an Gemeinschafts­gefühl verstärkten Minderwertigkeitsgefühls werden offenbar im Moment des gefährlichen Problems, der »exogenen Ursache«, die in keinem Falle eines »typischen Fehlschlages« vermißt wird, mag sie auch nicht von jedem gefunden werden. Das Festhalten an den Erschütterungen, ein Versuch zur Erleichterung der drückenden Situation des schweren Minderwertigkeits­gefühls, eine Folge des unaufhörlichen Strebens, aus der Minussituation herauszukommen, schafft erst die »typischen« Fehlschläge. In keinem dieser Fälle aber wird der Vorzug des Gemeinschaftsgefühls bestritten oder der Unterschied zwischen »gut« und »böse« verwischt. In jedem dieser Fälle findet sich ein »Ja«, das den Druck des Gemeinschaftsgefühls betont, immer aber gefolgt von einem »Aber«, das stärkere Kraft besitzt und die nötige Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls hindert. Das »Aber« ist in allen typischen und Einzelfällen verschieden. Die Schwierigkeit einer Heilung entspricht seiner Stärke. Am stärksten ist es im Selbstmord und in der Psychose ausgesprochen, Folgen von Erschütterungen, bei denen das »Ja« nahezu verschwindet.

Charakterzüge wie Ängstlichkeit, Scheu, Verschlossenheit, Pessimismus charakterisieren den mangelhaft en Kontakt von langer Zeit her und werden bei strengerer Prüfung durch das Schicksal wesentlich verstärkt, erscheinen in der Neurose zum Beispiel als mehr oder weniger ausgeprägte Krankheitssymptome. Dasselbe gilt für charakteristisch verlangsamte Bewegung, die das Individuum immer im Hintertreffen zeigt, in einer auffallenden Distanz 3) zum vorliegenden Problem. Diese Vorliebe für das Hinterland des Lebens ist durch die Denkweise und Argumentation des Individuums, gelegentlich durch Zwangsdenken oder durch unfruchtbare Schuldgefühle namhaft gesichert. Es kann leicht begriffen werden, daß nicht die Schuldgefühle die Distanz bewerkstelligen, sondern daß die mangelhafte Neigung und Vorbereitung der ganzen Persönlichkeit Schuldgefühle vorteilhaft findet, um den Vormarsch zu hindern. Die grundlose Selbstbeschuldigung wegen Masturbation zum Beispiel ergibt dafür einen geeigneten Vorwand. Auch der Umstand, daß jeder Mensch, wenn er auf sein Leben zurückblickt, manches gerne ungeschehen machen möchte, dient solchen Individuen zur gelungenen Ausrede nicht mitzutun.

Fehlschläge wie die Neurose oder das Verbrechen auf solche trickhafte Schuldgefühle zurückführen zu wollen, heißt den Ernst der Situation verkennen. Die Richtung, die in Fällen mangelnden Gemeinschaftsgefühls eingeschlagen wird, zeigt immer auch das große Bedenken gegenüber einem Gemeinschaftsproblem, wobei die größere Erschütterung durch körperliche Veränderungen mithilft, andere Wege anzuweisen. Diese körperlichen Veränderungen bringen wohl den ganzen Körper in vorübergehende oder dauernde Unordnung, setzen aber zumeist Störungen der Funktion in auffallender Weise an solche Stellen, die, sei es infolge angeborener Organminderwertigkeit, sei es durch Überladung mit Aufmerksamkeit, auf die seelische Störung am stärksten antworten. Es kann sich die Funktions­störung im Schwund des Muskeltonus oder in einer Erregung desselben zeigen, in der Aufrichtung der Haare, in Schweißausbruch, in Herz-, in Magen- und Darmstörungen, in Atembeklemmungen, in Zuschnüren der Kehle, in Harndrang und in sexueller Erregung oder deren Gegenteil. Oft findet man die gleichen Störungen bei schwierigen Situationen innerhalb der Familie verbreitet. So auch Kopfschmerzen, Migräne, heftiges Erröten oder Erblassen. Durch neuere Forschungen, besonders durch die Cannons, Marannons und anderer ist es sichergestellt worden, daß an den meisten dieser Veränderungen das Sympathico-Adrenalinsystem hervorragend beteiligt ist, ebenso der kraniale und pelvische Anteil des vegetativen Systems, die demnach auf Emotionen aller Art in verschiedener Weise reagieren. Dadurch ist auch unsere alte Vermutung bestätigt, daß die Funktionen der endokrinen Drüsen, Schilddrüse, Nebenniere, Hypophyse und Geschlechtsdrüsen unter den Einflüssen der Außenwelt stehen, und daß sie entsprechend dem Lebensstil des Individuums auf seelische Eindrücke je nach deren subjektiv empfundenen Stärke antworten, im normalen Fall, um das körperliche Gleichgewicht herzustellen, bei mangelhafter Eignung des Individuums gegenüber den Lebensfragen in extremer, überkompensato­rischer Art.4)

Das Minderwertigkeitsgefühl eines Individuums kann sich auch durch die Richtung seines Weges zeigen. Ich habe bereits von der großen Distanz zu den Lebensproblemen, vom Haltmachen und von der Loslösung gesprochen. Keine Frage, daß gelegentlich sich ein solches Vorgehen als richtig, als dem Gemeinschaftsgefühl entsprechend erweisen läßt. Dieser gerechtfertigte Standpunkt liegt der Individualpsychologie besonders nahe, da diese Wissenschaft den Regeln und Formeln immer nur eine bedingte Geltung zuspricht und für deren Bestätigung immer neue Beweise zu erbringen sich verpflichtet hält. Einer dieser Beweise liegt in dem habituellen Verhalten in der oben gekennzeichneten Bewegung. Eine andere, auf Minderwertigkeits­gefühl verdächtige Gangart, anders als die »zögernde Attitüde«, können wir in der Ausbiegung vor einem Lebensproblem beobachten, sei diese nun vollständig oder teilweise. Vollständig wie in der Psychose, im Selbstmord, im habituellen Verbrechen, in der habituellen Perversion, teilweise wie in der Trunksucht oder in anderen Süchten. Als letzte, aus dem Minderwertigkeits­gefühl entspringende Gangart will ich noch anführen: die auffällige Einengung des Lebensraums und die verminderte Aufmarschbreite. Wichtige Anteile der Lebensprobleme sind dabei ausgeschlossen. Auch hier müssen wir als Ausnahme gelten lassen, wenn einer zum Zwecke eines größeren Beitrags zur Förderung der Gemeinschaft sich der Lösung einzelner Anteile der Lebensprobleme entschlägt wie der Künstler und das Genie.

Über die Tatsache des Minderwertigkeitskomplexes in allen Fällen typischer Fehlschläge war ich mir schon längst klar. Um die Lösung der hier wichtigsten Frage aber, wie aus dem Minderwertigkeitsgefühl und seinen körperlichen und seelischen Folgen beim Zusammenstoß mit einem Lebensproblem der Minderwertigkeitskomplex entsteht, habe ich lange gerungen. Meines Wissens ist diese Frage stets im Hintergrund der Betrachtungen der Autoren gestanden, geschweige denn, daß sie bis jetzt gelöst worden wäre. Mir ergab sich die Lösung wie bezüglich aller anderen Fragen im Gesichtsfeld der Individualpsychologie, wo eines aus allem und alles aus einem zu erklären war. Der Minderwertigkeitskomplex, das heißt, die dauernde Erscheinung der Folgen des Minderwertigkeitsgefühls, das Festhalten an demselben, erklärt sich aus dem größeren Mangel des Gemeinschaftsgefühls. Die gleichen Erlebnisse, die gleichen Traumen, die gleichen Situationen und die gleichen Lebensfragen, wenn es eine absolute Gleichheit in ihnen gäbe, wirken sich bei jedem anders aus. Dabei ist der Lebensstil und dessen Gehalt an Gemeinschaftsgefühl von ausschlag­gebender Bedeutung. Was in manchen Fällen irreführen und an der Richtigkeit dieser Erfahrung zweifeln machen kann, ist der Umstand, daß gelegentlich Menschen mit sichergestelltem Mangel an Gemeinschaftsgefühl (eine Feststellung, die ich nur sehr erfahrenen Untersuchern zutrauen möchte) vorübergehend wohl Erscheinungen des Minderwertigkeitsgefühls zeigen, aber keinen Minderwertigkeitskomplex. Diese Erfahrungen kann man gelegentlich bei Menschen machen, die wenig Gemeinschaftsgefühl besitzen, aber die Gunst der äußeren Umstände für sich haben. Im Falle des Minderwertigkeits­komplexes wird man stets aus dem Vorleben des Betreffenden, aus seiner bisherigen Haltung, aus seiner Verwöhnung in der Kindheit, aus dem Vorhandensein minderwertiger Organe, aus dem Gefühl der Vernachlässigung in der Kindheit Bestätigungen finden. Man wird sich auch der anderen, weiterhin anzuführenden Mittel der Individualpsychologie bedienen, des Verständnisses für die ältesten Kindheitserinnerungen, der individual­psychologischen Erfahrung über den Lebensstil im ganzen und dessen Beeinflussung durch die Stellung in der Kinderreihe und der individualpsychologischen Traumdeutung. Auch ist im Falle eines Minderwertigkeits­komplexes die sexuelle Haltung und Entwicklung eines Individuums nur ein Teil des Ganzen und in den Minderwertigkeitskomplex völlig einbezogen.

 

__________________

1) E. Jahn u. A. Adler, Religion und Individualpsychologie. Wien.

2) Siehe A. Adler, Heilen und Bilden, l. c.

3) Siehe A. Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.

4) Siehe A. Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen, l. c.


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