Nervöser Hungerstreik
(1914)
Als eine der heftigsten Revolten ehrgeiziger, aber entmutigter Menschen, ja als verkappten Selbstmord haben wir eine Anzahl von Fällen nervösen Hungerstreiks kennengelernt. Immer befällt dieses Leiden Menschen, die die erste Rolle zu spielen gewohnt waren und sie weiter spielen wollen, die stets bestrebt waren, ihre Umgebung mit sich zu beschäftigen, und keinen anderen Weg fanden.
In der Regel beginnt dieses Symptom der Furcht vor dem Essen um das 17. Lebensjahr herum, fast immer bei Mädchen. Die Folge dieses Verhaltens ist gewöhnlich eine rapide Abmagerung. Als dunkles Endziel, das auch aus der Gesamthaltung der Patientin hervorgeht, findet sich die Ablehnung der Frauenrolle. Das heißt, es liegt der Versuch vor, durch übermäßige Enthaltsamkeit — wie allgemein in der Mode auch — die Entwicklung weiblicher Formen aufzuhalten.1) Eine dieser Patientinnen bestrich außerdem den ganzen Körper mit Jodtinktur, in der Meinung, auf diese Weise die Abmagerung zu erzwingen. Ganz regelmäßig aber hob sie die Wichtigkeit des Essens ihrer jüngeren Schwester gegenüber hervor und trieb sie unablässig an. Eine andere Patientin langte endlich bei einem Gewicht von 28 Kilo an und sah einem Gespenst ähnlicher als einem jungen Mädchen.
Immer handelt es sich um Mädchen, die schon als Kinder den Wert und die Bedeutung des »Hungerstreiks« als Machtmittel erprobt hatten.2) Denn niemals fehlt bei entwickelter Neurose dieser gleiche Druck auf die Umgebung und auf den Arzt. Mit einem Male dreht sich alles um die Patientin, und ihr Wille dominiert in jeder Beziehung. Nun wird auch verständlich, warum solche Patienten der Beschaffenheit der Nahrung so großes Gewicht beilegen und dieses Gewicht durch das »Arrangement« der Angst sichern müssen: Sie können den Prozeß der Ernährung gar nicht hoch genug einschätzen, da diese Überwertung ihnen erst gestattet, ihr Ziel, über alle anderen zu herrschen (wie ein Mann! wie ein Vater!), konsequent zu verfolgen. Jetzt erst können sie alles bekritteln, sie haben den richtigen Standpunkt gewonnen, um die Kochkunst der Mutter anzuspannen und herabzusetzen, die Auswahl der Speisen zu diktieren, die Pünktlichkeit der Mahlzeiten zu erpressen und gleichzeitig zu erzwingen, daß aller Augen mit der bangen Frage auf sie gerichtet sind, ob sie auch essen werden.
Eine meiner Patientinnen änderte nach einiger Zeit ihr Verhalten dahin, daß sie unter der gleichen Betonung der Wichtigkeit des Essens anfing, ungeheuer viel zu verzehren und zu begehren, was die gleiche Inanspruchnahme der Mutter zur Folge hatte. Sie war verlobt, wollte angeblich auch heiraten, »bis sie gesund sei«, hinderte aber gleichzeitig die Fortsetzung ihrer Frauenrolle durch nervöse Symptome (Depression, Wutanfälle, Schlaflosigkeit) und besonders dadurch, daß sie sich durch fortgesetzte Mastkuren zu einem Monstrum entwickelte. Ununterbrochen nahm sie Brom und erklärte, sich ohne dieses Mittel schlechter zu fühlen; gleichzeitig klagte sie über starke Bromakne, durch die sie ähnlich wie durch Fettsucht entstellt wurde. (Ähnlichen Zwecken dient häufig die nervöse Obstipation, Stuhldrang, Harndrang, zuweilen ein Tick oder Grimassieren oder eine Zwangsneurose.) Manche Patienten erreichen das gleiche, indem sie öffentlich fasten und heimlich essen. Bekannt ist schließlich die ungeheure Bedeutung des Hungerstreiks bei Melancholie, Paranoia und Dementia praecox, wo immer durch Negativismus der Wille der Umgebung zur Ohnmacht verdammt wird.
Vielen anderen Arrangements in der Neurose analog ist der Kunstgriff des »Hin und Her«3), durch den das Symptom der »Zeitvertrödelung« erzeugt wird, was in allen Fällen begreiflich wird, wenn man erkennt, daß sich der Patient aus »Furcht vor der Entscheidung« — in obigen Fällen aus »Furcht vor dem Partner« — zur »zögernden Attitüde«, zur »Rückwärtsbewegung« oder zum Selbstmord entschlossen hat. Erst wird die Wichtigkeit der Nahrung überwertet, dann kommt es zur Furcht vor der Nahrungsaufnahme; schließlich bleibt nur übrig, was wir erwarten: zögernde Attitüde, Stillstand oder Rückzug gegenüber den gesellschaftlich durchschnittlichen Forderungen der andern. In dieser Haltung spiegelt sich das alte kindliche Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Anforderungen des Lebens deutlich genug, und die »Kunstgriffe des Schwachen« sind leicht zu entlarven. Rachsüchtige Regungen sind immer vorhanden, ebenso Tyrannei im Familienkreis.
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1) In jüngeren Jahren liegt dem Hungerstreik das Verlangen zugrunde, die Umgebung mehr mit sich zu beschäftigen. Siehe auch Internationale Zeitschrift f. Individualpsychologie, II. Jahrg. 2. Heft: ›Fragebogen zum Verständnis und zur Erziehung schwer erziehbarer Kinder‹.
2) Für diejenigen, denen die Symptomenwahl des Neurotikers ernste Schwierigkeiten macht, sei zu wiederholtem Male darauf hingewiesen, wie aus irrtümlichem Erfassen von Machtbeziehungen, wenn sie nur in kleinem Kreise wirksam werden, sich ein Training des Symptoms gestaltet, ein Hauptinteresse an einem einzelnen Lebensproblem, so daß dadurch die Harmonie des Lebens gestört wird.
3) Später hat Freud diese Erscheinung als »Wiederholungszwang«, andere als »Iteration«, »Kleben« usw. beschrieben. Gegenüber unseren ursächlichen Feststellungen erscheinen die späteren Tiefblicke anderer Autoren recht oberflächlich.
In konsequenter Weiterbildung unserer Traumlehre kamen wir zu Ergebnissen, die im VI. Jahrgang der Internationalen Zeitschrift f. Individualpsychologie als ›Fortschritte der Traumlehre‹ veröffentlicht sind.