14. Tag- und Nachtträume


Mit dieser Betrachtung begeben wir uns in das Reich der Phantasie. Es wäre ein großer Fehler, diese gleichfalls durch den evolutionären Strom geschaffene Funktion aus dem Ganzen des Seelenlebens und dessen Verknüpfung mit den Forderungen der Außenwelt herauszuheben oder gar sie dem Ganzen, dem Ich entgegenstellen zu wollen. Sie ist vielmehr ein Teil des individuellen Lebensstils, charakterisiert ihn zugleich und zeichnet sich, als seelische Bewegung genommen, in alle anderen Teile des Seelenlebens ein, sowie sie auch den Ausdruck des individuellen Bewegungsgesetzes in sich trägt. Ihre gegebene Aufgabe ist unter gewissen Umständen, sich gedanklich zu äußern, während sie sonst sich im Reich der Gefühle und Emotionen birgt oder in der Stellungnahme des Individuums eingebettet ist. Sie zielt wie jede andere seelische Bewegung auf das Kommende, da auch sie sich im Strome zum Ziel der Vollendung bewegt. Von diesem Aussichtspunkt gesehen wird es ganz klar, wie nichtssagend es ist, in ihrer Bewegung oder in der ihrer Abkömmlinge, des Tag- und Nachttraumes, eine Wunscherfüllung zu sehen, mehr noch zu glauben, daß man dadurch etwas zum Verständnis ihres Mechanismus beigetragen hat. Da jede seelische Ausdrucksform von unten nach oben, von einer Minussituation nach einer Plussituation sich bewegt, kann man auch jede seelische Ausdrucksbewegung als Wunscherfüllung ansprechen.

Mehr als der Common sense bedient sich die Phantasie der Fähigkeit des Erratens, ohne daß damit gesagt ist, es würde dabei auch »richtig« geraten. Ihr Mechanismus besteht darin, auf eine Weile — in der Psychose dauernd — vom Common sense, das ist von der Logik des menschlichen Zusammenlebens, vom gegenwärtig vorhandenen Gemeinschaftsgefühl Abstand zu nehmen, unzufrieden damit, im Sinne der Gemeinschaft die nächsten Schritte zu tun. Dies gelingt leichter, wenn das vorhandene Gemeinschaftsgefühl keine besondere Stärke besitzt. Ist es aber stark genug, dann führt es den Spaziergang der Phantasie zu dem Ziele einer Bereicherung der Gemeinschaft. Immer aber, in den tausendfältigen Verschiedenheiten, läßt sich der sich entspinnende seelische Bewegungsvorgang künstlich in Gedanken, Gefühle und Bereitschaft zur Stellungnahme auflösen. »Richtige«, »normale«, »wertvolle« Stellungnahmen werden wir als solche nur anerkennen, wenn sie wie bei größeren Leistungen, der Allgemeinheit dienen. Begriffsinterpretationen dieser Urteile in anderer Richtung sind logisch ausgeschlossen, was nicht hindert, daß oft der gegenwärtige Stand des Common sense solche Leistungen ablehnt, bis ein höherer Stand der Einsicht in das Wohl der Allgemeinheit erreicht ist.

Jedes Suchen nach Lösung eines vorliegenden Problems setzt die Phantasie in Lauf, da man es dabei mit dem Unbekannten der Zukunft zu tun hat. Die schöpferische Kraft, der wir in der Kindheit die Schaffung des Lebensstils zuerkannt haben, ist weiter am Werk.

Auch die bedingten Reflexe, in deren tausendfältiger Gestaltung der Lebensstil wirkt, können nur als Bausteine weiter verwendet werden.

Sie sind für die Schaffung des stets völlig Neuen nicht automatisch wirkend zu verwenden. Aber die schöpferische Kraft geht nun in den Bahnen des selbstgeschaffenen Lebensstils. Und so ist auch die Lenkung der Phantasie dem Lebensstil anheimgegeben. Man kann in ihren Leistungen, ob das Individuum den Zusammenhang erkennt oder ihm in voller Unkenntnis gegenübersteht, den Ausdruck des Lebensstils finden und so diese Leistungen als Eingangspforten benützen, um in die Werkstatt des Geistes Einblick zu bekommen. Aber man wird bei richtigem Vorgehen immer auf das Ich, auf das Ganze stoßen, während bei unrichtiger Auffassung ein Gegensatz, etwa des Bewußten zum Unbewußten, vorhanden zu sein scheint. Freud, der Vertreter dieser unrichtigen Anschauung, nähert sich im Eilmarsch dem besseren Verständnis, wenn er heute vom Unbewußten im Ich spricht, das dem Ich natürlich ein ganz anderes Gesicht gibt, nämlich das Gesicht, das die Individualpsychologie zuerst gesehen hat.

Jeder große Gedanke, jedes Kunstwerk verdankt seine Entstehung dem rastlos schaffenden, neuschöpferischen Geist der Menschheit. Vielleicht tragen die meisten ein kleines Stückchen dazu bei. Zumindest in der Aufnahme und in der Erhaltung, in der Verwertung der Neuschöpfung. Hier mögen dann zum großen Teil die »bedingten Reflexe« ihre Rolle spielen. Beim schaffenden Künstler sind sie nur Bausteine, deren er sich bedient, um in seiner Phantasie dem Alten vorauszueilen. Künstler und Genies sind zweifellos die Führer der Menschheit und zahlen den Zoll für diese Verwegenheit, brennend im eigenen Feuer, das sie in der Kindheit entzündet haben. »Ich litt — und so wurde ich ein Dichter.« Unser besseres Sehen, die bessere Wahrnehmung von Farben, von Formen, von Linien verdanken wir den Malern. Unser besseres Hören, damit die feinere Modulation unseres Sprechorgans, erwarben wir von den Musikern. Die Dichter haben uns Denken, Sprechen und Fühlen gelehrt. Der Künstler selbst, meist heftig aufgepeitscht in der frühen Kindheit, unter Bürden aller Art, Armut, Augen- und Ohrenanomalien, meist einseitig verwöhnt, entreißt sich in der frühesten Kindheit seinem schweren Minderwertigkeitsgefühl und ringt mit wütendem Ehrgeiz mit der zu engen Wirklichkeit, um sie für sich und die anderen zu erweitern, als der Bannerträger der Evolution, die den Fortschritt über Schwierigkeiten sucht und das geeignete Kind, meist an einer für hohe Ziele geeigneten Variante leidend, über das durchschnittliche Niveau hinaushebt.

Was wir vor langem schon über diese drückende, aber gesegnete Variante nachgewiesen haben, ist eine größere körperliche Anfälligkeit, ein stärkeres Berührtsein durch äußere Geschehnisse, Varianten, die sich sehr oft an dem Träger als Minderwertigkeiten der Sinnesorgane nachweisen lassen, und wenn nicht an ihm selbst — da für geringere Varianten unsere Untersuchungsmittel oft versagen —, an der Heredität von Organminderwertigkeiten am Stammbaum der Familie. Dort finden sich oft die deutlichsten Spuren von solchen konstitutionellen Minderwertigkeiten, nicht selten zu Krankheiten führend, Minusvarianten, die auch den Aufstieg der Menschheit erzwungen haben.1) Im selbsttätigen Spiel und in der individuellen Ausführung jedes Spiels zeigt sich der schöpferische Geist des Kindes. Jedes Spiel gibt dem Streben nach Überlegenheit Raum. Die Gemeinschaftsspiele tragen dem Drang des Gemeinschaftsgefühls Rechnung. Daß auch neben diesen die Alleinbeschäftigung nicht zu kurz zu kommen braucht, bei Kindern wie bei Erwachsenen, ist durchaus gerechtfertigt, sollte nebenbei sogar gefördert werden, soferne sie einen Ausblick auf spätere Bereicherung der Gemeinschaft gestattet. Und es liegt nur an der Technik gewisser Leistungen, hindert ihren Gemeinschaftscharakter durchaus nicht, daß sie nur fern von den anderen geübt und ausgeführt werden können. Dabei ist wieder die Phantasie am Werke, die nicht unwesentlich von den schönen Künsten genährt wird. Aus dem Lesebereich der Kinder sollte freilich bis zu einer gewissen Reife alle unverdauliche geistige Nahrung entfernt bleiben, die entweder mißverstanden werden kann oder geeignet ist, das wachsende Gemeinschaftsgefühl zu drosseln. Hierher gehören unter anderem grausame, furchterweckende Geschichten, die besonders jene Kinder stark beeindrucken, bei denen durch Furcht das Harn- und Sexualsystem erregt wird. Wieder sind es unter letzteren die verwöhnten Kinder, die den Verlockungen des »Lustprinzips« nicht widerstehen können, deren Phantasie und später deren Praxis furchterweckende Situationen schafft, um daran Sexualerregungen zu produzieren. Ich habe bei meinen Untersuchungen sexueller Sadisten und Masochisten immer neben einem Mangel an Gemeinschaftsgefühl eine solche verhängnisvolle Verkettung dieser Umstände gefunden.

Die meisten Tagträume der Kinder und Erwachsenen gehen, bis zu einem gewissen Grade losgekettet vom Common sense, in die Richtung des Zieles der Überlegenheit. Es ist leicht einzusehen, daß zum Zwecke einer Kompensation, wie um das seelische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten — was nie auf diesem Wege gelingt — gerade jene konkrete Richtung in der Phantasie eingeschlagen wird, die der Überwindung einer gefühlten Schwäche dienen soll. Der Vorgang ist in gewissem Sinne dem ähnlich, den das Kind bei Schaffung seines Lebensstils einschlägt. Wo es die Schwierigkeit fühlt, dort hilft ihm die Phantasie, eine Erhöhung seiner Persönlichkeit vorzuspiegeln, nicht ohne gleichzeitig mehr oder weniger anzuspornen. Freilich gibt es auch genug Fälle, wo die Anspornung ausbleibt, wo sozusagen die Phantasie ganz und gar die Kompensation bedeutet. Daß letzteres als gemeinschaftswidrig anzusehen ist, wenn auch bar jeder Aktivität und jedes Angriffs auf die Außenwelt, liegt auf der Hand. Auch wo sie, immer entsprechend dem Lebensstil, der sie leitet, gegen das Gemeinschaftsgefühl geht, kann sie als ein Zeichen der Ausschaltung des Gemeinschaftsgefühls aus dem Lebensstil erkannt werden und den Blick des Untersuchers lenken. So die häufigen grausamen Tagträume, die gelegentlich abwechseln oder ersetzt werden durch Phantasien über eigenes schmerzvolles Leiden. Kriegsphantasien, Heldentaten, Rettung von hochstehenden Personen weisen in der Regel auf ein tatsächliches Schwächegefühl hin und sind im Leben durch Zaghaftigkeit und Schüchternheit ersetzt. Wer hier und in ähnlichen, scheinbar kontrastierenden Ausdrucksformen eine Ambivalenz, eine Spaltung des Bewußtseins, ein Doppelleben erblickt, kennt nicht die Einheit der Person, in der scheinbar Widerspruchsvolles nur aus dem Vergleich der Minus- und der Plussituation analysierend und den Zusammenhang verkennend entnommen wird. Wer sich die Kenntnis des unaufhörlichen Aufwärtströmens des seelischen Prozesses erworben hat, der weiß, daß die richtige Charakterisierung eines Seelenvorgangs durch ein Wort, einen Begriff unserer Sprache an deren Armut scheitern muß, weil es nicht möglich ist, unaufhörlich Strömendes als feste Form zu benennen.

Sehr häufig finden sich Phantasien über das Thema, das Kind anderer Eltern zu sein, was mit einiger Sicherheit auf Unzufriedenheit mit den eigenen Eltern hinweist. In Psychosen, schwächer in anderen Fällen, findet man diese Phantasie der Wirklichkeit aufoktroyiert als dauernde Anklage. Immer, wenn der Ehrgeiz eines Menschen die Wirklichkeit unerträglich findet, flüchtet er zu dem Zauber der Phantasie. Wir wollen aber nicht vergessen, daß dort, wo die Phantasie sich mit Gemeinschaftsgefühl richtig paart, die ganz große Leistung zu erwarten ist, denn die Phantasie mit ihrer Erweckung von verlangenden Gefühlen und Emotionen wirkt wie der erhöhte Gasdruck bei einer laufenden Maschine: die Leistung wird erhöht. Der Wert der Leistung der Phantasie hängt also in erster Linie davon ab, von wie viel Gemeinschaftsgefühl sie durchdrungen ist. Dies gilt ebenso für den einzelnen wie für die Masse. Haben wir es mit einem sicheren Fehlschlag zu tun, so dürfen wir eine ebenfalls fehlschlagende Phantasie erwarten. Der Lügner, der Hochstapler, der Prahler sind sprechende Beispiele. Auch der Narr. Die Phantasie ruht nie ganz, auch dort nicht, wo sie sich nicht zu Tagträumen verdichtet. Schon das Gerichtetsein nach einem Ziele der Überlegenheit erzwingt ein Phantasieren in die Zukunft, wie jedes Voraussehenwollen. Daß sie ein Training in der Richtung des Lebensstils ist, ob sie in der Wirklichkeit, in Tag- oder Nachtträumen auftritt oder Kunstwerke schafft, ist nicht zu übersehen. Sie führt zu einer Herausstellung der eigenen Persönlichkeit und ist auf diesem Wege einmal mehr, einmal weniger dem Common sense unterworfen. Auch der Träumer weiß oft, daß er träumt. Und der Schlafende, noch so sehr der Wirklichkeit entrückt, fällt selten aus dem Bette. Dabei ist wohl alles, dem sich die Phantasie zuwendet, Reichtum, Stärke, Heldentaten, große Werke, Unsterblichkeit usw. Hyperbel, Metapher, Gleichnis, Symbol. Man darf die aufputschende Kraft der Metapher nicht übersehen. Sie sind einmal, trotz des Unverstandes mancher meiner Gegner, phantasievolle Verkleidungen der Wirklichkeit, niemals mit ihr identisch. Ihr Wert ist unbestritten, wenn sie geeignet sind, unserem Leben eine zusätzliche Spannkraft zu verleihen, ihre Schädlichkeit muß enträtselt werden, wenn sie dazu dienen, durch die Anspornung unserer Gefühle den gemeinschaftswidrigen Geist in uns zu bestärken. In allen Fällen aber dienen sie dazu, den Gefühlston, der einem gegenwärtigen Problem gegenüber dem Lebensstil zukommt, hervorzurufen und zu verstärken, wenn der Common sense sich zu schwach dazu erweist oder mit der durch den Lebensstil verlangten Lösung des Problems in Widerspruch steht. Diese Tatsache wird uns auch zum Verständnis des Traumes verhelfen.

Um diesen zu verstehen, bedarf es einer Berücksichtigung des Schlafes, der ja die Stimmungslage darstellt, in der ein Traum möglich ist. Fraglos ist der Schlaf eine Schöpfung der Evolution, eine selbständige Regulierung, die natürlich mit körperlichen Zustandsänderungen verbunden ist und durch solche hervorgerufen wird. Wenn wir diese auch derzeit nur ahnen können (vielleicht hat Zondek durch seine Untersuchungen über die Hypophyse ein wenig Licht darauf geworfen), so dürfen wir sie als gemeinsam mit dem Schlafimpuls wirkend annehmen. Da der Schlaf offensichtlich der Ruhe und Erholung dient, so bringt er auch alle körperlichen und seelischen Tätigkeiten dem Ruhepunkt näher. Die Lebensform des menschlichen Individuums ist durch Wachen und Schlafen in besseren Einklang mit dem Wandel von Tag und Nacht gebracht. Was unter anderem den Schläfer vom Wachenden unterscheidet, ist seine konkrete Distanz von den Problemen des Tages.

Aber der Schlaf ist kein Bruder des Todes. Die Lebensform, das Bewegungsgesetz des Individuums wacht unausgesetzt. Der Schläfer bewegt sich, weicht unangenehmen Positionen im Bette aus, kann durch Licht und durch Lärm erweckt werden, nimmt Rücksicht auf ein daneben schlafendes Kind und trägt seine Freuden und Leiden des Tages mit sich. Der Mensch ist im Schlaf auf alle Probleme gerichtet, deren Lösung der Schlaf nicht stören soll. Unruhige Bewegungen des Säuglings erwecken die Mutter, der Morgen bringt die Ermunterung, beim Wollenden fast regelmäßig zur beabsichtigten Zeit. Die körperliche Haltung im Schlafe gibt oft, wie ich gezeigt habe,2) ein gutes Bild der seelischen Stellungnahme, ebenso wie im Wachen. Die Einheit des Seelenlebens bleibt auch im Schlafe gewahrt, so daß wir auch das Nachtwandeln oder gelegentlichen Selbstmord im Schlafe, Knirschen mit den Zähnen, Sprechen, Muskelspannungen wie krampfhaftes Ballen der Hände mit folgenden Paraesthesien als Teil des Ganzen betrachten müssen und zu Schlußfolgerungen verwenden können, die freilich von anderen Ausdrucksformen her weitere Bestätigung finden müssen. Auch Gefühle und Stimmungen werden im Schlafe wach, gelegentlich ohne Begleitung von Träumen.

Daß der Traum zu allermeist als ein visuelles Faktum erscheint, liegt an dem überragenden Gewicht unserer Sicherheit bezüglich sehbarer Tatsachen. Ich habe meinen Schülern immer gesagt: »Wenn Ihr über irgend einen Punkt in Eurer Untersuchung im unklaren seid, so verstopft Euch die Ohren und schaut Euch die Bewegung an.« Wahrscheinlich weiß jeder von dieser größeren Sicherheit, ohne es in klare Gedanken gebracht zu haben. Sollte der Traum diese größere Sicherheit suchen? Sollte er in größerer Distanz von den Aufgaben des Tages, auf sich allein angewiesen, bei völliger Intaktheit seiner vom Lebensstil gelenkten schöpferischen Kraft, freier von der Beschränkung durch die Gesetze gebende Wirklichkeit, seinen Lebensstil stärker zum Ausdruck bringen? Sollte er, seiner im Lebensstil verankerten Phantasie anheimgegeben, auf jenen Wegen zu finden sein, wo wir auch sonst die Phantasie zugunsten des Lebensstils ringen sehen, wenn ein vorliegendes Problem die Spannkraft des Individuums übersteigt? Wenn der Common sense, das Gemeinschaftsgefühl des Individuums nicht spricht, weil es nicht in genügender Stärke vorhanden ist?

Wir wollen jenen nicht folgen, die der Individualpsychologie durch Totschweigen und Einschleichung den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Deshalb wollen wir hier an Freud erinnern, der zuerst den Versuch unternommen hat, eine wissenschaftliche Traumlehre auszugestalten. Dies ist ein bleibendes Verdienst, das niemand schmälern kann, ebensowenig wie gewisse Beobachtungen, die er als dem »Unbewußten« angehörig bezeichnet. Er scheint viel mehr gewußt zu haben, als er verstanden hat. Aber indem er sich zwang, alle seelischen Erscheinungen um die einzig herrschende Substanz, die er anerkennt, um die Sexuallibido zu gruppieren, mußte er fehlgehen, was noch dadurch verschlechtert wurde, daß er nur die bösen Triebe ins Auge faßte, die, wie ich gezeigt habe, aus dem Minderwertigkeitskomplex verwöhnter Kinder stammen, Kunstprodukte verfehlter Erziehung und verfehlter Eigenschöpfung des Kindes sind und niemals die seelische Struktur in ihrer wirklichen, evolutionären Ausgestaltung verstehen lassen können. Wenn daher, kurz gefaßt, dies die Anschauung über den Traum ist: »Wenn ein Mensch sich entschließen könnte, alle seine Träume, ohne Unterschied, ohne Rücksicht, mit Treue und Umständlichkeit und unter Hinzufügung eines Kommentars, der dasjenige umfaßte, was er etwa selbst nach Erinnerungen aus seinem Leben und seiner Lektüre an seinen Träumen erklären könnte, niederzuschreiben, so würde er der Menschheit ein großes Geschenk machen. Doch so, wie die Menschheit jetzt ist, wird das wohl keiner tun; im stillen und zur eigenen Beherzigung wäre es auch schon etwas wert« — sagt Freud? nein, Hebbel in seinen Erinnerungen —, so muß ich hinzufügen, daß es dabei in erster Linie darauf ankommt, ob das Schema, das er anwendet, einer wissenschaftlichen Kritik standhält. Dies war im psychoanalytischen Schema so wenig der Fall, daß Freud selbst, nach mannigfachen Änderungen seiner Trauminterpretation, nunmehr erklärt, daß er niemals behauptet habe, jeder Traum habe sexuellen Inhalt. Immerhin wieder ein Fortschritt.

Was aber Freud den »Zensor« nennt, ist nichts anderes als die größere Entfernung von der Wirklichkeit im Schlafe, ein beabsichtigtes Fernbleiben vom Gemeinschaftsgefühl, dessen Mangelhaftigkeit eine normale Lösung eines vorliegenden Problems verhindert, so daß das Individuum, wie in einem Schock anläßlich einer erwarteten Niederlage, einen anderen Weg zu einer leichteren Lösung sucht, zu dem ihm die Phantasie, im Banne des Lebensstils, abseits vom Common sense behilflich sein soll. Sucht man darin eine Wunscherfüllung, oder verzagend, einen Wunsch zu sterben, so findet man nicht mehr als einen Gemeinplatz, der nichts von der Struktur des Traumes aufklärt. Denn der ganze Lebensprozeß, wo immer betrachtet, kann als gesuchte Wunscherfüllung angesprochen werden.

Ich hatte bei meinen Untersuchungen über den Traum zwei starke Hilfen. Die eine bot mir Freud in seinen unannehmbaren Anschauungen. Ich lernte aus seinen Fehlern. Und obwohl ich selbst nie psychoanalysiert wurde, eine solche Einladung auch a limine abgewiesen hätte, weil sie die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Auffassung, die ohnehin bei den meisten nicht groß ist, bei der strikten Annahme seiner Lehre stört, bin ich doch so weit mit seiner Lehre vertraut, nicht nur um die Fehler erkennen zu können, sondern auch an dem Spiegelbild eines verwöhnten Kindes voraussagen zu können, was Freuds nächster Schritt sein wird. Ich habe deshalb allen meinen Schülern immer empfohlen, sich mit Freuds Lehre eingehend zu befassen. Freud und seine Schüler lieben es ungemein, in nicht zu verkennend prahlerischer Weise mich als Schüler Freuds zu bezeichnen, weil ich sehr viel mit ihm in einem psychologischen Zirkel gestritten hatte, ohne je einem seiner Schülervorträge beigewohnt zu haben. Als dieser Zirkel auf Freuds Anschauungen eingeschworen werden sollte, war ich der erste, der ihn verließ. Man wird mir das Zeugnis nicht versagen können, daß ich viel mehr als Freud die Grenzen zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse immer scharf gezogen habe, und daß ich mit meinen ehemaligen Diskussionen mit Freud nie geprahlt habe. Daß der Aufstieg der Individualpsychologie und ihr nicht zu verkennender Einfluß auf die Wandlung der Psychoanalyse dort so hart gefühlt wird, tut mir leid. Aber ich weiß, wie schwer es ist, der Weltanschauung verwöhnter Kinder zu genügen. Daß nach fortwährender Annäherung der Psychoanalyse — ohne daß sie ihr Grundprinzip ganz aufgegeben hätte — an die Individualpsychologie für befangene Gemüter Ähnlichkeiten sichtbar werden, eine offensichtliche Wirkung des unzerstörbaren Common sense, ist zum Schluß nicht einmal so verwunderlich. Manchem wird es dann so erscheinen, als ob ich die Entwicklung der Psychoanalyse in den letzten 25 Jahren widerrechtlich vorausgedacht hätte. Ich bin da der Gefangene, der sie nicht losläßt.

Die zweite, viel stärkere Hilfe erwuchs mir aus der festen, wissenschaftlich erhärteten und von vielen Seiten beleuchteten Einheit der Persönlichkeit. Die gleiche Zugehörigkeit zur Einheit muß auch dem Traume eigen sein. Auch abgesehen von der durch den Lebensstil geforderten regelmäßigen größeren Distanz zur beeinflussenden Wirklichkeit, die auch die Phantasie im Wachen charakterisiert, durfte im Traum keine seelische Form zur Stütze einer Theorie angenommen werden als solche Formen, die auch im wachen Leben vorhanden sind. Man kann zu dem Schluß kommen, daß der Schlaf und das Traumleben eine Variante des wachen Lebens, als auch, daß das wache Leben eine Variante des anderen ist. Das oberste Gesetz beider Lebensformen im Wachen wie im Schlafen ist: das Wertgefühl des Ich nicht sinken zu lassen. Oder, um es in die bekannte Terminologie der Individualpsychologie einzufügen: Das Streben nach Überlegenheit im Sinne des Endziels entreißt das Individuum dem Druck des Minderwertigkeitsgefühls. Wir wissen, in welche Richtung der Weg geht, mehr oder weniger abseits vom Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen das Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen den Common sense. Das Ich holt sich Stärkung aus der Traumphantasie, um zu einer Lösung eines vorliegenden Problems zu gelangen, für dessen Lösung es nicht genug Gemeinschaftsgefühl übrig hat. Es ist selbstverständlich, daß dabei immer die subjektive Schwere des vorliegenden Problems die Rolle einer Testprüfung auf Gemeinschaftsgefühl spielt, und so drückend sein kann, daß auch ... der Beste zu träumen beginnt.

Wir müssen demnach fürs erste feststellen, daß jeder Traumzustand einen exogenen Faktor hat. Das bedeutet wohl mehr und anderes als Freuds »Tagesrest«. Die Bedeutung liegt in dem Geprüftsein und Lösungsuchen. Es enthält das »Vorwärts zum Ziele«, das »Wohin« der Individualpsychologie im Gegensatz zu Freuds Regression und Erfüllung infantiler sexueller Wünsche, letztere wieder die Entblößung der fiktiven Welt verwöhnter Kinder, die alles allein haben wollen und nicht verstehen, wie ihnen ein Wunsch unerfüllt bleiben soll. Es weist auf das Aufwärtsströmen in der Evolution hin und zeigt, wie sich jeder einzelne diesen Weg vorstellt, den er gehen will. Es zeigt seine Meinung von seiner Art und von der Art, vom Sinn des Lebens.

Man sehe einen Augenblick vom Traumzustand ab. Da ist ein Mensch vor einer Prüfung, für die er sich in Anbetracht seines mangelnden Gemeinschaftsgefühls nicht reif fühlt. Er nimmt Zuflucht zu seiner Phantasie. Wer nimmt diese Zuflucht? Natürlich das Ich in seinem Lebensstil. Die Absicht ist, eine Lösung zu finden, wie sie dem Lebensstil paßt. Das heißt aber, mit geringer Ausnahme der für die Gemeinschaft wertvollen Träume, eine Lösung, mit der der Common sense nicht einverstanden ist, die gegen das Gemeinschaftsgefühl geht, aber das Individuum in seiner Not und seinem Zweifel erleichtert, noch mehr, es in seinem Lebensstil, in seinem Ichwert bestärkt. Der Schlaf, wie auch die Hypnose, wenn richtig ausgeführt, sind nur Erleichterungen für diesen Zweck, ebenso die gelungene Autosuggestion. Die Folgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, daß der Traum als gewollte Schöpfung des Lebensstils den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl sucht und darstellt. Doch findet man bei größerem Gemeinschaftsgefühl und in bedrohlicheren Situationen gelegentlich eine Umkehr, den Sieg des Gemeinschaftsgefühls über den Versuch eines Abweichens davon. Wieder ein Fall, der der Individualpsychologie recht gibt, wenn sie behauptet, daß sich das Seelenleben niemals ganz in Formeln und Regeln einfangen läßt, was freilich die Hauptthese in diesem Falle unberührt läßt, nämlich, daß der Traum den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl zeigt.

Da kommt nun ein Einwand, der mir seit jeher viel zu schaffen machte, dem ich aber eine vertiefte Einsicht in das Traumproblem verdanke. Wenn nämlich der oben geschilderte Tatbestand angenommen werden sollte, wie erklärt es sich, daß niemand seine Träume versteht, daß niemand darauf achtet, ja sie meistens vergißt? Sehen wir von der Handvoll von Leuten ab, die etwas davon verstehen, so scheint da eine Kraft im Traume vergeudet zu sein, wie wir es sonst nie in der Ökonomie des Geistes finden. Freilich kommt uns da eine andere Erfahrung der Individualpsychologie zu Hilfe. Der Mensch weiß mehr, als er versteht. Ist da im Traume, wenn sein Verstehen schläft, das Wissen wach? Wenn dem so wäre, dann müßte sich Ähnliches im wachen Zustande auch nachweisen lassen. Und in der Tat, der Mensch versteht von seinem Ziele nichts und folgt ihm dennoch. Er versteht von seinem Lebensstil nichts und ist stets darin verhaftet. Und wenn sein Lebensstil ihn angesichts eines Problems in eine bestimmte Richtung weist, nach einem Trinkgelage, nach einem erfolgversprechenden Unternehmen, dann stellen sich immer Gedanken und Bilder ein, Sicherungen, wie ich sie genannt habe, um ihm diesen Weg schmackhaft zu machen, ohne daß sie immer mit dem Ziele sichtbar verbunden sein müßten. Wenn ein Mann mit seiner Frau recht unzufrieden ist, dann erscheint ihm oft eine andere viel begehrenswerter, ohne daß er sich den Zusammenhang, geschweige seine Anklage oder Rache dabei klarmachen würde. Erst im Zusammenhang mit seinem Lebensstil und dem vorliegenden Problem gesehen wird sein Wissen um die nächsten Dinge Verständnis. Außerdem haben wir aber bereits darauf hingewiesen, daß die Phantasie, somit auch der Traum, sich eines guten Teils des Common sense entschlagen muß. Es wäre demnach unbillig, den Traum nach seinem Common sense zu fragen, wie es viele Autoren getan haben, um zu dem Schluß zu kommen, der Traum sei unsinnig. Der Traum wird sich nur in den seltensten Fällen dem Common sense stark annähern, er wird sich nie mit ihm decken. Daraus aber folgt die wichtigste Funktion des Traumes, den Träumer auf einen Abweg vom Common sense zu führen, wie wir es auch von der Phantasie gezeigt haben. Im Traume begeht also der Träumer einen Selbstbetrug. Unserer Grundanschauung gemäß können wir hinzufügen: einen Selbstbetrug, der ihn angesichts eines Problems, für das sein Gemeinschaftsgefühl nicht ausreicht, auf seinen Lebensstil verweist, damit er das Problem diesem entsprechend löse. Indem er sich von der Wirklichkeit losreißt, die soziales Interesse verlangt, strömen ihm Bilder zu, die sein Lebensstil ihm eingibt.

Bleibt also nichts übrig vom Traum, wenn er vorüber ist? Ich glaube, diese wichtigste Frage gelöst zu haben. Es bleibt zurück, was immer zurückbleibt, wenn einer ins Phantasieren gerät, Gefühle, Emotionen und eine Stellungnahme. Daß diese alle in der Richtung des Lebensstils wirken, geht aus der Grundanschauung der Individualpsychologie von der Einheit der Persönlichkeit hervor. Es war einer meiner ersten Angriffe gegen die Freudsche Traumtheorie aus dem Jahre 1918, als ich auf Grund meiner Erfahrungen behauptete, daß der Traum vorwärts ziele, daß er den Träumer »scharf« mache dafür, ein Problem in seiner eigenen Weise zu lösen. Später konnte ich diese Anschauung ergänzen, indem ich feststellte, daß er dies nicht auf dem Wege des Common sense, des Gemeinschaftsgefühls tue, sondern »gleichnisweise«, metaphorisch, in vergleichenden Bildern, wie es etwa ein Dichter täte, wenn er Gefühle und Emotionen erwecken will. Damit sind wir aber wieder auf dem Boden des Wachzustandes und können hinzufügen, daß auch dichterisch völlig unzulängliche Personen sich des Vergleiches bedienen, wenn sie Eindruck machen wollen, sei es auch nur in Schimpfworten wie »Esel«, »altes Weib« usw., wie es auch der Lehrer tut, wenn er verzweifelt, einen Fall mit einfachen Worten erklären zu können.

Dabei geschieht zweierlei. Erstens sind Vergleiche besser geeignet, Gefühle wachzurufen als eine sachliche Aussprache. In der Dichtkunst, in der gehobenen Sprache feiert der Gebrauch von Metaphern geradezu Triumphe. Sobald wir uns aber aus dem Bereich der schönen Künste entfernen, bemerken wir die Gefahr, die im Gebrauch von Vergleichen liegt. »Sie hinken«, sagt das Volk mit Recht und meint damit, daß in ihrem Gebrauch die Gefahr einer Täuschung liegt. Wir kommen hier demnach zu dem gleichen Urteil wie oben, wenn wir den vergleichsweisen Gebrauch von Bildern im Traume ins Auge fassen. Sie dienen, abseits vom Wege der praktischen Vernunft, der Selbsttäuschung des Träumers und der Erweckung von Gefühlen, damit auch einer Stellungnahme im Sinne des Lebensstils. Es mag wohl immer dem Traume eine Stimmungslage ähnlich dem Zweifel vorausgehen, ein Problem, das noch näherer Untersuchung bedarf. Dann aber wählt das Ich gemäß seinem Lebensstil gerade jene Bilder aus tausend Möglichkeiten aus, die seinem Zwecke günstig sind, die Hinwegsetzung über die praktische Vernunft zugunsten des Lebensstils durchzuführen.

Wir haben damit festgestellt, daß die Phantasie des Träumers gleich wie in ihren anderen Gestaltungen auch im Traum den Linien des Lebensstils vorwärts und aufwärts folgt, auch wenn sie wie all unser Denken und Fühlen und Handeln Erinnerungsbilder benützt. Daß diese Erinnerungsbilder im Leben eines verwöhnten Kindes solche sind, die aus den Irrtümern der Verwöhnung stammen, aber doch ein Vorfühlen in die Zukunft ausdrücken, darf nicht zum irrtümlichen Schluß verleiten, als ob infantile Wünsche hier Befriedigung fänden, als ob eine Regression auf ein kindliches Stadium stattfände. Ferner müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, daß der Lebensstil die Bilder für seinen Zweck auswählt, so daß wir in dieser Auswahl den Lebensstil verstehen können. Die Angleichung des Traumbildes an die exogene Situation setzt uns in die Lage, die Bewegungslinie zu finden, die der Träumer kraft seines Lebensstils angesichts des Lösung verlangenden Problems einschlägt, um seinem Bewegungsgesetz gerecht zu werden. Die Schwäche seiner Position können wir darin erblicken, daß er Vergleiche und Gleichnisse zu Hilfe nimmt, die in fälschender Weise Gefühle und Emotionen wachrufen, ohne auf ihren Wert und Sinn geprüft werden zu können, die eine Verstärkung, Beschleunigung der stilgerechten Bewegung verursachen, wie etwa, wenn einer bei einem laufenden Motor mehr Gas gibt. Die Unverständlichkeit des Traumes, eine Unverständlichkeit, die sich im Wachen in vielen Fällen ebenso konstatieren läßt, wenn einer mit weit hergeholten Argumenten seinen Irrtum befestigen will, ist demnach Notwendigkeit und nicht Zufall.

Der Träumer verfügt noch, ganz wie im Wachen, über ein anderes Mittel, sich über die praktische Vernunft hinauszusetzen, nämlich, ein vorliegendes Problem in dessen Nebensächlichkeiten zu behandeln oder aus einem solchen die Hauptsache auszuschalten. Dieses Vorgehen zeigt sich jenem verwandt, läßt auch gelegentlich auf eine ausgebreitete Verwendung schließen, das ich als teilweise, unvollkommene Lösung eines Problems, als Zeichen eines Minderwertigkeitskomplexes in den letzten Heften der Zeitschrift für Individualpsychologie im Jahre 1932 beschrieben habe. Ich lehne abermals ab, Regeln zur Traumdeutung zu geben, da zu letzterer viel mehr künstlerische Eingebung als etwa Systematik des Beckmesser erforderlich ist. Der Traum bietet nichts, was nicht auch aus anderen Ausdrucksformen erschlossen werden kann. Nur dient er dem Untersucher dazu, zu erkennen, wie stark der alte Lebensstil noch wirksam ist, um den Untersuchten darauf aufmerksam zu machen, was zum Zwecke seiner Überzeugung sicherlich beiträgt. In der Deutung eines Traumes soll man so weit gehen, bis der Patient verstanden hat, daß er, wie Penelope, in der Nacht auftrennt, was er am Tage gelernt hat. Auch darf man jenen Lebensstil nicht vergessen, der in übertriebenem, scheinbarem Gehorsam, wie etwa der Hypnotisierte, seine Phantasie selbst in die Bahnen des Gehorsams gegenüber dem Arzte zwingt, ohne die daraus folgende Stellungnahme durchzuführen, auch eine Art des Trotzes, der schon in dieser heimlichen Weise in der Kindheit geübt wurde.

Wiederkehrende Träume weisen auf stilgerechten Ausdruck des Bewegungsgesetzes gegenüber Fragen hin, die in ihrer Artung als ähnlich empfunden werden. Kurze Träume zeigen die strikte, schnell fertige Antwort auf eine Frage. Vergessene Träume lassen die Vermutung zu, daß ihr Gefühlston stark ist gegenüber der ebenfalls starken praktischen Vernunft, zu deren besserer Umgehung das gedankliche Material verdampft werden muß, so daß nur die Emotion und die Stellungnahme übrigbleiben. Daß Angstträume die verstärkte Angst vor einer Niederlage widerspiegeln, angenehme Träume ein verstärktes »Fiat« oder den Kontrast mit der gegenwärtigen Situation, um so stärkere Gefühle der Abneigung zu provozieren, ist sehr häufig festzustellen. Träume von Toten legen den Gedanken nahe, der sich freilich aus anderen Ausdrucksformen bestätigen muß, daß der Träumer den Toten noch nicht endgültig begraben hat und unter seinem Einfluß steht. Fallträume, wohl die häufigsten von allen, weisen auf die ängstliche Vorsicht des Individuums hin, nichts von seinem Wertgefühl zu verlieren, zeigen aber auch gleichzeitig in räumlicher Vorstellung an, daß der Träumer sich in seinem Gefühl »oben« wähnt. Flugträume finden sich bei ehrgeizigen Menschen als Niederschlag des Strebens nach Überlegenheit, etwas zu leisten, was den Träumer über die anderen Menschen hinaushebt. Dieser Traum ist nicht selten, wie zur Warnung vor einem ehrgeizigen, riskanten Streben, mit einem Falltraum verbunden. Glückliches Landen nach einem Fall im Traum, das oft nicht gedanklich, sondern nur gefühlsmäßig zum Ausdruck kommt, dürfte meist auf ein Sicherheitsgefühl, wenn nicht auf ein Prädestinationsgefühl hinweisen, demzufolge das Individuum sich dessen versichert, daß ihm nichts geschehen kann. Versäumen eines Zuges, einer Gelegenheit, wird sich meist als Ausdruck eines geübten Charakterzuges feststellen lassen, einer gefürchteten Niederlage durch Zuspätkommen zu entgehen, die Gelegenheit zu verpassen. Träume von mangelhafter Bekleidung gefolgt vom Erschrecken darüber lassen sich meist auf die Furcht zurückführen, bei einer Unvollkommenheit ertappt zu werden. Motorische, visuelle und akustische Neigungen sind häufig in Träumen ausgedrückt, doch immer in Verbindung mit der Stellungnahme zu einer vorliegenden Aufgabe, deren Lösung in seltenen Fällen dadurch sogar gefördert werden konnte, wie einzelne Beispiele zeigen. Die Rolle des Träumers als Zuschauer weist mit einiger Sicherheit darauf hin, daß das Individuum sich auch im Leben gerne mit der Rolle des Zuschauers begnügt. Sexuelle Träume erweisen sich verschieden gerichtet, bald als verhältnismäßig schwaches Training zum Sexualverkehr, bald als Rückzug von einem Partner und Beschränkung auf sich selbst. Bei homosexuellen Träumen ist das Training gegen das andere Geschlecht, nicht etwa eine angeborene Neigung, von mir stark genug hervorgehoben worden. Grausame Träume, in denen das Individuum aktiv auftritt, deuten auf Wut und Rachgier, ebenso beschmutzende Träume. Die häufigen Träume der Bettnässer, beim Urinieren am richtigen Platze zu sein, erleichtert ihnen in wenig mutiger Weise ihre Anklage und Rache gegen ein Gefühl der Zurücksetzung. In meinen Büchern und Schriften findet sich eine Unzahl von gedeuteten Träumen, so daß ich es mir versagen darf, bestimmte Beispiele hier anzuführen. Im Zusammenhang mit dem Lebensstil sei folgender Traum besprochen:

 

Ein Mann, Vater von zwei Kindern, lebte mit seiner Frau, die ihn, wie er wußte, nicht aus Liebe geheiratet hatte, in Unfrieden, der von beiden Seiten geschürt wurde. Er war ursprünglich ein verwöhntes Kind gewesen, wurde später durch ein anderes Kind entthront, hatte aber in einer harten Schule seine ehemaligen Zornausbrüche beherrschen gelernt, auch soweit, daß er oft in ungünstiger Lage vielleicht allzulange Versuche machte, einen Versöhnungsfrieden mit Gegnern herzustellen, was begreiflicherweise selten gelang. Auch seiner Frau gegenüber war seine Haltung ein Gemisch von Abwarten, von Versuchen, eine liebevolle, vertrauensvolle Lage zu finden und von gelegentlichen Jähzornsausbrüchen, wenn er in ein Minderwertigkeitsgefühl verfiel und sich keinen Rat wußte. Die Frau stand dieser Situation in vollem Unverständnis gegenüber. An seinen zwei Knaben hing der Mann mit ungewöhnlicher Liebe, die von diesen erwidert wurde, während die Mutter in ihrer formellen Gelassenheit, in der sie natürlich mit dem Manne um die Liebe der Kinder nicht wetteifern konnte, die Fühlung mit ihnen mehr und mehr verlor. Dem Manne erschien dies wie eine Vernachlässigung der Kinder, über die er oft seiner Frau Vorwürfe machte. Die ehelichen Beziehungen gingen unter Schwierigkeiten weiter, aber beide Eltern waren bestrebt, weiteren Kindersegen zu verhindern. So standen sich beide Partner lange Zeit gegenüber: Der Mann, der nur starke Gefühle in der Liebe anerkannte, sich auch um seine Rechte gebracht fand, die Frau, mit kraftlosen Versuchen, die Ehe weiterzuführen, frigid und aus ihrem Lebensstil heraus ohne die gesuchte Wärme für Mann und Kinder. Eines Nachts träumte er von blutenden Frauenleibern, die rücksichtslos herumgeschleudert wurden. Mein Gespräch mit ihm führte auf eine Erinnerung zurück an eine Szene, die er in einem Seziersaal gesehen hatte, wohin ihn ein medizinischer Freund mitgenommen hatte. Aber es war leicht zu sehen und wurde von dem Manne bestätigt, daß auch der Geburtsakt, wie er ihn zweimal miterlebt hatte, ihn schrecklich berührt hatte. Die Deutung war so gegeben: »Ich will keine dritte Geburt bei meiner Frau mehr erleben.«

Ein anderer Traum lautete: »Es war mir, als ob ich auf der Suche nach meinem dritten Kind gewesen wäre, das verloren oder geraubt worden war. Ich war in großer Angst. Alle meine angestrengten Versuche blieben vergeblich.« Da der Mann kein drittes Kind besaß, war es klar, daß er die stete Angst hatte, ein drittes Kind wäre wegen der Unfähigkeit der Frau, die Kinder zu überwachen, in größter Gefahr. Der Traum war kurz nach dem Raub des Lindbergh-Kindes geträumt und zeigte das gleiche, exogene Schockproblem entsprechend dem Lebensstil und der Meinung des Patienten; Abbruch der Beziehungen mit einem Menschen, der keine Wärme bot und als einen Teil dieses Vorsatzes, keine Kinder mehr zu zeugen, unter übertriebener Betonung der Nachlässigkeit der Frau, aber in die gleiche Richtung zielend wie der erste Traum: übertriebener Schrecken vor dem Geburtsakt.

Der Patient kam zur Behandlung wegen Impotenz. Die weiteren Spuren führten in seine Kindheit zurück, in der er gelernt hatte, sich gegen Zurücksetzung nach längeren angestrengten Versuchen mit Ablehnung der als kühl geglaubten Person abzufinden, gleichzeitig auch neue Geburten bei seiner Mutter unerträglich zu finden. Der Hauptanteil seines Lebensstiles, die Auslese gewisser Bilder, der Selbstbetrug und die Autointoxikation mit Vergleichen, weit über die praktische Vernunft hinausgehend und dem Lebensstil neue Spannkraft und erhöhte Stärke verleihend, der aus der dauernden Schockwirkung resultierende Rückzug von der Lebensfrage, mehr erschlichen als im Sinne des Common sense erarbeitet, die unvollkommene, der Weichheit dieses Mannes entsprechende halbe Lösung seines Problems sind nicht zu verkennen und klar in ihrem Zusammenhang zu sehen.

 

Wenn noch ein kurzes Wort über jenes Thema gesagt werden soll, das als Freuds Symbolik im Traum beschrieben ist, so kann ich aus meiner Erfahrung folgendes mitteilen: Es ist richtig, daß seit jeher die Menschen eine Neigung zeigten, nicht nur sexuelle Vorgänge und Dinge mit Tatsachen des praktischen Lebens scherzweise zu vergleichen. An Wirtshaustischen und in Zoten geschah das wohl immer. Die Verlockung dazu liegt wohl zum großen Teil darin, neben herabsetzender Tendenz, Witzelsucht und Großsprecherei auch dem aus dem Symbol geholten emotionellen Akzent Raum zu geben. Es bedarf nicht viel an Geist, um diese gebräuchlichen Symbole, die sich in der Folklore und in Gassenhauern finden, zu verstehen. Daß sie freilich immer zu bestimmten, erst zu findenden Zwecken im Traume auftreten, ist wichtiger. Es ist das Verdienst Freuds, darauf aufmerksam gemacht zu haben. Aber alles, was man nicht versteht, als sexuelles Symbol zu erklären, um dann zu finden, daß alles aus der Sexuallibido stammt, hält einer vernünftigen Kritik nicht stand. Auch die sogenannten »beweisenden Erfahrungen« mit Personen in der Hypnose, denen zuerst suggeriert wurde, sexuelle Szenen zu träumen, und aus deren Mitteilungen dann gefunden wurde, daß auch sie in Freudschen Symbolen träumen, sind recht schwache Beweise. Es zeugt höchstens von natürlichem Schamgefühl, daß diese Personen die ihnen geläufigen Symbole an Stelle unverhüllter Sexualausdrücke wählen. Dazu kommt, daß es heute einem Freud-Schüler schwer sein wird, jemanden zu solchen Experimenten zu finden, ohne daß der Hypnotisierte wüßte, mit wem er es zu tun hat. Ganz abgesehen davon, daß die »Freudsche Symbolik« den Sprachschatz des Volkes ungemein bereichert und die Unbefangenheit bei Betrachtung von sonst harmlosen Dingen gründlich zerstört hat. Man kann auch oft bei Patienten, die früher in einer psychoanalytischen Behandlung gestanden sind, beobachten, daß sie in ihren Träumen von der Freudschen Symbolik einen ausgebreiteten Gebrauch machen. Meine Widerlegung würde noch stärker ausfallen, wenn ich wie Freud an Telepathie glauben und annehmen könnte, wie es auch seine seichten Vorläufer getan haben, daß Gedankenübertragung sich wie ein Radiovortrag abspielt. Dieses Gegenargument fällt demnach für mich weg.

 

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1) Siehe u. a. A. Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen, l. c.

2) Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.


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