Aus den individualpsychologischen Ergebnissen bezüglich Schlafstörungen


(1913)

 

Ein Patient, der seit langem an zeitweise wiederkehrenden Ohnmachtsanfällen litt, mittels derer ihm die Herrschaft über die Familie, insbesondere über die Mutter — wie sich in der Analyse ergab — gewährleistet werden sollte, zeigte in zwei aufeinanderfolgenden Nächten Aufwachen unter Angst und Schlaflosigkeit, die bis 3 Uhr währten. Die Situation des Patienten war kurz folgende: Er sollte in der nächsten Zeit mit Vater und Mutter eine Reise nach Karlsbad antreten, als der Vater unvorhergesehener Schwierigkeiten wegen die Reise um 14 Tage verschieben mußte. In der Nacht nach diesem Entschluß wachte der Patient unter Angst auf, rief seine nebenan schlafende Wärterin ins Zimmer, und auf deren Betreiben kam auch bald — wie der Patient vermuten konnte — die Mutter herein. — Patient verlangte Brom, das er in einer früheren Behandlung längere Zeit genommen hatte; nachdem er von 1 Uhr bis 3 Uhr gewacht hatte, schlief er wieder ein. Dasselbe wiederholte sich am nächsten Tage. In der ersten Nacht kam ihm eine Schreibmaschine ins Gedächtnis, in der zweiten Nacht überdies noch die Stadt Görz, Budweis und Gojau. Letzteres hielt er für eine Stadt, erinnerte sich aber nicht, wo sie gelegen sei. Vorher hatte er einen Traum folgenden Inhalts: »Mir war, als ob wir eine Nachricht aus Karlsbad erhalten hätten, daß der Lieblingsbruder meiner Mutter dort gestorben sei. Ich legte Trauer an und prahlte damit.« Die Auflösung dieses Traumes ergab, daß er den Wunsch hegte, der Lieblingsbruder — sein Bruder, der der Liebling seiner Mutter war — möchte sterben. Aber die Verlegung der Szene nach Karlsbad weist auf den Vater, den er abgöttisch zu verehren scheint, und dem er doch den Tod wünscht, nur um die Mutter, die er nicht liebt, allein für sich zu haben. Und doch läßt sich dieses Rätsel verstehert, wenn man weiß, daß ihm der Besitz der Mutter zum Kampfobjekt, zum Symbol seiner Herrschaft und seiner Lebensfähigkeit geworden ist, daß er seit vielen Jahren all das, was er nicht hat, vielleicht auch nicht haben kann, in der Beherrschung der Mutter zu erlangen glaubt, daß er jede Zurücksetzung, die er fühlt, in dem Bilde erfaßt, als ob ihm die Mutter geraubt wäre. Da ihm also die Beherrschung der Mutter — es fehlt da jedes sexuelle Motiv — zum Symbol seiner Herrschaft geworden war, lebt er in dem Wahne — man kann es anders kaum nennen —, daß er mit dem Besitze der Mutter Herrscher, Kaiser, Gott werden könnte.

Die Schreibmaschine aus den Gedanken seiner schlaflosen Nacht ist im Besitz seines Bruders, der sie ihm verweigert, auch wenn er sie der Übung halber benützen wollte. Ja, als der Bruder einst nach Paris fuhr, nahm er die Maschine mit, ganz so wie er neulich die Mutter mitnahm, als er eine Sommerwohnung suchen fuhr.

Ich will nicht behaupten, daß zur Auslösung eines Anfalls immer mehrere gehäufte Anlässe im Sinne einer Herabsetzung nötig sind; in den meisten Fällen erweist sich diese Annahme als berechtigt, was auch die Übersicht und die Einsicht in den Zusammenhang der Anfälle mit ihren auslösenden Ursachen oft erschwert. In unserem Fall finden wir: 1. die getäuschte Erwartung, die Verhinderung der Fahrt, und 2. die Fahrt der Mutter mit dem Bruder — zwei Anlässe, deren innerer Zusammenhang (als gegen die Überlegenheit des Patienten über den Lieblingsbruder gerichtet) evident ist. Ebenso erfahren wir damit, welcher Art die Bevorzugung des Bruders ihm zu sein scheint, und wie er mit Aggression und Todeswünschen gegen den Bruder reagiert.

Durch seine bisherigen der Epilepsie ähnlichen Anfälle erreichte er in Fällen der Zurücksetzung, daß seine Mutter sich ihm jeweils mehr zuwandte, um allerdings bald nachher den unangenehmen Patron wieder zu verlassen. Diese Anfälle scheinen durch Einsicht in den Krankheitsprozeß derzeit gemildert zu sein. Durch die nächtlichen Anfälle, die mit Angst einhergingen, erreicht er das gleiche. Ja noch mehr! Seine Mutter muß des Nachts zu ihm ins Zimmer kommen und dort so lange weilen, als es sein gekränktes Gemüt für gut befindet. Dies bedeuten seine Gedanken an die Schreibmaschine. Deshalb seine Angst und das Arrangement der Schlaflosigkeit.

Daß seine Attitüde darauf gerichtet war, andere an sich zu ziehen, geht auch aus dem kleinen Umstand hervor, daß er nächsten Tages bat, auch ich möge zu ihm kommen, statt daß er wie gewöhnlich zu mir kommen müsse.

Eine weitere berechtigte Frage ist nun die: warum griff er zum Arrangement der Angst? Und wie kam er zur Konstruktion der Schlaflosigkeit? —

Die erste Antwort können wir uns aus dem Material der Persönlichkeitsanalyse holen. Er hatte in der Kindheit nur Angst vor der Lokomotive und vor ihrem Pfiff und benutzte diese Angst, um die Mutter zu sich zu zwingen, sich in ihrem Schoß zu bergen. Sonst war er immer ein mutiger Junge gegewesen. Es spricht also die Vermutung dafür, daß seine nächtliche Angst mit einer Lokomotive in Verbindung stand. Hörten wir nicht, daß er nach Karlsbad reisen wollte, und daß der Bruder mit der Mutter per Eisenbahn fortgefahren war?

In der zweiten schlaflosen Nacht kam ihm außer der Schreibmaschine noch Görz in Istrien und Gojau, eine Stadt in der Nähe von Budweis, wie sich herausstellte, in den Sinn. In Görz war er einmal gewesen, als er von Venedig zur Mutter nach Karlsbad reiste. Er langte damals um 1 Uhr nachts in Budweis an, hatte am Bahnhof 2 Stunden zu warten, und fuhr um 3 Uhr weiter, diesmal in einem Schlafkupee, wo er also um 3 Uhr einschlief. Diese Zeit von 1-3 Uhr nachts war es aber auch, die er in den zwei schlaflosen Nächten unter Angst zugebracht hatte. Mit anderen Worten: Seine beiden Anfälle waren Wiederholungen seiner Reise nach Karlsbad, und er zeigte so, daß in ihm ein Zustand Platz gegriffen hatte, als ob er es nicht mehr erwarten könnte, mit seiner Mutter allein nach Karlsbad zu fahren. Diese Ungeduld prägte sich auch in seiner fortwährenden Klage über Hitze aus, mit der er deutlich zu sagen schien: Ich muß schon aus Wien fortfahren!

An einen Ort »Gojau« konnte er sich anfangs nicht erinnern. Als er nachsah, fand er, daß es ein Ort sei, der durch eine wenig befahrende Flügelbahn mit Budweis verbunden ist. Herrn Dr. v. Maday verdanke ich den Hinweis auf den abermals hier zutage tretenden Todesgedanken: Diese Flügelbahn endet mit der Station »Schwarzes Kreuz«.

Sein Erwachen um 1 Uhr, also zur selben Zeit, als er in Budweis schlaflos auf den Zug nach Karlsbad wartete, weist mit Sicherheit darauf hin, daß der Patient im Geiste während des Schlafes die Reise nach Karlsbad machte, die er schon einmal ohne die Mutter angetreten hatte, daß er aber diesmal durch das kindliche Arrangement der Angst — in planmäßiger Verbindung mit der Schlaflosigkeit — sein Persönlichkeitsideal durchzusetzen suchte: Die Mutter mußte zu ihm ins Zimmer kommen. Seine gegenwärtige psychische Situation lautet: — wenn ich nicht warten müßte (auf die Unterwerfung der Mutter, auf den Tod des Bruders, des Vaters), könnte ich — wie mein Bruder — allein mit der Mutter fahren. Sein Wunsch nach Bevorzugung wie in der Kindheit, wenn sie ihm beim Pfeifen der Lokomotive die Ohren zuhielt, greift deshalb auf eine Erinnerung zurück, wie er damals auch im Zusammenhang mit Karlsbad schlaflos war, weil er durch Angst und Schlaflosigkeit die Mutter beherrschen, sie vielleicht doch zur Reise bewegen könnte.

Unter anderem konnte uns dieser Fall belehren, daß die leitenden Ziele der Persönlichkeitsidee auch während des Schlafes nicht ruhen, daß sie sozusagen in körperliche Attitüden, wie im Traum in seelische, übergehen, um auch während des Schlafes in vorbereitender Weise den Weg zur Erfüllung der leitenden Idee auszuspüren. Wie immer in Stadien der größeren Unsicherheit geschieht dies Vorbauen gemäß den Erfahrungen, und zwar werden mit gutem Grunde die abstraktesten, dem Kern der Idee zunächst gelegenen Erinnerungen zu Hilfe genommen, da sie als Warnungen oder als Ansporn Geltung besitzen, nicht so sehr wegen ihrer wahrhaften Wirksamkeit in Gefahren, sondern weil sie der ganzen Persönlichkeit am geeignetsten erscheinen. In irgendeiner Art müssen sie allerdings auch reale Wirksamkeit entfalten können, da sie anders bald verlassen würden. Aber diese subjektive Wertung braucht durchaus nicht objektive Geltung zu besitzen. Das zustande kommende neurotische Arrangement muß bloß am Wege zum fiktiven Endziel des Nervösen liegen. Im obigen Falle genügt es, daß der Patient damit bloß seinen Kurs im Rahmen seiner Umgebung steigen sieht. Er hat die Mutter gegen ihren Willen gezwungen, sich in seinen Dienst zu stellen — dies ist die heutige realisierte Darstellung seiner einstigen Gottheitsidee oder, wie in diesem Falle, des einstigen Kaiserwahnes. (Von hier aus verstehen wir auch die Wahnideen der Epileptiker und anderen Psychotiker, die so oft Kaiser sein wollen, als stärkere Abstraktionen gemäß der ursprünglichen leitenden Fiktion.)

 

Der folgende Fall kann uns belehren, daß auch unbefriedigter Ehrgeiz durch stärkere Anspannung der Denkfunktion zu Schlaflosigkeit führen kann. Den Alcibiades ließen die Lorbeeren des Miltiades nicht schlafen — und in der Tat findet man Schlaflosigkeit infolge unbefriedigten Ehrgeizes nicht selten. Der Patient ist wie auf der Wache.

Ich hoffe, daß dieser Fall an Interesse nicht verliert, wenn ich mitteile, daß sich ein Arzt selbst darin einer Analyse unterzogen hat. Den Anlaß zu dieser Analyse gab folgender Vorfall, den der Autor folgendermaßen erzählt:

»Anläßlich des schrecklichen Schiffsunglücks der ›Titanic‹ konnte ich an mir die Ergriffenheit deutlich beobachten. In meinen freien Stunden fand ich mich oft im Gespräch über das Unglück, und vorwiegend war es die Frage, die von mir immer wieder aufgenommen wurde, ob man nicht doch ein Mittel hätte finden müssen, um die Untergehenden zu retten.

Eines Nachts wache ich aus dem Schlafe auf. Als richtiger Psychologe lege ich mir die Frage vor: warum ich, der sonst ein guter Schläfer ist, diesmal aufgewacht sei? Ich fand aber keine befriedigende Antwort, fand mich vielmehr kurze Zeit darauf in emsigem Nachdenken, wie man die Untergehenden der Titanic hätte retten können. Bald nachher — es war 3 Uhr — schlief ich ein.

In der nächsten Nacht wachte ich wieder auf. Ich sah auf die Uhr, es war V23 Uhr. Flüchtig kamen mir Gedanken über die sonstigen Theorien der Schlaflosigkeit, unter anderm fiel mir auch die Meinung eines Autors ein, nach der man, einmal an ein Aufwachen aus dem Schlafe gewöhnt, leicht wieder um die gleiche Zeit erwachen kann. Aber mit einem Male wußte ich intuitiv, wie es sich mit meinem Aufwachen verhielt. Um V23 Uhr war die Titanic untergegangen. Ich hatte die Fahrt im Schlafe mitgemacht, hatte mich in die schreckliche Situation des Unterganges eingefühlt und war also schon zweimal des Nachts erwacht, als das Schiff unterging!

Auch in der zweiten Nacht nahmen meine Gedanken die Richtung, ein Mittel zu finden, wie man sich in einer solchen Situation retten könnte; sich und die anderen. Fast gleichzeitig erriet ich, daß hier der vorbeugende und vorbereitende Versuch einer Sicherung am Werke war, der in gleicher Weise der Vorsicht wie dem Ehrgeiz dienen sollte. Ich verstand auch ohne weiteres, daß die Amerikafahrt — ein altes Ziel meiner Sehnsucht — in sinnreicher Weise den Kampf um meine wissenschaftliche Repräsentation symbolisierte. Und wie im Wachen, so tat ich auch im Schlafe. Ich war auf der Suche nach einem Mittel zur Rettung, und ich stellte die sinnfälligste Situation her, um mich zur Gegenwehr zu rüsten und zu mobilisieren: Einfühlung in die stärkste Gefahr und Nachdenken! Aufwachen zur Bewußtheit!

Leicht war auch zu verstehen, daß diese Art, auf Gefahren meiner Person und mir nahestehender zu reagieren, meine persönliche Attitüde sein mußte. Und bald fand ich den Zusammenhang.

Ich bin ja Arzt. Es gehört also zu meinen Obliegenheiten, gegen den Tod ein Mittel zu finden. Damit aber war ich schon auf mir bekanntem Boden. Der Kampf gegen den Tod gehörte nämlich zu den stärksten Antrieben meiner Berufswahl.1) Wie so viele von den Ärzten, bin auch ich Arzt geworden, um den Tod zu überwinden. Der Anlaß zu dieser leitenden Fiktion stammt gewöhnlich aus eigener durchgemachter Lebensgefahr oder Krankheit, auch nahestehender Personen, in den ersten Kinderjahren.

Aus meiner Jugendgeschichte erinnere ich mich an mehrere Ereignisse, in denen mir der Tod nahe schien. So hatte ich aus einer Rachitis außer einer Schwerbeweglichkeit jene gemilderte Form von Stimmritzenkrampf erworben, die ich später als Arzt oft bei Kindern antraf, wo Verschluß der Glottis beim Weinen eintritt, so daß ein Zustand von Atemnot und Stimmlosigkeit das Weinen unterbricht, bis sich nach Lösung des Krampfes das Weinen wieder fortsetzt. Der Zustand der dabei eintretenden Atemnot ist höchst unangenehm, wie ich aus meiner Erinnerung weiß; ich dürfte damals noch nicht drei Jahre alt gewesen sein. Die übertriebene Furcht meiner Eltern und die Besorgnis des Hausarztes waren mir nicht entgangen und erfüllten mich, abgesehen von der Peinlichkeit der Atemnot, mit einem Gefühl, das ich heute als Gefühl der Unruhe und der Unsicherheit bezeichnen möchte. Ferner erinnere ich mich, daß ich eines Tages, kurz nach einem solchen Keuchanfall Gedanken hatte, wie ich, da bisher kein Mittel gefruchtet hatte, dieses lästige Leiden beseitigen könnte. Auf welchem Wege ich dazu kam, ob die Anregung von außen kam, oder ob ich allein die Idee ausheckte, kann ich nicht sagen: Ich beschloß, das Weinen ganz einzustellen, und sooft ich die erste Regung zum Weinen verspürte, gab ich mir einen Ruck, hielt mit dem Weinen inne, und das Keuchen verschwand. Ich hatte ein Mittel gegen das Leiden, vielleicht auch gegen die Todesfurcht gefunden.

Kurze Zeit später, ich war drei Jahre geworden, starb mir ein jüngerer Bruder. Ich glaube, die Bedeutung des Sterbens verstanden zu haben, war fast bis zu seiner Auflösung bei ihm und wußte, als man mich zu meinem Großvater schickte, daß ich das Kind nimmer sehen werde, daß er am Friedhof begraben würde. Meine Mutter holte mich nach dem Leichenbegängnis ab, um mich nach Hause zu bringen. Sie war sehr traurig und verweint, lächelte aber ein wenig, als mein Großvater, um sie zu trösten, einige scherzende Worte zu ihr sagte, die sie wahrscheinlich auf weiteren Kindersegen verweisen sollten. Dieses Lächeln konnte ich meiner Mutter lange nicht verzeihen, und ich darf aus diesem Groll wohl schließen, daß ich mir der Schauer des Todes sehr wohl bewußt gewesen bin.

Im vierten Lebensjahre kam ich zweimal unter einen Wagen. Ich entsinne mich nur, daß ich mit Schmerzen auf einem Diwan erwachte, ohne daß ich wußte, wie ich dorthin gekommen war. Ich muß also wohl in Ohnmacht gefallen sein.

Mit fünf Jahren erkrankte ich an einer Lungenentzündung und wurde vom Arzte aufgegeben. Ein zweiter Arzt schlug doch eine Behandlung vor, und ich war in wenigen Tagen gesund. Man hatte in der Freude über meine Genesung noch lange Zeit über die Todesgefahr gesprochen, in der ich angeblich geschwebt hatte; seit dieser Zeit entsinne ich mich, daß ich mir stets meine Zukunft als Arzt vorgestellt habe. Das heißt, ich habe ein Ziel festgesetzt, von dem ich erwarten durfte, daß es meiner kindlichen Not, meiner Furcht vor dem Tode ein Ende machen konnte. Es ist klar, daß ich von dieser Berufswahl mehr erwartet habe, als sie leisten konnte: Den Tod, die Todesfurcht überwinden, das hätte ich eigentlich von menschlichen Leistungen nicht erwarten dürfen; bloß von göttlichen. Die Realität gebietet aber zu handeln. Und so war ich gezwungen, im Formenwechsel der leitenden Fiktion, im Bewußten so weit mein Ziel abzuwandeln, bis es der Realität zu genügen schien. Da kam ich zur ärztlichen Berufswahl, um den Tod und die Todesfurcht zu überwinden.2)

Aus der Berufswahlphantasie eines etwas zurückgebliebenen Knaben, die sich auf ähnlichen Eindrücken — Tod einer Schwester und Kränklichkeit in früher Kindheit, Bekanntschaft mit dem Tod — aufbaute, erfuhr ich, daß dieser Knabe beschlossen hatte, Totengräber zu werden, um, wie er sagte, die anderen einzugraben und nicht selbst eingegraben zu werden. Das starre gegensätzliche Denken dieses später neurotischen Knaben — oben oder unten, aktiv oder passiv, Hammer oder Amboß, flectere si nequeo superos, Acheronta mo-vebo! — haben mittlere Möglichkeiten nicht zugelassen, seine kindische, rettende Fiktion ging im Nebensächlichen auf das Gegenteil.

Aus der Zeit meiner Berufswahl, etwa aus dem fünften Lebensjahre, datiert folgendes Erlebnis: Der Vater eines Spielkameraden fragte mich, was ich werden wolle. Ich gab zur Antwort: ein Doktor! Der Mann, der vielleicht schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht hatte, erwiderte darauf: »Da soll man dich gleich an dem nächsten Laternenpfahl aufhängen!« Selbstverständlich ließ mich — eben wegen meiner regulativen Idee — diese Äußerung völlig kalt. Ich glaube, ich dachte damals, daß ich ein guter Arzt werden wolle, dem niemand feindlich gesinnt sein sollte. Außerdem fiel mir ein, daß dieser Mann ein Laternenfabrikant war.

Kurz nachher kam ich in die Volksschule. Meine Erinnerung sagte mir, daß ich auf dem Wege in die Volksschule über einen Friedhof gehen mußte. Da hatte ich nun jedesmal Furcht und sah es mit großem Mißbehagen, wie die andern Kinder harmlos den Friedhofweg gingen, während ich ängstlich und mit Grauen Schritt vor Schritt setzte. Abgesehen von der Unerträglichkeit der Angst quälte mich der Gedanke, an Mut den andern nachzustehen. Eines Tages faßte ich den Entschluß, dieser Todesangst ein Ende zu machen. Als Mittel wählte ich wieder die Abhärtung. (Todesnähe!) Ich blieb eine Strecke hinter den andern Kindern zurück, legte meine Schultasche an der Friedhofsmauer auf die Erde und lief wohl ein dutzendmal über den Friedhof hin und zurück, bis ich dachte, der Furcht Herr geworden zu sein. Später glaube ich den Weg ohne Angst gegangen zu sein.

30 Jahre später traf ich einen ehemaligen Schulkameraden, mit dem ich Kindheitserinnerungen aus der Volksschule austauschte. Es fiel mir dabei ein, daß derzeit jener Friedhof nicht mehr bestehe, und fragte, was aus dem Friedhof, der mir solche Beschwerden gemacht hatte, geworden sei. Verwundert antwortete mir mein ehemaliger Kamerad, der länger als ich in jener Gegend zugebracht hatte, daß auf dem Wege zu unserer Schule niemals ein Friedhof gewesen sei. Da erkannte ich, daß die Friedhofsgeschichte eine dichterische Einkleidung für meine Sehnsucht war, die Angst vor dem Tode zu überwinden. Sie sollte mir ähnlich wie in anderen Lebenslagen zeigen, daß man den Tod und die Todesangst überwinden könne, daß es ein Mittel geben müsse, und dies wirkte wie ein kraftvoller Zuspruch, daß es mir gelingen könne, in schwierigen Lebenslagen ein solches Mittel gegen den Tod zu finden. So kämpfte ich gegen meine Kindheitsfurcht, so bin ich Arzt geworden, und so sinne ich auch jetzt noch Problemen nach, die mich gemäß dieser psychischen Eigenart anziehen, was bei der Titanic-Katastrophe in hervorragendem Maße der Fall war.3)

Ja mein Ehrgeiz ist so sehr durch diese leitende Fiktion, den Tod zu überwinden, festgelegt, daß ihn andere Ziele wenig aufstacheln können. Es kann vielmehr leicht der Eindruck erweckt werden, als ob mir in den meisten Beziehungen des Lebens der Ehrgeiz fehlte. Die Erklärung für dieses double vie, für diese Spaltung der Persönlichkeit, wie es die Autoren nennen würden, liegt darin, daß der Ehrgeiz ja nur ein Mittel darstellt, keinen Zweck, so daß er bald benützt, bald beiseite geschoben wird, je nachdem das vorschwebende Ziel bald mit diesem Charakterzug, bald ohne ihn leichter zu erreichen ist. Andere Ziele, die andere locken mögen, erscheinen bei mir vielfach ausgeschaltet.«

Diese kleine Analyse zeigt uns die gleiche Dynamik, die ich in der gesunden und kranken Psyche aufgedeckt habe. Das Aufwachen bei Nacht stellt sich als Symbol, als Gleichnis des Lebens heraus, in welchem die Vergangenheit (Unsicherheit), die Gegenwart (Gefahr gegenüber skrupellosen Menschen), die Zukunft (Suchen nach einem Mittel) und das leitende Ziel (Uberwinder des Todes zu sein) widerspiegelt.

 

Der Schlaf kann als Abstraktion betrachtet werden. Zweck derselben wäre, dem Wachdenken, dem gesellschaftlich-notwendigen, also sozial angepaßten, bewußten Denken Ruhe zu gewähren, zugleich auch den sozial vermittelnden, über die eigene Körpersphäre hinausgreifenden Sinnesorganen. Im Schlaf ist das Körper- und Seelenleben den fertigen Bereitschaften der Psyche anheimgegeben, die aus früheren Zeiten stammen und eingeübt wurden. Sie nehmen die seelischen Bewegungen des Vortages entgegen und führen sie weiter zu dem in ihnen angedeuteten Ziel. Reste bewußter Denkvorgänge, der Traum, spiegeln in halluzinatorischer Art diese fortschreitenden seelischen Bewegungen. Der Traum aber, der nur begleitet, nie aber als Traumdenken das Handeln verursacht — wozu er meist wegen seiner allzu abstrakten, fragmentarischen Ausdrucksweise ungeeignet wäre — hat nicht die Aufgabe verständlich zu sein. Wo er verständlich wird, wo er Handlungen vorbereitet oder vorzubereiten scheint, wo er antreibt, abschreckt oder ermahnt, ist in ihm eine individuell vorbereitete Tendenz eingegangen. Ebenso, wo er erinnert oder vergessen wird, wobei die Erinnerung oder das Vergessen der gleichen Tendenz entsprechen kann.4)

Die Störung des Schlafes gehorcht der gleichen Tendenz. Die Schlaflosigkeit wird als Krankheitsbeweis protegiert, wie in unserem ersten Falle, sobald sie sich als das brauchbarste Mittel zur Durchführung der eigenen Überlegenheit, des eigenen Lebensstils erweist. Die Klagen solcher Patienten, scheinbar mit unserer Darlegung in Widerspruch, dienen nur dazu, den Kurs dieses Symptoms höher zu treiben. Das Erwachen erfolgt in diesen Fällen durch ein planmäßiges, wenn auch unbewußt gebliebenes Arrangement, durch Schrecken, Schmerz oder durch einen unerkannt zugrunde liegenden Akt der Willkür. Begleitende Träume zeigen in Analogien häufig die Quelle an, aus der die neurotische Tendenz die Empfindung der Besorgnis für ein bevorstehendes Problem fälschend verstärkt oder absichtsvoll geschöpft hat. Daß Träume dabei unwesentlich sind oder fehlen können, zeigt der zweitbeschriebene Fall. Nach dem dort ausgebreiteten Material dürften wir die vorübergehende Schlaflosigkeit wohl im Sinne eines großen Selbstvertrauens ansehen, dem das wache Denken eine untrügliche Instanz bedeutet. Die Traumlosigkeit der zwei Nächte ist — wie der Träumer angibt — nichts Sonderbares. Seit er mit den Fragen der Traumdeutung vertraut ist, sind Träume bei ihm äußerst rar geworden, wahrscheinlich weil sie Wert und Bedeutung durch stärkere Bereitschaft zur Tat eingebüßt haben.

Im ersten Fall ist die bedenkliche Richtung, in der Selbstschädigung (epileptische Neurose) bis zum Tod zu gehen, um eine vage Idee zur Erfüllung zu bringen, deutlich zu erkennen. Daß solche »Todestriebe« Sekundärerscheinungen entmutigter Nervöser sind und daß sie einer Wichtigmacherei, einer Überwertung der eigenen Persönlichkeit, einer Erpressung ihre Hervorhebung verdanken, hat die Individualpsychologie »längst nachgewiesen«. Die vorübergehende Schlaflosigkeit erscheint als eine Etappe auf diesem Wege, ähnlich wie die Anfälle von Bewußtlosigkeit, die mit starken traumatischen Verletzungen einhergegangen waren.5) Der Ablauf dieses Falles ist nicht durchsichtig genug, soll aber als Hinweis auf die Rolle der genuinen und Affektepilepsie nicht verschwiegen werden. In psychotherapeutischer Behandlung erwiesen sich die Anfälle als deutbar, konnten vorausgesagt und gemildert, vielleicht auch eingeschränkt werden. Vorher waren die Anfälle, die sich etwa alle 14 Tage einstellten, ausgeblieben, als er sich behufs Entscheidung über eine Trepanation einen Monat lang in Beobachtung befand. In meiner Behandlung war also nur eine Milderung der Anfälle, dazu ein freieres Wesen und ein umgänglicher Charakter erzielt worden. Kurz bevor er eigenwillig und im Starrsinn meine Behandlung verließ, konnte ich dem Patienten zeigen, daß er mit unbewußter Absicht auf eine Störung der Magenfunktion hinarbeite. Einige Tage nachher erkrankte er an einem langwierigen Ikterus. Weitere Befunde fehlen mir aus eigener Anschauung. Ich erfuhr aus zweiter Hand, daß er in der Folge mehrmals Wutanfälle zeigte, daß er kurzdauernde Delirien aufwies, in denen er eine Kaiserrolle spielte (wie sie mir aus seinen unbewußten Phantasien als sein Symbol der Überlegenheit bekannt geworden war), und daß er in einem kurzdauernden Wutanfall, nicht in einem Status epilepticus, an Herzschwäche etwa ein halbes Jahr nach Abschluß meiner Behandlung gestorben sein soll.

 

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1) Siehe ›Kindliche Phantasien über Berufswahl‹ von Dr. Kramer. In: Heilen und Bilden, l. c.

2) Über die Bedeutung des Todes für das Philosophieren s. P. Schrecker, Bergsons Persönlichkeitsphilosophie. München 1912.

3) Eine andere Art der Überwindung der Todesfurcht in Wagners »Siegfried«: »Um der Götter Ende grämt mich die Angst nicht, seit mein Wunsch es will!« — Über diesen psychischen Mechanismus, den ich als für die Zwangsneurose charakteristisch beschrieben habe (Fiktion des freien Willens, Ersatz eines fremden Zwanges durch den eigenen usw.) s. auch Furtmüller Ethik und Psychoanalyse. München 1912. Freud scheint in seinen letzten Arbeiten diesen Mechanismus vergröbernd als Identifikation erklären zu wollen.

4) Weitere Befunde, die ich später veröffentlicht habe, zeigten mir 1. daß der Traum ein Training aufweist in der Richtung des Lebensstils, 2. daß er als eine seelische Intoxikation entgegen dem common sense Gefühle und Emotionen wachruft, die dem Lebensstil genehm sind, ihm gestatten, sich in irgendeiner Lebenslage leichter durchzusetzen. Siehe Internat. Zeitschr. f. Individualpsychologie. Leipzig 1927.

5) Die stärkste Verletzung kam an dem Tage zustande, als ein Psychotherapeut in seinem Unverständnis die Garantie übernahm, es werde dem Patienten, wenn man ihn ohne Begleitung ließe, nichts geschehen.


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