11. Sexuelle Perversionen
Ich hoffe, daß die hier nur schematische Darstellung der sexuellen Perversionen 1) keine Enttäuschung zur Folge haben wird. Ich darf dies um so eher erwarten, als der größte Teil meiner Leser mit den Grundanschauungen der Individualpsychologie vertraut ist, so daß das spurweise Anklingen eines Problems wie eine ausführliche Behandlung desselben entgegengenommen werden wird. Hier kommt es viel mehr darauf an, den Einklang unserer Weltanschauung mit der Struktur der sexuellen Perversion zu zeigen. In unserer Zeit ist das keine ungefährliche Angelegenheit, denn gerade heute ist die Strömung übermächtig, die die sexuellen Perversionen auf angeborene Faktoren zurückführen möchte. Das ist so bedeutsam, daß man diesen Gesichtspunkt nicht aus den Augen lassen darf; nach unserer Anschauung handelt es sich um Kunstprodukte, die in die Erziehung eingeflossen sind, ohne daß der Betroffene es weiß. Daraus sieht man den großen Gegensatz, in dem wir zu anderen stehen, und die Schwierigkeiten, die für uns nicht geringer werden, wenn andere, wie z. B. Kraepelin, eine ähnliche Auffassung betonen.
Um unser Verhältnis zu anderen zu beleuchten, will ich einen Fall erzählen, der aber nichts mit sexuellen Perversionen zu tun hat, sondern nur als Beispiel für meinen Standpunkt der psychologischen Auffassung dienen soll. Es handelt sich um eine Frau, die in glücklicher Ehe lebt und zwei Kinder hat. Sie steht seit sechs Jahren im Kampf mit ihrer Umgebung. Es handelt sich um folgendes Problem: Sie behauptet, daß eine langjährige Freundin, die sie schon seit ihrer Kindheit kennt und wegen ihrer Fähigkeiten bewundert hatte, sich seit sechs Jahren als herrschsüchtige Frau entpuppte und immer auf Quälereien aus sei. Sie selbst habe darunter am meisten zu leiden und sie führt eine Anzahl von Beweisen dafür an, die von den anderen geleugnet werden. Sie behauptet: »Es könnte sein, daß ich in manchen Dingen zu weit gegangen bin, aber im Grunde habe ich doch recht. Vor sechs Jahren hat diese Freundin in Abwesenheit einer anderen Freundin abfällige Bemerkungen über letztere gemacht, während sie in deren Anwesenheit immer die Liebenswürdige spielte.« Sie fürchtet nun, daß die Freundin auch ähnliche Bemerkungen über sie machen könnte. Ein anderer Beweis: Die Freundin bemerkte: »Der Hund ist zwar gehorsam, aber dumm.« Dabei warf sie einen Blick auf unsere Patientin, der sagen sollte: »So wie du.« Die Umgebung der Patientin war über die Auslegung dieses Ausspruches, dem sie kein Gewicht beilegte, außerordentlich entrüstet und stand fest auf der Seite der Angeschuldigten.
Den anderen gegenüber zeigte sich diese Frau von der schönsten Seite. Zur Bekräftigung ihrer Anschauung sagte die Patientin: »Seht doch nur, wie sie ihren Hund behandelt. Sie quält ihn und läßt ihn Kunststücke machen, die dem Hund ungeheuer schwerfallen.« Die Umgebung meinte: »Das ist doch nur ein Hund, das kann man nicht mit dem Verhalten zu Menschen vergleichen, zu Menschen ist sie gütig.« Die Kinder meiner Patientin hingen sehr an der Freundin und stellten sich gegen die Anschauung der Mutter. Auch der Mann leugnete, daß eine andere Auffassung möglich sei. Die Patientin fand immer neue Beweise für die Herrschsucht der Freundin, die sich besonders gegen sie richteten. Ich stand nicht an, der Patientin zu erklären, daß ich den Eindruck habe, daß sie im Recht sei. Sie war begeistert. Es ergab sich dann noch manches, was für die Herrschsucht der Frau sprach, und mein Eindruck wurde mir schließlich von dem Mann bestätigt. Da sah man auf einmal: die arme Frau hat ja recht, sie macht nur einen schlechten Gebrauch davon. Anstatt zu verstehen, daß es so etwas wie verkappte Herabsetzungstendenz gibt und daß man einem Menschen etwas zugute halten muß, wandte sie sich vollkommen gegen diese Frau, fand alles tadelnswert und ärgerte sich. Sie hatte eine feinere Epidermis, sie konnte besser erraten, wenn auch nicht verstehen, was in der Freundin vorging.
Was ich damit sagen will, ist: Es ist oft das Fatalste in der Welt, wenn man recht hat. Es klingt überraschend, aber jeder hat es vielleicht in seinem eigenen Leben erfahren, daß er recht gehabt hatte und daß daraus Unheil entsprungen ist. Sie brauchen nur daran zu denken, was geschehen könnte, wenn diese Frau jemandem in die Hände fiele, der keine feine Epidermis hat: er würde von Querulantenwahn, paranoiden Ideen sprechen und würde sie so behandeln, daß es ihr immer schlechter gehen würde. Es ist schwer, seinen Standpunkt aufzugeben, wenn man recht hat. In dieser Lage befinden sich alle Forscher, die überzeugt sind, recht zu haben, und sich nun verteidigen müssen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn auch um unsere Anschauungen große Kämpfe entbrennen. Wir müssen uns nur hüten, nur recht zu haben und einen schlechten Gebrauch davon zu machen. Wir wollen uns dadurch nicht irritieren lassen, daß es so viele Forscher gibt, die unsere Anschauungen bekämpfen. In der Wissenschaft muß man außerordentlich viel Geduld haben. Wenn heute in bezug auf sexuelle Perversionen der Hereditätsgedanke verwaltet, ob es sich nun um einfache Hereditarier handelt, die vom dritten Geschlecht sprechen oder davon, daß das andere Geschlecht einem eingeboren ist, oder um solche, die meinen, daß angeborene Faktoren zur Entfaltung kommen und daß man nichts dagegen machen könne, oder ob man von angeborenen Komponenten spricht, alle diese Faktoren können uns nicht bestimmen, unsere Anschauung zu verlassen. Es zeigt sich, daß die Organiker bei der Suche nach organischen Veränderungen, nach organischen Anomalien außerordentlich schlecht abschneiden.
Was die Homosexualität anbelangt, möchte ich eine Mitteilung vorlegen, die im vorigen Jahr erschienen ist und jenes Problem betrifft, das 1927 aufgeworfen wurde, als Laqueur fand, daß man im Harn aller Menschen Hormone des anderen Geschlechts findet. Wer nur schwach in unserer Anschauung ist, auf den wird dieses Faktum überraschend wirken. Er könnte sich denken, daß, wenn sich Perversionen entwickeln, sie aus der Zweigeschlechtlichkeit stammen. Die Untersuchungen von Bran an neun Homosexuellen haben ergeben, daß sich dieselben Hormone bei ihnen fanden wie bei Nichthomosexuellen. Das ist ein Schritt vorwärts in unserer Richtung. Die Homosexualität hängt nicht von den Hormonen ab.
Ich will ein Schema vorlegen, nach dem alle Richtungen der Psychologie eingeteilt werden können. Es gibt Besitzpsychologien, die sich damit befassen, festzustellen, was ein Mensch auf die Welt mitbringt und besitzt, die aus diesem Besitz alles Seelische ableiten wollen. Vom Standpunkt des Common sense ist das eine fatale Angelegenheit. Sonst ist man im Leben nicht geneigt, alle Folgerungen aus dem Besitz zu ziehen, sondern daraus, welchen Gebrauch einer von dem Besitz machen kann. Uns interessiert der Gebrauch viel mehr als der Besitz. Wenn einer ein Schwert besitzt, so ist damit nicht gesagt, daß er davon den richtigen Gebrauch macht; er kann es wegwerfen, kann dreinhauen, es schleifen usw. Uns interessiert der Gebrauch. Deshalb möchte ich sagen: es gibt andere Richtungen der Psychologie, die man als Gebrauchspsychologien betrachten müßte. Die Individualpsychologie, die die Stellungnahme eines Menschen zu den Lebensfragen berücksichtigt, um ihn zu verstehen, berücksichtigt den Gebrauch. Für richtig denkende Menschen brauche ich nicht hinzuzufügen, daß niemand einen Gebrauch machen kann, der über seine Fähigkeiten hinausgeht, daß er immer im Rahmen menschlicher Fähigkeiten bleibt, über deren Tragweite wir nichts Endgültiges aussagen können. Es ist bedauerlich und zeugt von dem triumphalen Einzugsmarsch des Ignorantentums in das Feld der Psychologie, daß man über Gemeinplätzliches noch reden muß.
Bezüglich des Gebrauchs der Fähigkeiten ist zu sagen: es war eigentlich der stärkste Schritt, den die Individualpsychologie gemacht hat, daß sie das Bewegungsgesetz im Seelenleben eines Menschen als das Ausschlaggebende für seine Eigenart erklärt hat. Obgleich es notwendig war, die Bewegung einfrieren zu lassen, um sie als Form zu sehen, haben wir immer alles von dem Gesichtspunkt aus, daß alles Bewegung ist, gesehen, und gefunden, daß es so sein muß, um zur Lösung von Fragen, zur Überwindung von Schwierigkeiten zu gelangen. Da kann man nicht sagen, daß das Lustprinzip dem widersprechen würde; auch das Streben nach Lust ist eine Überwindung eines Mangels oder einer Unlustempfindung. Wenn das richtig ist, dann werden wir die sexuellen Perversionen auch in diesem Licht sehen müssen. So wird erst einmal das Feld der Bewegung beleuchtet, wie es die Individualpsychologie verlangt. Ich möchte betonen, daß, wenn wir dabei zu Formeln, Grundanschauungen der Struktur der Perversionen kommen, für den einzelnen Fall damit lange nicht genug getan ist. Jeder einzelne Fall stellt etwas Einmaliges dar, etwas nie Wiederkehrendes. Wenn man z. B. an eine Therapie geht, sind allgemeine Redensarten zu verwerfen. Aus der Tatsache der Gebrauchspsychologie folgt, daß das Individuum, losgelöst aus dem normalen, sozialen Verband, nichts von seiner Eigenart verraten könnte. Wir werden erst dann über seine Eigenart etwas aussagen können, wenn wir es einer Prüfung unterwerfen und nun den Gebrauch, den es von seinen Fähigkeiten macht, beobachten. In diesem Sinne ist die Individualpsychologie der viel engeren Experimentalpsychologie angenähert, nur daß das Leben da die Experimente anstellt. Die exogenen Faktoren, die sich vor das Individuum stellen, sind für unsere Betrachtung von größter Bedeutung, wir müssen verstehen lernen, welche Bezogenheit gerade dieses einmalige Individuum zu dem bevorstehenden Problem hat. Wir müssen zwei Seiten betrachten und lernen, in welcher Art dieses Individuum sich gegenüber dem äußeren Problem bewegt. Wir suchen, wie es Herr über das Problem zu werden trachtet. Die Gangart, das Bewegungsgesetz des Individuums einer stets sozialen Aufgabe gegenüber ist das Beobachtungsfeld der Individualpsychologie. Wir stehen hier vor millionenfachen Verschiedenheiten. Man kann sich in der ungeheuren Verschiedenheit nur zurechtfinden, wenn man vorläufig etwas Typisches annimmt, im sicheren Bewußtsein, daß das, was man als typisch annimmt, immer Varianten zeigt, die in der Folge sichergestellt werden müssen. Das Verständnis für das Typische beleuchtet nur das Untersuchungsfeld, und nun beginnt die schwierige Aufgabe, das Individuelle herauszufinden. Dazu gehört eine feine Epidermis; man kann sie erwerben. Ferner muß die individuell erfaßte Schwere und Wucht des vorliegenden Problems richtig verstanden werden, was nur gelingt, wenn man genug soziale Erfahrung besitzt und ein feines Einfühlungsvermögen in den richtig erfaßten Lebensstil des Individuums, d. h. in das Ganze seiner Eigenart. In diesem Bewegungsgesetz, das wir wahrnehmen, können wir vier typische Formen unterscheiden, die ich in meinen zwei letzten Arbeiten in der Zeitschrift für Individualpsychologie 2) beschrieben habe.
Abgesehen von den anderen Bewegungsformen gegenüber den Aufgaben des Liebeslebens finden wir in auffallender Weise bei den Perversionen die verengerte Aufmarschbreite. Es zeigt sich, daß die Aufmarschbreite nicht in normalem Ausmaße vorhanden ist, daß sie außerordentlich eingeengt ist, daß nur ein Teil des Problems gelöst wird, wie z. B. beim Fetischismus. Wichtig ist auch das Verständnis für die Tatsache, daß alle diese Bewegungsformen durch Ausschaltung der Norm auf ein Ziel der Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen gerichtet sind. Wenn wir die Bewegung betrachten, den Gebrauch, den einer von seinen Fähigkeiten macht, wobei ihn seine Meinung leitet, der Sinn, den er dem Leben unterschiebt, ohne es zu wissen, ohne es in Worte und Begriffe gebracht zu haben, wenn wir von diesem Standpunkt ausgehen, können wir erraten, welches Ziel der Überwindung ihm vorschweben muß, welche Genugtuung, die ihm als Überwindung erscheint, wenn er sich dem Liebesproblem nicht ganz hingibt, in einer Distanz bleibt oder langsamer vorgeht und die Zeit vertrödelt. Da könnte man auf das Beispiel des Fabius Maximus Cunctator hinweisen, der eine Schlacht gewann, weil er lange gezögert hatte, was aber wieder nur zeigt, daß man nicht starr an einer Regel festhalten darf. Dieses Ziel der Überwindung wird auch in den sexuellen Neurosen (Frigidität, Ejaculatio praecox usw.) klar. Das Problem wird berührt, aber in einer Distanz, in zögernder Haltung, ohne Kooperation, was nicht zur Lösung des Problems führt. In dieser Bewegungsform finden wir auch die Tendenz zur Ausschaltung, die am stärksten bei der reinen Homosexualität zutage tritt. Auch in anderen Fällen ist sie wirkend, wie beim Fetischismus und Sadismus. In letzterem finden wir eine starke Aggression, die nicht zur Lösung des Problems führt, und können eine eigenartige Form des Zögerns, der Ausschaltung wahrnehmen, in der eine Sexualerregung zur Unterdrückung des anderen führt, einen starken Ansturm, der zu einer mangelhaften, d. h. einseitigen Lösung eines Problems Anlaß gibt. Ebenso beim Masochismus, bei dem das Ziel der Überlegenheit in zweierlei Richtungen verstanden werden muß. Es ist klar, daß der Masochist seinem Partner Befehle gibt und daß er sich trotz seines Schwächegefühls als Befehlshaber des anderen empfindet. Gleichzeitig schaltet er die Möglichkeiten einer Niederlage bei normaler Aufmarschbreite aus. Er kommt durch einen Trick zur Überwindung der ängstlichen Spannung.
Wenn wir die individuelle Stellungnahme des Individuums betrachten, so finden wir folgendes: wenn einer eine bestimmte Bewegungsform einhält, ergibt es sich von selbst, daß er andere Formen der Lösung des Problems ausschaltet. Diese Ausschaltung ist keine zufällige; ebenso wie dieser Bewegungsvorgang trainiert ist, so ist auch die Ausschaltung trainiert. Es gibt keine sexuelle Perversion ohne Training. Das sieht freilich nur der, der auf die Bewegung achtet. Noch einen zweiten Gesichtspunkt werden wir scharf hervorheben müssen. Der normale Bewegungsvorgang wäre der, auf ein Problem loszugehen, um es in seiner Gänze zu lösen. Wir finden diese Vorbereitung gar nicht, wenn wir die vorhergehende Bewegung des Individuums betrachten. Wenn wir bis in die ersten Kinderjahre des Individuums zurückgehen, finden wir, daß in dieser Zeit, angeregt durch Einflüsse von außen, aus angeborenen Fähigkeiten und Möglichkeiten ein Prototyp gebildet wird. Was aber dieses Kind aus allen Einflüssen und dem Erlebnis seiner Organe 3) macht, können wir vorher nicht wissen. Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten in Hülle und Fülle; ich war immer bemüht, sie hervorzuheben und gleichzeitig ihre kausale Bedingtheit zu leugnen. Es ist nicht richtig, daß ein Kind, das mit einer Schwäche der endokrinen Organe zur Welt kommt, ein Neurotiker werden muß, aber es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß im allgemeinen gewisse Erlebnisse in annähernd ähnlicher Richtung sich manifestieren, wenn nicht die richtigen erzieherischen Einflüsse zugunsten des sozialen Kontaktes wirksam werden. Auch die Einflüsse des Milieus sind nicht derart, daß wir voraussagen könnten, was das Kind daraus machen wird. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums. Jeder wird einen Irrtum gestalten, weil niemand der absoluten Wahrheit habhaft werden kann. Es zeigt sich folgendes: Der Prototyp muß, um ein annähernd normaler Mensch zu werden, mit einem gewissen Impuls zur Mitarbeit versehen sein. Es hängt die ganze Entwicklung eines Menschen davon ab, wieviel Kontaktgefühl in seinem dritten, vierten, fünften Lebensjahr entwickelt ist. In dieser Zeit schon zeigt sich der Grad der Anschlußfähigkeit. Wenn man die Fehlschläge daraufhin betrachtet, so sieht man, daß alle fehlerhaften Bewegungsformen aus einem Mangel an Kontaktfähigkeit zu erklären sind. Noch mehr: wegen seiner Eigenart ist der Betreffende gezwungen, gegen jede andere Form zu protestieren, für die er nicht vorbereitet ist. Wir müssen im Urteil gegen diese Menschen tolerant sein, weil sie es nicht gelernt haben, das genügende Maß von sozialem Interesse zu entwickeln. Wer dies verstanden hat, versteht auch, daß das Liebesproblem ein soziales Problem ist, das von einem nicht gelöst werden kann, der für den anderen wenig Interesse aufbringt, auch nicht von einem gelöst werden kann, der es nicht in sich trägt, daß er an der Entwicklung der Menschheit mitbeteiligt ist. Der wird ein anderes Bewegungsgesetz haben als ein Mensch, der zur Lösung der Liebesfrage geeignet ist. So können wir von allen Perversen feststellen, daß sie nicht zu Mitgehenden geworden sind.
Wir können auch die Fehlerquellen herausfinden, die uns verstehen lassen, warum das Kind im Mangel an Kontaktfähigkeit irrtümlich steckengeblieben ist. Diejenige Erscheinung im gesellschaftlichen Leben, die den stärksten Anlaß zur mangelhaften Kontaktfähigkeit gibt, ist die Verwöhnung. Verwöhnte Kinder haben nur mit der verwöhnenden Person Kontakt und sind infolgedessen genötigt, alle anderen Personen auszuschalten. Für jede einzelne Perversion sind noch andere Einflüsse nachzuweisen. Man kann sagen: hier hat unter der Einwirkung dieses Erlebnisses das Kind sein Bewegungsgesetz so gestaltet, daß es die Frage seiner Beziehung zum anderen Geschlecht in dieser Richtung durchgeführt hat. Alle Perversen zeigen ihr Bewegungsgesetz nicht nur dem Liebesproblem gegenüber, sondern bei allen Prüfungen, für die sie nicht vorbereitet sind. Deswegen finden wir bei sexuellen Perversionen alle Charakterzüge der Neurose, wie Überempfindlichkeit, Ungeduld, Neigung zu Affektausbrüchen, Gier, wie sich ja auch alle Perversen damit rechtfertigen, daß sie wie unter Zwang stehen. Es ist eine gewisse Besitzgier, die darauf ausgeht, den Plan, der ihnen durch ihre Eigenart gegeben ist, durchzuführen, so daß man einen so starken Protest gegen eine andere Form findet, daß für den anderen auch Gefahren nicht ganz ausgeschlossen sind (Lustmord, Sadismus).
Ich möchte zeigen, wie sich das Training für eine bestimmte Form der sexuellen Perversion ermitteln läßt, eine Beobachtung, die uns zeigt, daß gewisse Perversionen auf Grund eines solchen Trainings entstehen können. Man muß das Training nicht am Material suchen, man muß verstehen, daß das Training auch gedanklich und im Traum durchgeführt werden kann. Das ist ein starker Hinweis der Individualpsychologie, weil viele glauben, daß z. B. ein perverser Traum ein Beweis für angeborene Homosexualität ist, während wir aus unserer Auffassung des Traumlebens feststellen können, daß dieser homosexuelle Traum zum Training gehört, genau so wie er dazu gehört, das Interesse für das gleiche Geschlecht zu entwickeln, für das andere auszuschalten. Dieses Training möchte ich an einem Falle zeigen, in einer Zeit, wo von sexuellen Perversionen noch nicht die Rede sein kann. Ich lege zwei Träume vor, um zu zeigen, daß man das Bewegungsgesetz auch im Traumleben findet. Wenn man mit individualpsychologischen Kenntnissen ausgestattet ist, wird man nicht davor zurückschrecken, in jedem kleinen Bruchstück die ganze Lebensform zu erforschen. Wir müssen aber auch im Trauminhalt die ganze Lebensform finden, nicht nur in den Traumgedanken, die freilich bei richtigem Verständnis und bei richtiger Bezugnahme auf den Lebensstil zum Verständnis der Stellungnahme eines Individuums zu einem vorliegenden Problem außerordentlich förderlich sind, einer Stellungnahme, die durch seinen fixierten Lebensstil erzwungen ist. Ich möchte dem Gedanken Ausdruck geben, daß es uns so geht, wie bei einer Detektivarbeit. Wir sind nicht mit allen Materialien, die wir zu unserer Aufgabe benötigen, gesegnet, wir müssen die Fähigkeit des Erratens außerordentlich steigern, um die Einheit des Individuums festzustellen.
Erster Traum:
»Ich versetze mich in die zukünftige Kriegszeit. Alle Männer, sogar alle Knaben über zehn Jahre müssen einrücken ...«
Aus dem ersten Satz kann der Individualpsychologe schließen, daß das ein Kind ist, das sein Augenmerk auf die Gefahren des Lebens richtet, auf die Rücksichtslosigkeit der anderen.
»... Nun geschieht es, daß ich eines Abends, als ich aus dem Schlaf erwache, sehe, daß ich mich im Spitalsbett befinde. Am Bette sitzen meine Eltern.«
Aus der Auswahl des Bildes sieht man die Verwöhnung.
»Ich fragte sie, was los sei. Sie sagten, es sei Krieg. Sie wollten, daß mir der Krieg nicht so arg würde, deshalb haben sie mich operieren lassen, damit ich ein Mädchen werde.«
Daraus kann man sehen, wie die Eltern um ihn besorgt sind. Das heißt, wenn ich in Gefahr bin, so halte ich mich an meine Eltern. Das ist die Ausdrucksform eines verzärtelten Kindes. Wir werden keinen Schritt weitergehen, als wir unbedingt dürfen. Wir haben die Verpflichtung, bei unserer Arbeit so skeptisch wie möglich zu sein. Das Verwandlungsproblem taucht auf. Wenn man von wissenschaftlichen Versuchen absieht, die noch fraglich sind, so muß man sagen, daß die Verwandlung eines Knaben in ein Mädchen eine laienhafte Anschauung ist. Hier beweist sie die Unsicherheit in Beziehung auf das Geschlechtsleben; es zeigt uns, daß der Träumer in der Überzeugung von seiner Geschlechtsrolle nicht ganz sicher ist. Das wird manchen überraschen, wenn er hört, daß es ein zwölfjähriger Junge ist. Wir werden beobachten können, wie er zu dieser Auffassung kommt. Ihm erscheint das Leben durch Aufgaben wie die des Krieges unannehmbar; er protestiert dagegen.
»Die Mädchen müssen nicht in den Krieg ziehen. Wenn ich doch einrücken müßte, könnte mir der Geschlechtsteil nicht weggeschossen werden, da ich ja keinen wie die Buben habe.«
Im Krieg könnte einer um den Geschlechtsteil kommen. Ein wenig einleuchtendes Argument zugunsten der Kastration oder gar zum Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls in der Ablehnung des Krieges.
»Ich kam nach Hause, doch wie durch ein Wunder hatte der Krieg aufgehört.«
Also war die Operation überflüssig. Was wird er nun tun?
»Vielleicht ist es nicht notwendig, daß ich mich wie ein Mädchen verhalte, vielleicht gibt es keinen Krieg.«
Man sieht, er trennt sich nicht ganz von seiner Knabenrolle. Das müssen wir in seinem Bewegungsgesetz vermerken. Er trachtet, ein Stückchen auf der männlichen Seite weiterzugehen.
»Zu Hause wurde ich sehr traurig und weinte viel.«
Kinder, die viel weinen, sind verzärtelte Kinder.
»Als meine Eltern mich fragten, warum ich weine, sagte ich, ich habe Angst, da ich zum weiblichen Geschlecht zähle, daß ich, wenn ich älter werde, Geburtswehen bekommen würde.«
Mit der weiblichen Rolle ist es auch nichts. Wir waren auf dem richtigen Wege, sein Ziel dahin festzustellen, daß der Junge allen Unannehmlichkeiten ausweichen will. Ich habe bei sexuell Perversen gefunden, daß sie verzärtelte, oft in Ungewißheit gehaltene Kinder sind, zumindest eine große Sehnsucht nach Anerkennung, sofortigem Erfolg, persönlicher, gieriger Überlegenheit haben. Da kann es vorkommen, daß das Kind nicht weiß, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist ... Was soll er machen? Auf der Männerseite gibt es keine Hoffnung, auf der anderen auch nicht.
»Am nächsten Tag gehe ich in meinen Verein, denn ich bin in Wirklichkeit in einem Pfadfinderverein.«
Wir können uns schon vorstellen, wie er sich dort benehmen wird.
»Ich träumte, in unserem Verein ist ein einziges Mädchen. Das war abgesondert von den Buben.«
Suche nach Trennung der Geschlechter.
»Die Buben riefen mich zu ihnen. Ich sagte, ich sei ein Mädchen, ging zu dem einzigen Mädchen. Mir kam es so sonderbar vor, daß ich kein Bub mehr sei und ich dachte nach, wie ich mich benehmen müßte als Mädchen.«
Auf einmal taucht die Auffassung auf: wie ich mich benehmen müßte als Mädchen.
Dies ist das Training. Nur wer das Training bei allen sexuellen Perversionen beobachtet hat, wie es unter Ausschaltung der Norm erzwungen wird, nur der versteht, daß die sexuelle Perversion ein Kunstprodukt ist, das jeder selber schafft, zu dem jeder durch seine psychische Konstitution, die er selbst geschaffen hat, angeleitet wird, gelegentlich verleitet durch seine angeborene physische Konstitution, die ihm die Schwenkung leichter macht.
»Im Nachdenken wurde ich durch einen Krach gestört. Ich wachte auf und merkte, daß ich mit dem Kopf an die Wand geraten sei.«
Der Träumer hat oft die Haltung, die seinem Bewegungsgesetz entspricht.4) Mit dem Kopf an die Wand rennen, ist eine landläufige Redensart. Sein Verhalten mutet uns so an.
»Der Traum hat mir so einen Eindruck hinterlassen ...«
Die Absicht des Traumes ist, einen Eindruck zu hinterlassen.
»..., daß ich in der Schule noch im Zweifel war, ob ich ein Bub oder ein Mädel bin. In den Pausen mußte ich aufs Klosett gehen, um nachzusehen, ob ich nicht doch ein Mädchen bin.«
Zweiter Traum:
»Ich träumte, ich treffe das einzige Mädchen in unserer Klasse. Dasselbe Mädchen, von dem ich vorhin geträumt hatte. Sie wollte mit mir Spazierengehen. Ich antwortete ihr: ich gehe jetzt nur mit Buben. Sie sagte: ich bin auch ein Bub. Ich verlangte von ihr, da mir das nicht glaubhaft erschien, sie möge es mir beweisen. Da zeigte sie mir, daß sie einen Geschlechtsteil wie die Buben habe. Ich fragte sie, wie das möglich sei. Sie erzählte mir, sie sei operiert worden. Bei den Buben war es leichter, sie in ein Mädchen zu verwandeln, umgekehrt ist das schwieriger, da mußte man etwas dazugeben. So hatte sie aus Kautschuk einen Knabengeschlechtsteil angenäht. Doch eben wurde unsere Diskussion durch ein lautes ›Aufstehen‹ gestört. Meine Eltern haben mich aufgeweckt. Ich konnte nur mit Mühe und Not fünf Minuten Faulenzen erbitten, aber da ich kein Zauberer bin, konnte ich den Traum nicht wieder hervorrufen.«
Man wird bei einem gewissen Typus von verwöhnten Kindern die Neigung für Zauberkunststücke finden; das Zaubern erscheint ihnen das Wichtigste, sie wollen alles ohne Anstrengung und Mühe haben und haben für Telepathie viel übrig. Nun werden wir hören, wie der Junge versucht, sich diesen Traum zu erklären:
»Ich hatte in Kriegsbeschreibungen gelesen: Geschlechtsteile fliegen durch die Luft. Ich habe gehört, wenn man den Geschlechtsteil verliert, stirbt man.«
Man sieht die Wichtigkeit, die der Junge dem Geschlechtsteil beimißt. »Auf dem Titelblatt einer Zeitung habe ich gelesen: Zwei Hausgehilfinnen in zwei Stunden in Soldaten verwandelt.«
Es dürfte sich um eine Mißbildung der Geschlechtsorgane gehandelt haben, die verkannt wurde.
Zum Schluß möchte ich einem Gedanken Ausdruck geben, der alle hierher gehörigen Diskussionen auf eine einfachere Basis stellt. Es gibt wirkliche Hermaphroditen, bei denen tatsächlich die Entscheidung schwer wird, ob man es mit Mädchen oder Knaben zu tun hat. Man überläßt ihnen den Gebrauch, den sie von dem Hermaphroditismus machen wollen. Bei den Pseudohermaphroditen finden wir Mißbildungen, die die Ähnlichkeit mit dem anderen Geschlecht vortäuschen. Tatsache ist, daß jeder Mensch spurweise Anteile des anderen Geschlechts in sich trägt, wie auch Sexualhormone des anderen Geschlechts im Urin. Da kommt man auf einen Gedanken, der kühn erscheint; daß in jedem Menschen ein Zwilling steckt. Es gibt die verschiedensten Formen von Andeutung der Zwillingschaft, und das Problem der Gleichzeitigkeit zweier Geschlechtsformen im Menschen wird sich in der Zukunft im Zwillingsproblem auflösen. Wir verstehen, daß jeder Mensch aus männlichem und weiblichem Material geboren wird. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir bei der Zwillingsforschung auf Probleme stoßen, die uns bezüglich des Hermaphroditismus, der in jedem Menschen angedeutet ist, größere Klarheit geben.
Bezüglich der Behandlung: Man wird immer hören, daß eine Perversion unheilbar ist. Unmöglich ist die Heilung nicht, aber schwer. Die Schwierigkeit der Heilung erklärt sich daraus, daß es Menschen sind, die im Verlaufe des Lebens auf die Perversion trainiert haben, weil sie ein eingeengtes Bewegungsgesetz haben, das ihnen den Verlauf vorschreibt. Sie müssen in dieser Richtung gehen, weil sie von frühester Jugend an den Kontakt nicht gefunden haben, um den richtigen Gebrauch von Körper und Seele zu machen. Der richtige Gebrauch kann nur unter Voraussetzung eines entwickelten Gemeinschaftsgefühls gemacht werden, eine Erkenntnis, die die Heilung auch einer größeren Zahl von Perversen als wahrscheinlich erscheinen läßt.
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1) Siehe R. Dreikurs, Seelische Impotenz. Leipzig; und A. Adler, Das Problem der Homosexualität, l. c.
2) Siehe A. Adler in: X. Jahrgang der Zeitschrift für Individualpsychologie. Leipzig.
3) Siehe Holub, Die Lehre von der Organminderwertigkeit. Leipzig.
4) Siehe A. Adler, ›Schlafstellungen‹. In: Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.