b) Paranoia
1. Befällt Personen, deren Haltung in der menschlichen Gesellschaft dadurch charakterisiert ist, daß sie nach einem mehr oder weniger energischen Auftakt in ihrer Bewegung oder in ihrer Lebenslinie in einiger Entfernung vor dem von ihnen und ihrer Umgebung erwarteten Ziele entmutigt haltmachen und durch umfängliche, gedankliche, meist gleichzeitig aktive Operationen auf einem Nebenkriegsschauplatz des Lebens in einem Scheinkampf gegen selbstgeschaffene Schwierigkeiten den unbewußten Vorwand gewinnen, ihre mögliche oder vermutete Niederlage im Leben zu verdecken, zu rechtfertigen oder endlos hinauszuschieben.
2. Diese Haltung in toto und gegenüber Einzelfragen ist von früher Kindheit an vorbereitet, erprobt und gegen die ärgsten Einwände der Wirklichkeit tunlichst abgeschliffen und gesichert. Deshalb auch trägt das paranoische System die Züge des Planmäßigen mehr als die anderen Psychosen und ist unter günstigen Bedingungen, etwa im Beginne, zu erschüttern. Weder das Gemeinschaftsgefühl noch seine Funktionen, die »allgemeingültige« Logik, wird jemals völlig gedrosselt. Nur soll man die Logik nicht in den fixen Ideen suchen, die der Anzettelung der Revolte, der Niederschmetterung des »Gegenspielers« dienen müssen, sondern in der Gesamthaltung zum Leben.
3. Als eine der Voraussetzungen dieser Haltung läßt sich eine tiefe, unabänderlich empfundene Unzufriedenheit mit den Errungenschaften im Leben erschließen, die den Patienten dazu drängt, für seinen Mißerfolg vor sich und vor anderen die Deckung zu gewinnen, um nicht im Ehrgeiz und im Selbstbewußtsein verwundet zu werden.
4. Die stets vorhandene, immer merkbare Aktivität — meist stark kämpferischer Art und vom Charakter der Sehnsucht nach Überlegenheit geleitet — macht es aus, daß der Zusammenbruch gewöhnlich erst in späteren Jahren erfolgt, was auch der Wahnidee die Züge einer gewissen Reifung nach außen verleiht.
5. Diese Aktivität, die sich nach dem Zielpunkt eines Überlegenheitsideals richtet, erzwingt in ihrem Verlaufe von selbst eine den Nebenmenschen verurteilende feindliche Haltung, die letzter Linie in sich eine Spitze trägt gegen den anderen, gegen Einflüsse und Situationen, hinter denen sich ein Teil oder die Gesamtheit der Menschen verbirgt. So wird zur Schuld der andern gemacht, was dem Patienten von seinen überspannten Plänen nicht gelang. Auch bei der Paranoia dient die Antizipation des Überlegenheitsideals (Größenwahn) dazu, das Gefühl der Überlegenheit zu begründen und gleichzeitig der Verantwortung für das Scheitern in der wirklichen Gemeinschaft durch die Schaffung eines Nebenkriegsschauplatzes auszuweichen.
6. In der Haltung des Paranoikers spiegelt sich die von frühester Kindheit her eingenommene feindliche Stellung zum Nebenmenschen wider; sie ergibt sich von selbst aus dem aktiven Streben nach Allüberlegenheit, welch letzteres in der Form der Beachtungsidee, des Verfolgungs- und Größenwahns zum Ausdruck kommt. In allen drei Zustandsbildern sieht sich der Patient als das Zentrum der Umwelt.
7. Bei der reinen Form der Paranoia, die nur als Grenzfall in Betracht kommt, ergibt sich demnach immer ein aggressiver Auftakt, dem durch die Konstruktion des Wahnsystems Halt geboten wird. Ähnlich bei der Dementia praecox, bei der die Furcht vor dem Leben mit seinen Anforderungen größer zu sein scheint, die deshalb schon in früheren Jahren zutage tritt. Angrenzend beobachtet man Fälle von Zyklothymie, hysterischer Aboulie und Depressionserscheinungen neurasthenischer Art und von Konfliktneurosen (siehe Über den nervösen Charakter, l. c), die ein stärkeres Zurückfluten vorübergehenden Charakters nach anfänglicher Aggression aufweisen können. Große Verwandtschaft in dynamischem Sinne zeigt das Verhalten der psychogenen Epilepsie, des chronischen Alkoholismus, Morphinismus und Kokainismus. Unterschiede liegen in dem zäheren oder intermittierenden Zurückfluten nach weitgehender Aktivität oder geringerer Gebundenheit derselben. Die scheinbar »normalen« Phasen oder der scheinbar »gesunde« Anteil in der Psychose dient allgemein dem Zwecke, andere noch zu binden, ihnen Hoffnung zu geben, um sie weiter bekämpfen zu können. So auch die Verliebtheit in der Neurose.
8. Sowohl in der Vorwärts- als in der Rückwärtsbewegung der psychotischen Welle liegt deutlich erkennbar der feindselige, kämpferische Zug, der zuweilen im Selbstmord mündet; so erscheint uns die Psychose überhaupt als geistiger Selbstmord eines Individuums, das sich den Anforderungen der Gesellschaft und seinen eigenen Zielen nicht gewachsen glaubt. Aber auch in seiner Rückwärtsbewegung liegt eine heimliche Actio in distans, Feindseligkeit gegen die Wirklichkeit, während die Vorwärtsbewegung immer auch durch das Moment der Exaltation ihre innere Schwäche anzeigt und die anderen wie durch einen Bluff zu überrennen scheint.
9. Die Selbsteinschätzung des Paranoikers ist bis zur Gottähnlichkeit emporgetrieben. Sie baut sich aber kompensatorisch auf einem tiefen Gefühl der Minderwertigkeit auf und verrät ihre Schwäche in dem rascheren Verzicht auf Erfüllung der gesellschaftlichen Forderungen und der eigenen Pläne, in der Verlegung des Kampfplatzes auf das Gebiet des Irrealen, in der starken Neigung zur Konstruktion paranoischer, präokkupierender Vorwände und in der prinzipiellen Beschuldigung der anderen. Dem Patienten fehlt offensichtlich der Glaube an sich; sein Mißtrauen und sein Unglauben den Menschen, ihrem Wissen und Können gegenüber, die zur Konstruktion kosmogonischer, religiöser Staatsideen eigener Erfindung drängen, sie ermöglichen, der in diesen Phantasien liegende Gegensatz zu den allgemeinen Anschauungen sind für ihn nötig, damit er sein Gleichgewicht und sein Übergewicht fühlen kann.
10. Die Ideen des Paranoikers sind schwer korrigierbar, weil er sie gerade in ihrer Form zur Festigung seines Standpunktes braucht, insbesondere zur Erzielung seiner Unverantwortlichkeit im Leben, zum Vorwand gegenüber dem Mangel an Erfolgen und um den Stillstand seiner Aktion im gesellschaftlichen Leben zu erzwingen. Gleichzeitig gestatten sie ihm, die Fiktion seiner Überlegenheit festzuhalten, ohne sie auf die Probe zu stellen. Denn die Schuld liegt immer an der Feindseligkeit der anderen.
11. Ist die Passivität des Melancholikers eine Actio in distans, um andere zur Unterordnung zu zwingen, so zielt die aktive Phantasie des Paranoikers darauf hin, den unverantwortlichen Vorwand für seine Erfolglosigkeit im Leben und eine zeitfüllende Präokkupation zu gewinnen.
12. Seine Unverantwortlichkeit stützt sich im Gegensatz zum Bilde der Melancholie äußerlich mehr auf die Schuld des andern oder äußerer Umstände.
13. Der wahrnehmbare Ausbruch der Paranoia erfolgt gleichfalls in einer bedrohlichen Situation, in der der Patient seine überspannten Forderungen bezüglich seiner gesellschaftlichen Position endgültig verloren glaubt. In der Regel also vor einem Unternehmen, im Verlaufe desselben oder vor einer Herabsetzung, auch vor der »Gefahr« des Alterns.
14. Der Abbruch der normalen Einordnung erfolgt durch die Zwischenkonstruktion des vorbereitenden Wahnsystems, durch dessen Aktivierung die Verantwortlichkeit des Patienten erlischt. Gleichzeitig steigt das Größengefühl des Patienten durch seine Einfühlung in die Verfolgungs-, Beachtungsund Größenidee. Wir sehen in diesem Mechanismus einen kompensatorischen Akt, der sich aus der Erwartung einer Herabsetzung entspinnt, und er verläuft in der Richtung des »männlichen Protestes«, wie ich es auch in der Psychologie der Neurosen (siehe Über den nervösen Charakter, l. c.) abschließend dargestellt habe.
15. Die Konstruktion der Wahnideen läßt sich bis in die Kindheit zurückverfolgen, wo sie sich aus Tagträumen und Phantasien in kindlicher Weise an Situationen irgendeiner Herabsetzung anknüpften.
16. Die paranoische Haltung bringt nicht nur die Seele, sondern auch den Körper in die ihrem Wahnsystem adäquate Rolle. Stereotype Redensarten, Haltungen und Bewegungen stehen mit der leitenden Idee in Verbindung, finden sich übrigens reichlicher im Grenzgebiet und im Rahmen der Dementia praecox.
17. Melancholische Züge zeigen sich häufig, der Paranoia beigemengt. So treten insbesondere Klagen über schlechten Schlaf, über mangelhafte Ernährung usw. öfters auf und werden im weiteren Verlauf meist einer Verarbeitung in der Richtung von Verfolgungs-, Vergiftungs- oder Größenideen zugeführt. Der letztere Weg zeigt sich zuweilen nur in der Betonung der Einzigartigkeit des Leidens.
18. Halluzinationen stehen im Zusammenhang mit der starken Einfühlung in die Rolle und vertreten aufmunternde oder warnende Stimmen. Sie ergeben sich in jedem Falle, wenn eine Willensrichtung des Patienten als inappellabel und gleichzeitig als unverantwortlich genommen werden will. Sie sind wie der Traum gleichnisweise zu verstehen, brauchen dem Patienten nicht verständlich zu sein, charakterisieren aber die Taktik des Patienten, die er einem bestimmten Problem gegenüber einschlagen will. Die Halluzination sowie manche der Träume ergeben sich als ein Kunstgriff der Objektivierung subjektiver Regungen, an deren scheinbare Objektivität der Patient sich unbedingt bindet.7) Der Zwang zur Unverantwortlichkeit läßt die Führung des Willens durch sachliche Bestimmung nicht zu und setzt an dessen Stelle scheinbar fremde Stimmen und Gesichte.
19. Dazu kommt als Befestigung des Systems die tendenziöse, d. h. dem Wahnsystem günstige Auswahl der Erinnerungen und die von der Endabsicht geleitete Auswertung der Erlebnisse. Von unserem Gesichtspunkt aus tritt die Tendenz derselben (Befestigung des Systems) und der entscheidende Zwang zu dieser Tendenz infolge der Zielsetzung (Zurück! Arrangement der Unverantwortlichkeit, Schuld des anderen, Deckung des offenbaren Zusammenbruchs) womöglich noch deutlicher hervor.
20. Unsere Anschauung ergibt demnach, daß sich die Paranoia dort einstellt, wo normale Menschen den Mut verlieren, wo labilere Naturen Selbstmord verüben oder querulierend alle anderen anschuldigen, wo ein aggressiver, den normalen Forderungen des Lebens aber feige ausweichender Mensch zum Verbrechen, zum Alkoholismus kommt, und wo nur im Gemeinsinn gutgeschulte Charaktere im Gleichgewicht bleiben. Gelegentlich findet man Beimischungen jeder der vorhergenannten Wendungen.
21. Das selbständige Ringen des paranoisch Disponierten nach dem Triumph über alle bringt es mit sich, daß jeder als Feind oder als Schachfigur angesehen und behandelt wird. Dem Paranoiker fehlt wie jedem nervös und psychotisch Erkrankten das echte Wohlwollen für den Mitmenschen; er ist niemals ein verläßlicher Mitspieler in der Gesellschaft und geht in schlechter Haltung alle menschlichen Beziehungen (Liebe, Freundschaft, Beruf, Gesellschaft usw.) ein. Diese Haltungsanomalie stammt aus einer niederen Selbsteinschätzung und einer Überschätzung der Schwierigkeiten des Lebens. Sie ist es auch, die ihn zum Arrangement der (Neurose und) Psychose verleitet. Seine feindliche Haltung zur Gesellschaft ist demnach keineswegs angeboren oder unausrottbar, sondern sie ergibt sich als ein verlockender Notausgang und Irrtum. Denn es gibt überhaupt keine Gegengründe gegen die Mitarbeit.
22. Die Paranoia klingt selten ab, weil sie an jener Stelle der Lebenslinie auftritt, an der der Patient seinen unwiderruflichen Zusammenbruch wittert. Sinnfällige subjektive Übertreibungen können im Anfang der Korrektur unterzogen werden. Gelegentlich kann dann die Erkrankung geheilt werden.
23. Die Haltung des zur Paranoia neigenden Menschen zeigt von Kindheit an einen aktiven Zug, der vor Schwierigkeiten zu leicht zum Stillstand kommt. Deshalb findet man im Leben des Patienten häufig Unterbrechungen der geradlinigen Entwicklung scheinbar rätselhafter Natur. Alle diese den Fortschritt verzögernden Unternehmungen (auch häufiger Wechsel der Beschäftigung und Vagabundage) sind in Wirklichkeit durch die leitende Idee erzwungen: Zeit zu verlieren, um Zeit zu gewinnen.
Herrschsucht, Unverträglichkeit, Mangel der Kameradschaftlichkeit, Fehlen von Liebesbeziehungen oder Auswahl gefügiger Personen sind regelmäßige Erscheinungen im Leben des Erkrankten. Er zeichnet sich durch ein nörgelndes und ungerecht kritisches Wesen aus.
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7) Siehe die Traumtheorie des Autors in: ›Traum und Traumdeutung‹ und im Nervösen Charakter, l. c.